Ein Kind im Mittwinter
Die Kerzen in den fünf Haltern brannten mit stiller Flamme und erleuchteten die Stelle, wo Lily Beutlin soeben das Messer angesetzt hatte. Eine dünne, rote Linie erschien auf der blassen Haut, und dann klaffte der Schnitt auf. Lily konnte an den Wundrändern eine feine, gelbe Fettschicht sehen, als sie sie behutsam auseinander zog. Ihr werdet eine dünne, weiße Fiber finden, welche die Muskeln der Bauchdecke überzieht. Dann werdet Ihr eine deutlich sichtbare weiße Linie in der Mitte entdecken; das ist der beste Punkt, um den nächsten Schnitt zu setzen und durch die Bauchdecke zu gelangen. Da war sie. Würdest du bitte zur Seite gehen, Tulpe? bat sie. Du solltest mir besser nicht im Licht stehen. Die junge Frau tat wie ihr geheißen; sie starrte in gebannter Faszination in die offene Wunde. Was ist das? Der Muskelwall über der Bauchhöhle, erwiderte Lily abwesend. Das nächste, was wir sehen sollten, ist eine Art deckender Haut direkt darunter. Da und wir haben einen wirklich sauberen Schnitt, siehst du? Jetzt gib mir die Klammern. Tulpes Hände erschienen in ihrem Blickfeld. Lily nahm die Klammern und schob sie unter die gedehnte Muskelschicht. Sie zog vorsichtig, und sie gaben nach. Zum ersten Mal konnte sie die Stelle sehen, die sie zu erreichen versuchte Ah wir sind fast da. Jetzt halt die Klammern fest und gib mit ein bisschen Platz zum Arbeiten, ja? Ein lauter, gewaltsamer Knall, der die schwere Tür in den Angeln knirschen ließ. Lasst mich hinein! Ihr bringt meine Frau um! Tulpe fuhr heftig zusammen und ließ die Klammern beinahe fallen. Tulpe, um der Sterne Willen! Lilys Stimme war ein leises, scharfes Zischen. Mach das ja nicht noch mal!!" Ihr bringt Rubinie und mein Baby um! Es war ein sinnloses Aufheulen, und ein schweres Gewicht krachte gegen die Tür. Zwei der vier Schrauben, die den Eisenriegel hielten, lösten sich und fielen zu Boden. Neben ihr würgte Tulpe ein entsetztes Schluchzen hinunter, aber sie brachte es irgendwie fertig, die Wunde offen zu halten. Draußen ertönte ein Schrei Eru hilf, das ist Rollo, dachte Lily, ich hätte ihn nicht mit seinem Vater allein lassen sollen. Dann war ein weiterer Knall zu hören, aber dieses Mal war es nicht die Schlafzimmertür. Schritte von mehr als einem Paar Füße näherten sich; sie hörte die unmissverständlichen Geräusche eines wütenden Handgemenges, einen Schlag gegen etwas Festes und einen schweren Fall. Dann herrschte Stille. Lily stand reglos da, die Hände in Rubinies geöffnetem Bauch; sie lauschte mit aller Macht. Lily? Süße Elbereth! Frodo. Sie musste sich räuspern, um sprechen zu können, und trotzdem kam der Name als dünnes, schrilles Quäken heraus. Was ist passiert? Wir sollten das gründlicher besprechen, sobald ich mit dir nicht mehr durch diese Tür reden muss, Liebste, erwiderte ihr Ehemann, seine Stimme eigentümlich heiser. Nein, Sam trag ihn in die Küche hinüber und fessle ihn. Und dann geh und versuch, diesen armen Jungen zu beruhigen, ja? Ist Rory übergeschnappt, bevor du gekommen bist, oder danach? Davor, antwortete Lily; sie versuchte, sich nicht zu fragen, warum er weder überrascht noch wenigstens bestürzt zu sein schien. Tränen stiegen ihr in die Augen, und plötzlich fing das Zimmer an, sich um sie zu drehen. Gib mir einen Tritt, flüsterte