Traumkind
Kapitel 4 Aster Straffgürtel, die Witwe des früheren Heilers von Wasserau und augenblicklich auch die Hebamme, nutzte den blassen Sonnenschein und die unerwartete Trockenheit des nächsten Morgens, um den Matsch von dem Weg aus Pflastersteinen zu putzen, der zu ihrer Tür führte. Sie schaute auf, als Frodo von seinem Pony stieg und das Gartentor öffnete, dann stellte sie den großen Schrubber beiseite und ihr gerötetes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln. „Guten Morgen, Herr!“ sagte sie und dehnte den Rücken. „Ich hoffe, mit Lily ist alles in Ordnung keine Blutungen oder unerwartete Krämpfe?“ Frodo blinzelte nicht einmal; die Tatasache, dass er selbst mit einer Hebamme verheiratet war, hatte von der üblichen Empfindlichkeit vieler Ehemänner kuriert, wenn es um entschieden weibliche Themen ging. Und selbst wenn das nicht der Fall gewesen wäre… sein Geist war viel zu konzentriert auf das schmerzhafte Geheimnis, das es zu lüften galt, als dass er sich damit aufgehalten hätte, verlegen zu sein. „Keine Blutungen, keine Krämpfe, danke sehr,“ erwiderte er und verbeugte sich vor der älteren Hobbitfrau. „Aber ich kann nicht leugnen, dass ich deinen Rat brauche, Frau Straffgürtel.“ Aster nahm ihn etwas gründlicher in Augenschein; sie bemerkte ganz eindeutig seine allzu sichtbare Blässe, die dunklen Schatten unter seinen müden Augen und die unterschwellige Unruhe, die von ihm ausging. „Na schön… komm herein, komm herein, Herr. Du siehst aus, als könntest du eine gute Tasse Tee und etwas zu Essen brauchen. Hattest du überhaupt schon ein Frühstück?“ Zu seiner eigenen Überraschung musste Frodo trotz seines schweren Herzens grinsen. „Ich weiß nicht, wieso mich jedes weibliche Wesen im Umkreis von fünfzig Meilen mit Essen vollstopfen will, sobald sie mich zu Gesicht bekommt,“ sagte er, folgte ihr hinein und schloss die Tür hinter sich. „Sehe ich denn so geschwächt aus?“ Sie warf ihm einen humorvollen Blick zu. „Nicht so schlimm wie gleich nach deiner Rückkehr von dieser geheimnisvollen Reise, die dich so lange ferngehalten hat,“ gab sie zurück, „und die Ehe mit Lily hat die scharfen Kanten schön ganz schön abgerundet, sozusagen. Aber du bist immer noch viel zu dünn für einen anständigen Hobbit.“ Sie scheuchte ihn auf einen bequemen Stuhl am Küchentisch, goss ihm einem großen Becher frisch aufgebrühten Pfefferminztee ein und ließ zwei Scheiben warmes Brot auf einen Teller gleiten, der geheimnisvollerweise vor ihm auftauchte. Gelbe Butter, Himbeermarmelade, kleine Würstchen und ein würziger Käse vervollständigten die angebotenen Köstlichkeiten, und mit einiger Verblüffung stellte Frodo fest, dass er tatsächlich Hunger hatte. Aster nippte an ihrem eigenen Tee, saß ihm gegenüber und war eindeutig nicht bereit, irgendeine wichtige Angelegenheit mit ihm zu besprechen, bis sie davon überzeugt war, dass er sich satt gegessen hatte… also gab er nach und genoss, was sie so großzügig aufgetragen hatte. Endlich schob er den abgegrasten Teller mit einem sehr zufriedenen Seufzer zurück, leerte seinen Becher zum zweiten Mal und räusperte sich. „Frau Straffgürtel, ich danke dir,“ sagte er. „Das war sehr erfrischend, aber nicht der Grund, weshalb ich um neun Uhr Morgens auf deiner Türschwelle auftauche.