Traumkind
von Cúthalion


Rating: PG-13

Kapitel 5
Vom heutigen Tage an...

Er hatte vorgehabt, mit Lily zu sprechen, sobald er wieder in Beutelsend war, aber er fand nur Sam vor, der in der Küche saß und eine kleine Puppe aus einem Stück Lindenholz schnitzte. Abgesehen von ihm und von Elanor hatte sich die ganze Familie auf den Weg zum Kattunhof gemacht; Rosies Vater hatte sie abgeholt.

„Ellyelle hat so ein bisschen Fieber,“ erklärte Sam. „Aber Rosies Mama wollte heute ihr Lieblings-Rosinenbrot backen, und die Kleinen mögen es, wenn sie ihr eigenes Stück Teig kneten und formen dürfen.“ Er grinste. „Auf diese Weise tobt unsere Rasselbande nicht hier herum, und das arme Mädelchen kriegt den Schlaf, den sie nötig hat, damit es ihr besser geht.“

„Und Lily?“

„Oh – sie wollte Margerite besuchen. Sie hat irgend so eine Salbe für sie angerührt, damit sie ihre armen Gelenke damit einschmieren kann. Dieses kalte, feuchte Wetter ist nicht das Beste für ihr böses Gliederreißen. Und natürlich ist Margerite ein Quell des Wissens, wenn es um Babys geht – sie hat schon Lily gestillt, wenn du dich erinnerst.“

Frodo wusste, dass seine Frau immer eine liebende Verbindung zu ihrer Amme gehalten hatte, ebenso wie zu Rosies Mutter. Beide Frauen waren mehr oder weniger eingesprungen, als Viola Stolzfuß herausfand, dass ein Kind zu haben etwas war, das ihr überhaupt nicht gefiel. Wenigstens so lange es eine Tochter war, dachte er grimmig, denn ihren beiden Söhnen war Viola später eine sehr zärtliche und hingebungsvolle Mutter gewesen.

Er ließ Sam mit seinem Schnitzmesser allein und zog sich ins Studierzimmer zurück. Während der Monate von Lilys Schwangerschaft hatte er angefangen, ein Tagebuch zu führen; nicht die schmerzvolle Aufgabe, die zu erfüllen er sich verpflichtet gefühlt hatte, als er die Geschichte des Ringkrieges erzählte, sondern dieses Mal etwas Persönliches und Angenehmes – die liebevolle Chronik der Familie, die zu haben er niemals erwartet hatte. Er nahm den kleinen, ledergebundenen Band aus der Schublade, setzte sich in den Sessel hinter dem Schreibtisch und öffnete das Buch, um die letzten Einträge zu lesen.

Ich hätte sie fast verloren, hatte er kurz nach dem Julfest geschrieben. Dies war natürlich nicht das erste Mal, denn sie hätte leicht jemand anderen finden können, als ich auf die Fahrt ging und sie allein ließ. Aber ich hätte nie erwartet, dass sie in Gefahr geraten könnte, jetzt, da der Friede wieder hergestellt und das Auenland geheilt ist. Die alten, bösen Zeiten werfen noch immer ihre Schatten, und Rory Wurzelgräber hat beinahe alles vernichtet, was ich liebe und worauf ich hoffe, der arme, verstörte Kerl. Ich kann ihm nur deshalb so leicht vergeben, weil ich genau weiß, wie er sich gefühlt hat…*

Die regelmäßigen Linien seiner Handschrift fingen an, vor seinen Augen zu verschwimmen. Die Tatsache, dass er in der letzten Nacht kaum geschlafen hatte, das üppige Frühstück in Asters Smial und der Birnenschnaps forderten ihren gemeinsamen Tribut, und er lehnte sich in den Sessel zurück und fühlte sich immer schläfriger. Vielleicht konnte er ein kleines Nickerchen machen und dann zum Kattunhof hinuntergehen… aber der Gedanke glitt davon, bevor er sich noch ganz in seinem Geist gebildet hatte, und ihm fielen die Augen zu.---

Frodo schreckte hoch; das Sonnenlicht war geschwunden und das Zimmer war fast dunkel. Er rieb sich die Augen und holte tief Luft. Er nahm den vertrauten Geruch nach Pergament, nach Leder und Tinte in sich auf – und einen schwachen Hauch nach Geißblatt.

„Lily…?”

„Ich bin hier, Liebster.”