sie in Tulpes Richtung. Tritt mich gegen das Schienenbein, auf der Stelle. Was Tritt mich! Ein harter, bloßer Fuß knallte gegen ihr Bein; Tulpe war mittlerweile ganz offensichtlich weit jenseits allen Staunens und Fragens und hatte sich einfach entschieden, zu gehorchen, wie widersinnig der Befehl auch sein mochte. Die Welt schnappte mit einem Ruck an ihren Platz zurück. Lily blinzelte und holte tief Luft. Das Kind ist beinahe geboren, sagte sie. Ich schließe die Tür auf, sobald ich kann. Ist Tulpe da drin bei dir? Das war Sam; sein Atem ging schwer; kein Wunder, Rory war ein ziemlich großer und kräftiger Hobbit. Ja, Sam... es geht ihr gut, und sie ist eine große Hilfe. Lily wurde mit einem bleichen Lächeln der jungen Frau belohnt. Jetzt lass mich meine Arbeit machen. Jede weitere Erklärung wird warten müssen, bis ich mit dem hier fertig bin. Wie viel Zeit hatte sie verloren? Eine Minute, vielleicht zwei. Sie musste sich jetzt beeilen. Lily nahm zwei saubere Handtücher von dem Stapel neben dem Tablett und tupfte sorgsam die Mischung aus Blut und einer klaren Flüssigkeit weg, die angefangen hatte, die Wunde zu füllen. Seltsamerweise zitterten ihre Hände nicht im mindesten. Wieder nahm sie das Messer und öffnete die Wand der lebendigen Höhle, die während der letzten neun Monate das Zuhause des Babys gewesen war. Tulpe schnappte neben ihr nach Luft, als zwei winzige Füße erschienen. Die Beine und die Zwillingsrundungen der kleinen Pobacken. Siehst du? Der Kopf steckt schon tief unten im Becken. Jetzt lass mich dich heraus holen da bist du ja! Sie hob das Bündel aus der Öffnung heraus und hielt das neugeborene Kind mit dem Kopf nach unten. Das Baby wand sich in ihrem Griff, die Augen fest zugekniffen, dann gab es ein leises Quäken von sich. Lilys Hände arbeiteten jetzt sehr rasch; sie durchschnitten die lange, gewundene Nabelschnur, hüllten den nassen, nackten Körper in zwei der größeren Handtücher und legten ihn in die Wiege, die Rubinie schon vor Wochen vorbereitet hatte. Mehr Alkohol, um die Hände wieder zu säubern. Eine weitere Forschungsreisen in die Tiefen von Rubinies Körper, um die Nachgeburt heraus zu schälen; sie löste sich in einem Stück und fiel in eine kleine Schüssel. Nadel und Faden. Die lange, geduldige Arbeit, um die leere Höhle wieder zu verschließen, das Blut wegzutupfen und die Wunde zu säubern, um den Schnitt im Bauchfell und in der Bauchwand entlang zu sticheln. Endlich verschloss sie die Haut, ließ eine Öffnung, aus der Wundwasser abfließen konnte und legte einen sauberen Verband über die lange, rote Naht. Neben ihr hatte Tulpe die Klammern beiseite gelegt und damit angefangen, das Baby zu untersuchen. Gesund und kräftig, sagte sie; ihre Stimme bebte unmerklich. Lily schaute auf und sah, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Was ist es? Ein Mädchen. Tulpe fing an zu schluchzen. Ein wunderschönes Mädchen. Lily legte beide Hände über ihren Bauch, der unverletzt war und noch immer das Zuhause eines Kindes, das noch mehr als zwei Monate Zeit zum Wachsen hatte. Sie hatten Rubinie und ihr Baby gerettet, und sie hatten Rorys Wahnwitz überstanden aber alles, woran sie jetzt denken und was sie jetzt spüren wollte, war der kräftige Stoß eines winzigen Fußes aus ihrem Inneren. Es ist am Leben. Es ist