“ „Natürlich,“ sagte sie und nickte zustimmend. „Nun… was kann ich tun, um dir das Herz leichter zu machen, Herr Beutlin?“ „Du kannst versuchen, dich an die Zeit während der Schwierigkeiten zu erinnern,“ erwiderte er, „den Sommer 1419, um genau zu sein. Ich hoffe, meine nächste Frage schockiert dich nicht zu sehr… aber hat meine Frau dich während dieser Monate jemals um Hilfe gebeten… weil sie schwanger war?“ Sie atmete hörbar schnaufend aus und starrte ihn mit zusammen gekniffenen Augen an. „Wie kommst du darauf?“ fragte sie; ihr Ton war wachsam und eigenartig kalt. Frodo erwiderte ihren Blick, ohne mit der Wimper zu zucken. „Sie schlafwandelt,“ sagte er sehr leise. „Und sie hat Alpträume von einem Baby, das irgendwo in der Dunkelheit weint. Sie wandert durch den Smial und sucht nach diesem verlorenen Kind, und sie singt seltsame Wiegenlieder darüber, dass das Kleine in der Erde schläft. Rosie hat sie vor ein paar Nächten belauscht, und es hat sie zu Tode erschreckt.“ Er hielt kurz inne und sah, wie die gesunde Farbe langsam aus Asters Gesicht wich. „Mich erschreckt es ganz genauso.“ „Ach du meine Güte.“ Aster Straffgürtel rieb sich die Stirn, sichtbar auf der Suche nach Worten. “Ach du meine Güte.” Frodo spürte, wie Übelkeit in ihm aufwallte und ihm den unbehaglich vollen Magen umdrehte; er war dicht davor, zu würgen, drängte den Impuls aber mit eisernem Willen zurück. „Also hat sie dich um Hilfe gebeten.” Es war keine Frage. Aster schluckte und stand von ihrem Stuhl auf, immer noch, ohne etwas zu sagen. Sie nahm eine Flasche aus dem Schrank und goss sich etwas von der blassgrünen Flüssigkeit ein. „Genau das habe ich letzte Nacht auch getan, als ich mich dieser Frage gegenüber sah,“ stellte Frodo mit mehr als einem Hauch Ironie fest. „Was ist das?“ „Birnenschnaps,“ sagte Aster und goss den Inhalt des Glases mit einem Schluck hinunter. „Tolman Kattun brennt ihn jedes Jahr für mich, mit den Birnen aus meinem Garten. Möchtest du auch…?“ „Später vielleicht,“ sagte er. „Würdest du mir bitte erst erzählen, was damals passiert ist?“ Aster ließ sich schwer auf ihren Stuhl nieder. „Eines Tages bekam ich einen Brief von Lily; einer der Bauern hier aus der Gegend brachte ihn mir… Andi Lochner, glaube ich. Sie schrieb, dass ich am Abend zu ihr herüberkommen sollte, nach Sonnenuntergang, wenn möglich. Sie sagte mir, sie würde die Tür offen lassen weißt du, Hobbits pflegten in jenen Tagen ihre Türen zu verriegeln. Man konnte nie wissen, wen man auf seiner Schwelle vorfinden würde, Freund oder Feind. Ich nehme an, das war der Grund, wieso ich nicht überrascht war… wir mussten alle sehr vorsichtig sein.“ Ein Schatten verdunkelte ihr Gesicht und es brauchte keine große Beobachtungsgabe, zu begreifen, dass sie an ihren Mann dachte. Dolgos mutige Hilfsbereitschaft in den Tagen des Kummers hatte dafür gesorgt, dass sie jetzt Witwe war. „Ich machte mich auf den Weg zum Stolzfuß-Smial, da wurde es schon dunkel,“ fuhr sie fort. „Die Tür war nicht abgeschlossen, und ich ging hinein und stellte fest, dass Fredegar - der arme, alte Kerl tief und fest schlief. Dann fand ich Lily. Sie war bewusstlos und lag in einem Bett voller Blut.