Epilog
Ein Licht an Jul

Sie erwachte davon, dass eine kleine Hand am Ärmel ihres Nachthemdes zupfte. Als sie die Augen öffnete, malte das Sonnenlicht einen hellen Kreis auf den Teppich, und Klein-Rosie saß mit baumelnden Beinen im Sessel neben dem Bett, eine brandneue Puppe unter den Arm geklemmt.

„Du haft verflafen, Frau Lily!” krähte sie. „Fau mal, waf ich pfum Jul gekriegt hab!”

Lily blinzelte. Sie erkannte das fröhliche, hölzerne Gesicht wieder, an dem Sam sorgsam herum geschnitzt hatte, während der Abende, wenn die Kinder schliefen, und sie sah das rote Kleid, das Rosies Mutter genäht hatte. Beim Anblick der winzigen Rosenknospen auf der weißen Schürze der Puppe lächelte sie; sie waren unter ihren eigenen Händen gewachsen.

“Wir ham Kakao und Fahne gehabt, und Mama hat unf Kekfe mit Pfimm gegeben.” Das kleine Mädchen strahlte, und Lily sah die Zahnlücke, die für ihr niedliches Lispeln verantwortlich war.

„Kekse mit Zimt?” sagte sie und setzte sich im Bett auf. „Was für eine herrliche Leckerei! Hast du mir welche mitgebracht?”

„Nö. Herr Frodo hat gefagt, wir foll’n dich flafen laffen.” entgegnete Rosie in aller Unschuld; plötzlich errötete sie, als ihr klar wurde, dass sie sich soeben über seine Anweisung hinweg gesetzt hatte. „Papa hat unf vom Hof nach Haufe gefahr’n, und Oma hat mir ein neuef Kleid gefenkt!”

Die Tür öffnete sich, und Frodo erschien auf der Türschwelle.

„Guten Morgen, meine Indil,” sagte er, und seine Augen zwinkerten, als er Rosie entdeckte (für die er ganz entschieden eine Schwäche hatte). „Und du, junges Fräulein, solltest hinaus gehen, denn ich bin ziemlich sicher, dass im Kinderzimmer noch irgendwo ein Geschenk für dich versteckt ist.”

„Ift daf wahr?!” Das kleine Mädchen stürmte aus dem Zimmer, die Puppe immer noch fest in einer Hand. Frodo setzte sich in den leeren Sessel neben dem Bett.

„Wie geht es dir, Geliebte?”

„Sehr gut, danke,” erwiderte Lily. „Und hungrig bin ich auch. Ich sollte mir ein kleines Frühstück gönnen und dann zum Wurzelgräber-Smial hinunter gehen. Ich möchte sehen, ob es Rubinie gut geht. Und ich muss die Naht überprüfen.”

Frodo lächelte. „ich fahre dich hinunter, wenn du willst,” sagte er, „aber ich möchte hinzufügen, dass auf dich ebenfalls ein Geschenk wartet. Und ich habe den Wurzelgräber-Smial heute Morgen schon besucht, zusammen mit Andi Straffgürtel.”

Lily’s Augen weiteten sich.

„Du hast Andi geholt? Was hat er gesagt?”

„Ich dachte, das verschafft dir ein bisschen mehr Zeit, um dich auszuruhen. Und er sagte, er hätte selten eine so saubere Naht gesehen. Er hat mich auch gebeten, dir zu sagen, dass Rubinie – wenn es nach seiner Mutter geht – eine friedliche Nacht verbracht hat, dass sie heute Morgen eine Tasse Hühnerbrühe und zwei Scheiben Brot zum Frühstück hatte, und dass sie offenbar jede Menge Milch hat, um ihre Tochter zu stillen.”

Lily schwang die Füße aus dem Bett, warf die Arme um ihn und küsste ihn feurig. Als sie sich wieder zurücklehnte, leuchteten ihre Augen.

„Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich trotzdem nach ihr sehen will – vielleicht heute Nachmittag?”