Jetzt konnte er ihre schattenhafte Gestalt sehen; sie saß in dem selben Sessel, den sie während jenem Frühling und Sommer benutzt hatte, als er das Rote Buch schrieb und ihr vorlas, damals im Jahr 1421. Er straffte den Rücken und unterdrückte ein kleines, schmerzhaftes Aufstöhnen.

„Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht im Studierzimmer einschlafen.“ In ihrer Stimme schwang der Hauch eines Lächelns mit. Er streckte die Hand nach der Zunderbüchse und dem Kerzenhalter auf dem Tisch aus.

„Nicht. Bitte.“ Ihr Ton ließ ihn mitten in der Bewegung innehalten. “Ich möchte dir etwas sagen, was ich dir schon vor langer Zeit hätte sagen sollen, und ich glaube, es ist leichter, wenn ich dein Gesicht nicht sehe, während ich noch den Mut habe, zu sprechen.”

Er lehnte sich zurück und spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Das war der Moment, auf den er gewartet hatte und er würde es ihr so leicht wie möglich machen.

„Als du fort warst, nach… nach dieser Nacht hier im Studierzimmer… mit Lotho… ich habe versucht, weiterzumachen. Ich musste für Papa sorgen, für die Mütter… ich versuchte mein Bestes, einfach zu vergessen, was passiert war. Aber dann, Anfang Mai, fand ich heraus, dass ich schwanger war.“

Eine lange Pause. Er wagte nicht, sich zu rühren.

„Zu sagen, dass ich verzweifelt war… es gibt keine Worte für das, was ich empfunden habe. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so gefürchtet… nicht nur, weil mir beim bloßen Gedanken an das Kind und den, der es gezeugt hatte, übel würde, aber auch wegen dem, was passieren würde, wenn Lotho es herausbekam.“ Ihr scharfes Atemholen kam einem Schluchzen gefährlich nahe. „Sein ganzes Leben lang hatte er nach allem gegiert, was dir gehörte… Beutelsend, die Ländereien, die geheimnisvollen Schätze, die Bilbo von seinem geheimnisvollen Abenteuer mit den Zwergen heimgebracht hatte, Und mich wollte er auch. Kannst du dir vorstellen, was für ein Triumph es für ihn gewesen wäre, wenn er hätte beweisen können, dass er imstande war, sich die Frau, die du liebst, zu nehmen und sie zu schwängern?“

„Süßer Eru, Lily…“ Der bloße Gedanke war abscheulich, aber es war gut möglich, dass sie Recht hatte. Er wollte an ihre Seite eilen, sie in die Arme nehmen, die bittere Flut der Worte aufhalten, die jetzt endlich kamen. Aber das wäre sinnlos und obendrein falsch gewesen, also schwieg er, die Hände in seinem Schoß zu Fäusten geballt angesichts der Erkenntnis, was sie durchgemacht hatte.

„Der Gedanke, dass er mich nach Beutelsend schleppen könnte, damit ich das Kind dort austrage und er es herumzeigen kann wie eine Trophäe, das hat mich fast in den Wahnsinn getrieben. Und… und dies war kein Kind, das in Liebe empfangen worden war.“ Wieder dieses mühsame, schluchzende Atemholen. „Es war nicht dein Kind.“

„Hättest… hättest du es behalten, wenn es meins gewesen wäre?“ Die Frage kam heraus, bevor er es verhindern konnte.

„Musst du das wirklich fragen?“ Ihr Ton war messerscharf, aber er zuckte nicht zusammen. Er hatte es verdient.

„Nein, muss ich nicht. Natürlich nicht.“ Er seufzte. “Und jetzt muss ich dir auch etwas erzählen. Letzte Nacht, als ich dich nach deinen seltsamen Träumen gefragt habe, da hast du gesagt: ,Folco. Ich konnte es ihm nicht sagen. Ich konnte ihm nicht sagen, was ich vorhatte.’ Und ich dachte…“

„Du dachtest, Folco wäre der Vater?“ Plötzlich fing sie an zu lachen, aber es war ein verzweifeltes Geräusch, von dem ihm das Herz wehtat. „Nein, er hat niemals versucht… er hat nie… na schön, es gab einen Abend, da hat er mich in die Arme genommen und mich geküsst, nur ein einziges Mal. Und ja, für einen kurzen Augenblick habe ich daran gedacht, nachzugeben… er liebte mich so sehr, weißt du. Aber ich konnte nicht… ich konnte einfach nicht. Wegen dem, was Lotho getan hatte.“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. „Und deinetwegen.“

„Es tut mir so Leid, Geliebte.“

Sie seufzte. „Am Ende konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dieses Kind auf die Welt zu bringen, geschweige denn, es großzuziehen und heimlich auf den Tag zu warten, an dem es die erste Ähnlichkeit mit seinem… seinem Vater zeigt. Ich fand ein Kraut, das mir helfen würde. Ich kochte einen Tee daraus und trank ihn bis zum letzten Tropfen, und dann legte ich mich auf mein Bett und wartete darauf, dass das Baby fort sein würde, wenn ich wieder zu mir kam. Ich dachte sogar daran, dass ich sterben könnte… und zum ersten Mal hatte ich keine Angst vor dem Tod.“

Noch eine lange Pause.