“ Ihre Augen begegneten sich; ohne zu fragen, holte Aster ein zweites Glas aus dem Schrank, füllte es und schloss seine Hand darum. „Runter damit!“ befahl sie. „Ich möchte nicht, dass du in meiner Küche umkippst.“ Der Schnaps lief ihm wie versengendes Feuer die Kehle hinunter. Sie beobachtete sein Gesicht, bis sie sicher war, dass er nicht auf dem Boden zusammensacken würde, dann sprach sie weiter. „Sie hatte ein ganz bestimmtes Kraut genommen, weißt du… hat sich selbst einen Tee daraus gebraut. Als sie wieder bei sich war, hat sie es mir erzählt. Man nennt es Mutterkraut… sieht völlig harmlos aus, hübsch, mit gelben Blumen. Und es riecht süß und angenehm, wie reifes Obst. Man würde nie denken, dass es so gefährlich ist.“ Es roch nach Obst, so frisch und süß… Ein weiteres Stück des Puzzles fiel an seinen Platz, und Frodo spürte, wie ihn erneut die Übelkeit packte. Dieses Mal nahm er die Flasche und bediente sich selbst. Aster seufzte. „Die Sache ist, dass sie ziemlich viel von diesem… diesem Kraut genommen hat. Ich bin ziemlich sicher, dass Amaranth ihr gesagt hat, wie man es benutzt… oder auch, wie man es besser nicht tut. Normalerweise würde sich ein Hobbitmädel niemals wünschen, ein Kind in ihrem Leib loszuwerden… aber das waren grimmige Tage. Die Halunken vom Baas und von Scharker haben mehr getan, als zu stehlen und zu prügeln… sie waren hinter allem her, was einen Rock trug, wie läufige Hunde. Und Lily…“ Sie seufzte wieder. „Das Traurigste an der Sache ist, dass ich erst dachte, es wäre Folcos Baby gewesen armer Junge, er hätte sich eher im Teich von Wasserau ersäuft, anstatt sie irgendwohin ins Heu zu zerren… und ganz sicher nicht gegen ihren Willen. Nie im Leben.“ Sie streckte die Hand aus und legte sie über die seine. „Siehst du, es geschah nämlich gegen ihren Willen, ich konnte es in ihren Augen sehen ich habe damals in diesen Tagen viele solche Mädchen wie sie gesehen, und sie hatten alle diesen Blick, wie ein armes, verletztes Tier. Aber sie hat mir nie gesagt, wer ihr das angetan hat. Vielleicht hat sie’s dir auch nie erzählt… ich wäre nicht überrascht, und es tut mir wirklich Leid, dass nun ausgerechnet ich es bin, die… Herr Frodo? Herr?“ Er saß ihr gegenüber, und das Blut wich ihm aus dem Gesicht, als ihm das ganze Ausmaß seines schrecklichen Fehlers dämmerte. Sie hatte nie mit Folco… sie hatte nie… die Alpträume, das Schlafwandeln, ihr gesamtes Elend der letzten Zeit… das war alles die Folge von Lothos böser Tat. Er war ein solcher Narr gewesen. So ein überheblicher, leichtgläubiger Idiot. Er hätte es besser wissen müssen, er hätte sie besser kennen müssen, die ganze Zeit. „Dann warst du viel weiser als ich es gewesen bin,“ hörte er sich selbst sagen und erkannte kaum seine eigene Stimme. „Ich dachte auch, dass es Folcos Baby wäre… ich dachte, sie würde sich genügend schämen und fürchten, um… Eru, ich weiß nicht, was um Himmels Willen ich mir gedacht habe!