„Nein, würde es nicht,” sagte er ernsthaft. „Es hätte mich überrascht, wenn du nicht einen genaueren Blick auf deine… deine Arbeit werfen wolltest. Oh…” Er hob ihre Hand an den Mund berührte jeden einzelnen Finger mit den Lippen, „… während Aster damit beschäftigt war, sich in bewunderungswürdiger Weise um Rubinie zu kümmern, hat Andi den unglückseligen Vater des neugeborenen Babys unter seine Fittiche genommen. Andis Vater wurde von Sarumans Schurken ermordet - genauso wie Rorys erste Frau. Ich vermute, sie haben sich gegenseitig eine Menge zu erzählen.”*

„Ja,” murmelte Lily gegen seine Wange. „Habe ich in letzter Zeit erwähnt, dass ich dich liebe?”

„Oh, ich weiß nicht,” entgegnete er, „Es mag wohl sein, dass ich das seit… sagen wir, seit wenigstens einem Tag nicht mehr gehört habe? Und seit einer Nacht?”

„Verrückter Beutlin!” Sie lachte. „Ich liebe dich. Und ich will eine Tasse Tee, und Rührei, und Schinken…”

„Soll ich dir ein Tablett bringen?”

„Unter gar keinen Umständen!” sagte Lily; ihre Augen strahlten noch heller als zuvor. „Ich will in der Küche frühstücken, zusammen mit dir, mit Sam und Rosie. Und ich will Elanor die Wörter abhören, ich will Merry davon abhalten, sich die Finger an der Gans zu verbrennen, und ich will Rosie’s ,Pfimm’-Kekse mit ihr teilen.” Ihr Gesichtsausdruck war weich und freudig. „Ich will jede Minute dieses Julfestes so sehr genießen, wie ich nur kann.”

„Dann sehe ich dich in der Küche,” meinte Frodo. „Es sei denn, du brauchst Hilfe mit deinem Kleid.”

Sie schenkte ihm einen Blick, der sein Herz rascher schlagen ließ.

„Ich komme heute Nacht auf dein Angebot zurück,” erwiderte sie und warf ihm einen Handkuss zu. Er verließ das Zimmer und ging den Flur entlang, wobei er leise und stimmlos vor sich hin pfiff. Köstliche Düfte nach brutzelndem Schinken und frischem Brot wehten aus der Küche in seine Richtung, und er bückte sich, um eines von Merrys zahllosen Holzpferdchen aufzuheben. Plötzlich stellte er sich Lily vor, wie sie heute Nachmittag aussehen würde: umgeben von den Gamdschie-Kindern, wie sie ihre warme, liebliche Stimme zu einem der alten Lieder erhob und die Julkerzen in den Fenstern anzündete.

Er fuhr mit dem Daumen über die polierte Oberfläche des Spielzeuges, und plötzlich dachte er wieder an Rory Wurzelgräber… seinen Verlust, seinen hilflosen Wahnsinn und seine Wut, gegen eine Welt gerichtet, die drohte, ihn all dessen zu berauben, was er liebte. Er konnte nicht ehrlich behaupten, dass er nicht verstand, wie er sich gefühlt haben musste. Gestern hatte er bestürzend ähnlich empfunden... und obwohl Stich nicht zum Einsatz gekommen war, wusste er tief in seinem Herzen. dass seine eigener, bodenloser Zorn und seine Furcht leicht zu mehr hätten führen können als zu einem blauen Auge und einem geschwollenen Kinn.

Aber heute würden sie das Julfest genießen, so sehr sie es konnten… die letzte Nacht des Jahres, den Duft nach Immergrün und Efeu und das Licht der Kerzen. Er dachte an die Frau im Schlafzimmer; seine Frau, freudevoll und stark, verletzlich und tapfer… seine Frau, die ein Werkzeug, das zum Töten gemacht wurde, dazu benutzt hatte, ein neues Leben auf die Welt zu bringen.

Er wusste, dass sein höchsteigenes Jul-Licht nicht schwand, wenn die Kerzen ausgeblasen wurden. Es brannte mit strahlender Flamme… in Lilys Augen und tief in seinem Herzen.

ENDE

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