in Sicherheit so wie wir alle. Würdest du sie hereinlassen? fragte sie. Ich glaube, ich sollte mich einen Augenblick hinsetzen. Sie sank schwer auf den Hocker neben dem Tisch und vergrub ihr Gesicht in beiden Händen. Weit weg hörte sie das kratzende Geräusch des übel malträtierten Riegels und das Knarren der Tür. Schnelle Schritte waren zu hören; im allernächsten Moment spürte sie Arme um sich, die sie hielten, und sie lehnte sich mit einem Seufzer an eine vertraute, feste Schulter. Lily, murmelte Frodo ihr ins Ohr; seine Stimme bebte, eine Mischung aus hilflosem Zorn, Schock und fassungsloser Dankbarkeit. Himmel und Erde, Lily. Sie hob den Kopf und nahm sein Gesicht in sich auf. Seine Augen waren flammendes Indigo, seine Lippen eine schmale, fast farblose Linie. Wieder stiegen die Tränen hoch, aber sie zwang sie hinunter, sie gewann Stärke aus seinem bloßen Anblick und raffte den letzten Rest Willenskraft zusammen, um ihre Aufgabe zu vollenden. Liebster, wo ist Sam? Wo ist Er starrte sie ungläubig an, dann gab er einen Seufzer von sich, halb ärgerlich, halb resigniert. Sam? rief er. Würdest du bitte mal herkommen? Sam erschien auf der Türschwelle. Sein Hemdkragen hatte einen langen Riss, ein Ärmel war blutbeschmiert, sein Haar zerrauft und er hatte ein sehr eindrucksvolles, blaues Auge. Aber als er sie sah, grinste er fröhlich. Hallo Lily, sagte er, wir dachten, wir sollten besser mal herausfinden, wie die Dinge hier unten stehen. Gibts noch was, das ich für dich tun kann? Gesegneter, wundervoller Freund. Wieder musste sie ihre Tränen wegblinzeln. Ähm Sie räusperte sich. Ich fürchte, ich werde dich ein bisschen durch die Gegend schicken müssen, wenn es dir nichts ausmacht. Würdest du wohl bitte nach Wasserau fahren und Aster Straffgürtel holen? Jemand wird über Nacht hier bleiben müssen, um darauf zu achten, dass es Rubinie weiter gut geht und ich fürchte.. ich fürchte, ich habe nicht mehr genug Kraft übrig. Sie schluckte, aber dann spürte sie den beruhigenden Griff von Frodos warmer Hand um ihre eisigen Finger, und es gelang ihr, fortzufahren. Und würdest du vielleicht Rollo mitnehmen und ihn zum Kattunhof fahren? Der arme Kerl braucht ein bisschen Ruhe vielleicht kannst du ihm sagen, dass Rubinie am Leben ist und dass er jetzt eine kleine Schwester hat. Und vielleicht kannst du auch Jolly und Nibs davon überzeugen, dass sie herkommen und auf Rory Acht geben. Sie rieb sich die Augen; plötzlich war sie entsetzlich müde. Wie wie geht es ihm? Sams Grinsen wurde ein wenig grimmig. Ohnmächtig, und verschnürt wie eine Ente auf dem Weg zum Markt, sagte er. Ich habs ihm ordentlich heimgezahlt für mein Auge, aber bestimmt. Innerhalb der nächsten paar Stunden schadet er ganz sicher niemandem mehr. Ich würde vorschlagen, dass Jolly und Nibs ihn mit zum Hof nehmen; morgen ist es früh genug zu entscheiden, was wir mit ihm machen. Er schenkte ihr ein sanftes Lächeln. Tulpe werde ich auch heimfahren, wenn du sie nicht mehr brauchst, fügte er hinzu. Das arme Mädel sitzt in der Küche und weint in ihren Tee. War ein bisschen viel für sie, denk ich mal. Er zögerte; sein Blick suchte die schlafende Frau auf dem Bett und die winzige Gestalt in der Wiege, Hast hast du ihr wirklich den Bauch aufgeschnitten? Sie nickte wortlos. Das Baby ist am