Winterfeuer
von Cúthalion
Kapitel 12
Abschied im Morgengrauen
An diesem Tag hatte ich Schrecken und Freude erlebt, bittere Scham und Enttäuschung, ungläubiges Staunen und einen gänzlich unerwarteten Frieden. Und jetzt, während ich still an der Tür stand und ihn anschaute, spürte ich seltsamerweise gar nichts. Ich betrachtete ihn sekundenlang wie einen Fremden; sein Gesicht war blass, müde und angespannt.
Was machst du hier? Meine Stimme klang mir selbst unpersönlich in den Ohren, und ich sah, dass er leicht zusammenzuckte und die Stirn runzelte.
Ich wollte mit dir reden. sagte er. Ich... ich habe die Beherrschung verloren vorhin. Das tut mir leid.
Du hattest jedes Recht dazu. erwiderte ich ruhig. Ich habe dich mit einer völlig wahnwitzigen Geschichte überfallen und dir gesagt, dass ich jeden Augenblick spurlos verschwinden könnte. Kein Wunder, dass du wütend geworden bist.
Er senkte den Kopf und ich sah, dass er tief Atem holte.
Ich... es...
Er sah mich wieder an, die grauen Augen dunkel und bedrückt.
Es war, als ob du mich benutzt hättest, um mich, wenn du gehst, zurückzulassen wie ein vergessenes Spielzeug. Aber... so bist du nicht. Ich bin in den letzten Stunden durch halb Minas Tirith gewandert, um nachzudenken. Und ich habe mich an jeden einzelnen Augenblick erinnert, den wir zusammen verbracht haben. So bist du nicht. Du bist freundlich und klug, du bist stark... und du bist großzügig. Dass du mich zum Geliebten genommen hast...
Ein schwaches Lächeln geisterte um seine Mundwinkel.
Du hast mich nicht ausgenutzt. Du hast mich beschenkt. Und...
Ich sah, wie er errötete.
... und ich weiß, dass ich dein erster Mann war. Du hast nicht mit mir gespielt. Ich hätte das nicht sagen dürfen. Und ich hätte dir auch nicht diese Umarmung und diesen... diesen Kuss aufzwingen dürfen. Ich schäme mich deswegen mehr, als ich sagen kann. Kannst du mir vergeben?
Natürlich kann ich das. sagte ich leise. Ich hätte dir vertrauen sollen; es war nicht allein deine Schuld. Ich hätte dir besser schon eher die Wahrheit sagen sollen.
Du bist wahrhaft großherzig... mehr als ich verdiene, fürchte ich.
Er seufzte tief, wandte mir den Rücken zu und trat ans Fenster.
Wie dem auch sei, eine Wahrheit ist der anderen wert. Seine Stimme war leise, und ich trat näher, um ihn besser verstehen zu können. Aber ich berührte ihn nicht.
Ich bin jetzt siebenunddreißig. fuhr er fort: Ich habe dir erzählt, dass ich mit Faramir aufgewachsen bin... und als er seinen Dienst in Ithilien antrat, meldete ich mich freiwillig in seiner Kompanie. Das ist jetzt fast siebzehn Jahre her. Damals lebte meine Mutter noch... Mein Vater hatte ein Haus für sie gebaut, bevor er sie zur Frau nahm, etwa einen Halbstundenritt von Cormallen entfernt, direkt am Ufer des Anduin. Es ist aus Holz und Stein, nicht sehr groß, aber die Räume sind geräumig und hell. Es duftet nach den Zedernschindeln auf dem Dach, und man kann überall das Rauschen und Murmeln des Flusses hören.
Er legte kurz den Kopf in den Nacken, ohne sich nach mir umzudrehen.
Als meine Mutter vor fünfzehn Jahren an der Auszehrung starb, habe ich das Haus verschlossen; damals wanderten die Waldläufer schon als heimliche Schatten durch Ithilien, und die Bedrohung aus Mordor war so sehr gewachsen, dass die meisten Bewohner sich in Richtung Minas Tirith und weiter nach Lebennin zurückzogen. Damals kannte ich eine Frau... sie war in den letzten Lebensjahren meiner Mutter in unserem Haus ein- und ausgegangen, und ich mochte sie sehr.
Wer war sie? fragte ich leise und zögernd; ich war nicht sicher, ob ich das wirklich wissen wollte.
Sie hieß Idril. antwortete er, und jetzt wandte er sich um und sah mich an. Sie war kleiner als du, sehr flink und hübsch, und ziemlich aufbrausend. Sie machte andauernd Scherze über mich; sie fand, ich sei viel zu ernst, und schrecklich langsam.