„In dieser Nacht hatte ich einen merkwürdigen Traum. Ich trieb einen unbekannten Fluss hinunter, in einem Boot. Und als ich endlich das Ufer erreichte, sah ich Merle am anderen Ufer stehen… mit dem Kind, das wir mit ihr beerdigt hatten. Ich wollte den Fluss überqueren, um bei ihr zu sein… aber dann hörte ich eine Stimme, die mich zurückrief.“

„Eine Stimme?“

„Ja. Und es war deine Stimme.“ Lily zögerte. „Ich hab mich immer gefragt… erinnerst du dich an irgendetwas davon? Es muss Mitte Mai gewesen sein. Ich nehme an, da warst du in der Weißen Stadt des Königs.“

Nach einer Weile schüttelte Frodo den Kopf.

„Ich fürchte nein,“ gab er endlich zu. „Damals heilten meine Wunden noch, und ich konnte nachts kaum schlafen. Aragorn entschied, mich mit einer Vielzahl scheußlich schmeckender Tees und Tränke zu traktieren, und als Folge davon trieb ich durch ungezählte Alpträume voller Orks und Ringgeister… und von Gollum, der ins Feuer stürzte.“ Er schluckte und brachte en schwaches Lächeln zustande. „Ich wünschte, ich könnte mich daran erinnern, dass ich dich gerufen habe. Es ist ein schöner Gedanke.“

„Ich glaube immer noch, dass du es warst,“ sagte sie; ihre Stimme war fest und zuversichtlich. „Du hast mich vom Rande des Todes zurückgeholt. Es wäre so leicht gewesen, über den Fluss zu gehen… aber als du mich gerufen hast, da konnte ich es einfach nicht.“

„Darf ich dir eine Frage stellen?“

„Was immer du möchtest. Ich will keine Geheimnisse mehr.“

„Wann…“ Er räusperte sich. „Wann hast du angefangen, den Verlust des Kindes zu… zu bedauern?”

Sie schwieg so lange, dass es sich wie eine kleine Ewigkeit anfühlte, aber dann sprach sie endlich.

„Nicht am Anfang,“ sagte sie langsam. „Alles, was ich fühlte, war eine tiefe Trauer, dass ich dem Leben eines Babys hatte ein Ende machen müssen, bevor es auch nur die Gelegenheit hatte, anzufangen. Aber ich sagte mir selbst, dass ich keine Wahl gehabt hatte… das machte die Dinge leichter. Und dann kamst du zurück, und du hast… du hast mich dazu gebracht, dir von meinen dunkelsten Erinnerungen zu erzählen, und für eine Weile dachte ich, ich wäre geheilt. Ich brachte es nicht über mich, dir auch von der Schwangerschaft zu erzählen, aber ich hab versucht, mich selbst davon zu überzeugen, dass es nur zu unserem Besten wäre. Wieso sollte ich dir wehtun…. und wieso mir? Und dann hast du mich gebeten, deine Frau zu werden, und wir haben geheiratet, und es fühlte sich an wie die Erfüllung all meiner Träume. Aber dann…“

Wieder verfiel sie in Schweigen.

“Aber dann…?” wiederholte er sanft.

„Siehst du, ich wurde doch nicht schwanger, fast acht lange Jahre.“ Ihre Stimme war sehr leise. „Und nach einer Weile fing ich an, mich zu fragen, ob es dafür irgendeinen Grund gab. Ich weiß, dass es nicht an meinem Körper lag; Aster hat mir mehrmals versichert, dass ich vollkommen imstande wäre, ein Kind auszutragen. Und deshalb fing ich an zu glauben, dass meine Unfruchtbarkeit eine Art Strafe wäre… für das Kind, das ich aus meinem Leib verbannt hatte, für meine schreckliche Dreistigkeit, der Natur ins Handwerk zu pfuschen.“

Zu seiner Überraschung fühlte er, wie sich sein Gesicht in einem wehmütigen Lächeln entspannte.