Leben? Und Rubinie auch? Ja, brachte sie heraus und verspürte in ihrem Herzen den ersten, müden Hauch von Triumph. Ich werde die Nähte täglich überprüfen müssen, um herauszufinden, ob alles so heilt, wie es sollte aber ja, sie sind beide am Leben, und es geht ihnen gut. Er schaute sie an und schüttelte ehrlich staunend den Kopf. Was für ein Julgeschenk, murmelte er mit weicher Stimme, Ein Kind im Mittwinter. Er ging, um ihre Anweisungen auszuführen, und sie wandte sich zu Frodo, der die ganze Zeit geschwiegen hatte. In seinen Augen fand sie, was sie auch schon in Sams Augen gesehen hatte Staunen und eine zögernde Freude. Er hat Recht, weißt du, sagte er und berührte ihre Wange mit der vierfingrigen Hand. Es fühlt sich an wie ein Wunder. Er verfiel wieder in Schweigen und streichelte ihr Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis er weiter sprach. Wir kamen her, und alles war stockdunkel. Als wir den Smial betraten, hörten wir Rollo schreien und dann rannten wir den Korridor hinunter und sahen Rory, der versuchte, die Schlafzimmertür aufzubrechen. Ich nehme an, ich hatte unwahrscheinliches Glück, dass Sam vor mir lief. Er lachte ziemlich zittrig. Rory ging sofort auf ihn los, aber Sam war viel zu wütend er steckte das blaue Auge ein und bekam ihn dann um die Arme zu fassen und ließ ihn nicht mehr los. Rory konnte sich nicht mehr rühren, aber wandte den Kopf und versuchte allen Ernstes, ihn zu beißen. Ihn zu beißen, stell dir das vor! Er lachte wieder, diesmal ein wenig freier. Sam schlug seinen Kopf gegen die Wand, und das wars. fuhr er fort und wurde wieder ernst. Und dann musste ich draußen warten, vor dieser verdammten Tür, und ich konnte nicht hinein, um festzustellen, wie es dir geht Seine Stimme erstarb, und jetzt war es Lilys Hand, die seine Wange in einer zärtlichen Liebkosung fand. Wir warten, bis Aster hier ist, flüsterte sie, und dann fährst du mich nach Hause. Sie beugte sich vor, bis sie Stirn an Stirn dasaßen und sie seine warmen Atem auf ihrem Gesicht spüren konnte. Ich möchte nach Hause. Er half ihr, sich von dem Hocker zu erheben und sie ging zu der Wiege hinüber. Das kleine Mädchen schlief friedlich, ein rosiges Gesicht, von dem weichen Wolltuch umrahmt, das Tulpe benutzt hatte, um sie einzuwickeln. Damm wandte sie sich zum Bett, beugte sich über Rubinie und legte eine Hand gegen ihren Hals. Er war kühl, und sie konnte sehen, dass sich die Brust der jungen Mutter langsam und regelmäßig hob und senkte. Lily? Sie lächelte ihren Mann an. Es geht ihr gut. Noch eine Stunde, und sie wacht auf. Er kam zu ihr und legte erneut die Arme um sie. Sie schmiegte sich an ihn und zog die Vertiefung seines Rückgrates mit beiden Händen nach. Die Bilder dieses Abends wirbelten vor ihrem inneren Auge vorbei, ein verstörender Tanz von Farben und Geräuschen Rollos ängstliches Gesicht, Rubinies zitternde Stimme, die Gefahr in Rorys Augen das Messer in ihren Händen Sie presste das Gesicht gegen seine Brust und atmete tief ein. Du riechst nach Eukalyptus, sagte sie, und jetzt brach endlich der Damm und sie spürte, wie ihr die Tränen kamen. Sie weinte in sein Hemd hinein und er wiegte sie sachte hin und her, das Kinn auf ihrem Kopf, wortlos und unendlich erleichtert.
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