“ „Nun, nun… das war doch höchst verständlich,“ erwiderte sie in beruhigendem Tonfall, und ihre Augen beobachteten ihn scharf. „Aber… aber wusstest du von der… der Vergewaltigung? Hat sie dir je erzählt, wer…“ „Ja, das hat sie getan,“ sagte er müde. “Ich sehe, dass du für sie da gewesen bist und ihr das Leben gerettet hast, als ich sie allein ließ. Deshalb werde ich dir sagen, dass wir schon mehr als ein Jahr Liebende waren, bevor ich fort musste… und da war jemand, den es nach ihr gelüstete und der versuchte, sie in die Hände zu bekommen, mehr als einmal, selbst als ich noch hier war. Er bekam Beutelsend in die Hände und missbrauchte es, ebenso wie das ganze Auenland… und ebenso, wie er Lily missbraucht hat, als ich fort war, und sie nicht länger verteidigen konnte.“ “Lotho…” flüsterte sie und ihre Augen weiteten sich in plötzlichem Begreifen. „Lotho Pickel.“ „Ja, Lotho, dieser gemeine, kleine Narr,“ erwiderte er grimmig. „Und als ich zurückkam, befand er sich weit jenseits aller Rache… was am Ende wahrscheinlich ein Segen war.“ „Ich nehme an, du hast Recht,“ sagte Aster. Sie zögerte, dann suchte sie seinen Blick und beäugte ihn mit scharfem Interesse. „Bist du wütend auf Lily, weil sie plötzlich um ein Baby trauert, das… seins… gewesen wäre?“ Er dachte eine ganze Weile über diese Frage nach; er wusste, dass dies eine Sache von entscheidender Wichtigkeit war. „Nein, das bin ich nicht,“ sagte er endlich, „natürlich nicht. Ich bin wütend auf ihn, weil er sie auf diese Weise verletzt hat… weil er ihr soviel Qualen bereitet hat. Und das Kind loszuwerden, das er ihr aufzwang - das muss für sie noch entsetzlicher gewesen sein. Sie hat jedes Kind geliebt, das durch ihre Hände ging, sie tut es immer noch.“ Er schenkte Aster ein schwaches, kleines Lächeln. „Ich bin nicht wütend,“ wiederholte er. „Aber es tut mir so Leid ihretwegen. So schrecklich Leid.“ Aster lächelte zurück, das Gesicht voller Respekt und ehrlicher Anerkennung; es schien ihm, als hätte er soeben eine Prüfung bestanden. „Gut für sie,“ sagte sie entschieden, „und gut für dich. Geh nach Hause, Herr Frodo, und sag ihr, was du mir gesagt hast. Sie wird sicher ein bisschen Zeit brauchen, um darüber weg zu kommen, und du solltest ihr erlauben, sich an das Kleine zu erinnern, so lange sie es nötig hat… es war auch ihr Kind, und es wäre ihr erstes gewesen. Kein Wunder, dass sie diesen Verlust spürt wie einen ständigen Messerstich… und noch viel mehr, weil sie es war, die diese Schwangerschaft zu einem plötzlichen, unzeitigen Ende gebracht hat.“ Er nahm ihre Hand, hob die schwieligen Finger an den Mund und küsste sie. „Danke, Frau Straffgürtel, für deinen weisen Rat,“ sagte er, und sie errötete, als der berühmte Beutlin-Zauber sie völlig unvermittelt traf. „Ich werde nie vergessen, was du für Lily getan hast und für mich. Jetzt muss ich nach Beutelsend zurück und meine Frau bitten, mir zu verzeihen.“ „Oh, das wird sie,“ sagte Aster mit einem überraschend mädchenhaften Kichern. „Lily ist ein kluges Mädchen. Und du wärst imstande, einer Elster einen Silberlöffel aus dem Schnabel zu schmeicheln, wenn du nur wolltest wie könnte sie dir widerstehen?“ Frodo ging zur Tür hinaus und den Weg hinunter, die Schritte schwer vor Erschöpfung; er fühlte sich noch immer erschüttert von Schrecken und Verblüffung über sein eigenes, allzu leicht entfachtes Misstrauen. Sein Herz allerdings war leichter als seit Tagen.
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