„Interessanter Einfall,“ sagte er. „obwohl das natürlich vollkommen närrisch ist. Ich habe fest geglaubt, es wäre meine Schuld.“

„Wieso, um Himmels Willen?“

„Weil ich dachte, dass es vielleicht eine späte Nachwirkung der grausamen Macht des Ringes sein könnte. Das er mich genügend verändert hätte, um mich zu verkrüppeln – wenigstens wenn es darum ging, irgendwelchen Nachwuchs zu zeugen.“

„Dann ist dein Einfall sogar noch närrischer als meiner,“ entgegnete sie trocken. “Darf ich dich daran erinnern, dass mein runder Bauch das Gegenteil beweist?“

„Das darfst du, wann immer du willst.“ Frodo lachte. „Und darf ich jetzt eine Kerze anzünden? Ich bin es Leid, im Dunkeln zu sitzen.“

Wieder langte er nach der Zunderbüchse. Goldene Helligkeit verbreitete sich von seinen Fingern, und im Licht der Kerze konnte er endlich ihr Gesicht sehen. Lily hatte den Sessel verlassen und stand vor dem Schreibtisch; ihr schönes Gesicht war blass, die Augen dunkel und tief.

„Vergibst du mir?“ fragte sie.

Natürlich tu ich das.“ Er nahm ihre Hand. “Wenn du mir mein dummes, kindisches Misstrauen vergibst… und wenn du dir selbst verzeihst. Was du getan hast, mag in deinen Augen falsch sein. Aber es war Lotho, der dich gezwungen hat, diese Entscheidung zu treffen, mit seinem Hass und seiner Gier. Ihn hat niemand gezwungen, dir all das anzutun.“

„Ich weiß.“ Sie schenkte ihm ein ziemlich schwankendes Lächeln. „Und trotzdem ertappe ich mich manchmal dabei, dass ich mir ausmale, wie sie wohl aussehen würde… wenn ich sie ausgetragen hätte, wäre sie kurz vor deiner Rückkehr ins Auenland zur Welt gekommen.“ Sie rieb sich die Augen mit dem Handrücken; er konnte sehen, dass ihre Finger ganz leicht zitterten. „Ist das nicht merkwürdig? Ich habe sie mir immer als Mädchen vorgestellt…“

„Überhaupt nicht seltsam,“ sagte er sanft. „Es ist der Teil, den sie vielleicht von dir geerbt hätte, um den du jetzt trauerst, nicht wahr?“

„Ja,“ wisperte sie. „Ja. Es wäre auch meine Tochter gewesen.”

„Dann werden wir uns gemeinsam an sie erinnern,“ erwiderte Frodo und drückte ihre Hand gegen seine Wange. „Ich werde dich damit nicht allein lassen… niemals wieder.“

Sie holte tief Atem und straffte den Rücken.

„Hast… hast du Hunger? Rosie hat kaltes Hühnchen und frisch gebackenes Brot in der Küche, und vielleicht gibt es sogar noch einen leckeren Nusskuchen… das heißt, wenn die Kinder ihn nicht zuerst gesehen haben.“

„Oder Sam.“

„Oder Sam.“ Ihr Lächeln vertiefte sich und wurde natürlicher.

„Ich würde jetzt gern ins Bett gehen,“ gestand er. „Das Essen kann bis morgen zum Frühstück warten. Würdest du diesem steifen, alten Hobbit aus dem Sessel und in sein Bett helfen?“

„In unser Bett.“ verbesserte sie sanft.

“In unser Bett. Und wenn du wieder träumen solltest---“

„Ja?“

„Wenn du wieder träumen solltest, dann werde ich da sein, um dich zurückzubringen. Jede Nacht und für den Rest meines Lebens.“

„Ich danke dir. Es ist gut, das zu wissen.“

Morgen würde er ihr von seinem Gespräch mit Aster erzählen. Morgen würden sie anfangen, sich mit dem zu befassen, was vor ihnen lag, gut oder böse, und sie würden es gemeinsam tun. Aber jetzt würden sie sich in der Zuflucht ihres Bettes hinlegen und einander festhalten; es gab keine verborgenen Lügen mehr, keine schmerzhaften Geheimnisse. Sie waren in Sicherheit.

Frodo blies die Kerzen aus, und der Herr und die Herrin von Beutelsend verließen das Zimmer Hand in Hand.

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* Ein Kind im Mittwinter


FINIS


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