Ein schwaches Lächeln glomm in seinen Augen auf, verschwand aber gleich wieder.
Und langsam war ich tatsächlich, wie sich herausstellte. Ich war damals ständig mit der Kompanie in irgendwelche Scharmützel verwickelt, weil Orkbanden durch Ithilien zogen und zu einer ständigen Bedrohung für diejenigen wurden, die sich weigerten, ihre Heimat zu verlassen. Und irgendwann hatte Idril genug davon, auf das entscheidende Wort von mir zu warten, und heiratete einen der Bauern, die noch geblieben waren.*
Warst du sehr unglücklich darüber? fragte ich vorsichtig.
Er zog eine Grimasse.
Ja, ziemlich. sagte er langsam. Ich hatte sie zu lange als selbstverständlich betrachtet, und jetzt war es zu spät. Ich versuchte, irgendwie damit zurechtzukommen und ließ mich für eine Weile nach Minas Tirith versetzen. Dann beschloss der Truchsess, Ithilien endlich evakuieren zu lassen. Nach und nach zog eine Familie nach der anderen über den Fluss. Idrils Mann aber weigerte sich zu gehen.
Er seufzte und wandte sich wieder ab; ich sah, wie sich seine Hände sich fest um das Fensterbrett schlossen.
Faramir erzählte mir davon und ich ritt nach Ithilien, so schnell ich konnte. Gondors Männer und zwei Kompanien der Waldläufer hielten die Straße zum Anduin frei, so gut es ging, und ich erreichte den Hof gegen Abend. Idril war damit beschäftigt, die Hühner zu füttern, als ich kam. Sie wollte mich hereinbitten und mir den Rest des Essens servieren, aber ich lehnte ab. Sie hatten nicht einmal damit angefangen, ihre Habseligkeiten zusammen zu packen. Sie taten einfach so, als würde ihnen nichts geschehen. Sie benahmen sich so, als ob alles, was ich sagte, um sie zur Abreise zu bewegen, nicht mehr sei als unvernünftige, kindische Panik.
Konntest du sie nicht überzeugen? flüsterte ich. Ich wollte das Ende dieser Geschichte nicht hören; ich konnte es mir bereits vorstellen. Aber ich wollte auch nicht, dass er aufhörte.
Damrod stieß ein kurzes, unfrohes Lachen aus. Hast du schon einmal versucht, einen Felsen zu etwas zu überreden? Sie stand auf ihrem Hof und verstreute in weitem Bogen Futter, während das Federvieh zu ihren Füßen scharrte und nach meinen Stiefeln pickte. Ich redete auf sie ein, und sie lächelte still vor sich hin und sah mich die ganze Zeit über nicht an. Endlich hob sie den Kopf, kam auf mich zu, legte mir eine Hand auf die Brust und schnitt mir das Wort mitten im Satz ab. ,Ich bleibe hier. sagte sie sehr ruhig. ,Wenn Erestor nicht geht, dann gehe ich auch nicht.
Er schwieg eine Weile; das Zimmer war sehr still. Ich trat hinter ihn und berührte sachte seine Schulter. Er wurde einen Moment völlig starr, dann entspannte er sich langsam.
Ich ritt noch in der selben Nacht zurück; später erfuhr ich, dass der Hof noch am nächsten Tag angegriffen und das Haus über ihren Köpfen niedergebrannt worden war. Sie waren beide tot.
Es tut mir so leid. flüsterte ich. Wie entsetzlich...
Ja, es war entsetzlich. antwortete er. Und als ich durch die Stadt lief und versuchte, zu begreifen, was du mir gesagt hast und was es bedeutet da dachte ich wieder an Idril. Ich habe mir immer Vorwürfe gemacht, dass ich nicht eher gesprochen habe, als ich sie noch hätte zur Frau nehmen können. Oder dass ich sie nicht einfach mitgenommen habe an diesem Abend notfalls mit Gewalt.
Er wandte sich mir zu.
Heute weiß ich, dass es nicht meine Schuld war... sie hatte ihren eigenen Kopf, und sie hat ihr Schicksal selbst herausgefordert. Aber ich will nicht noch einmal die selben Fehler machen. In den Jahren nach Idrils Tod habe ich mich langsam an den Gedanken gewöhnt, keine eigene Familie zu haben. Die Kompanie war mein Zuhause, die Männer waren meine Brüder vor allem Mablung, und auch Faramir. Und dann kamst plötzlich du, mit deinem Mut, deiner liebevollen Stärke und deiner Hingabe, und ich konnte dieses Wunder einfach nicht fassen.
Ich weiß. Ich schluckte. Ich kenne das Gefühl.
Er kam zu mir und nahm meine Hände in die seinen. Ich schaute zu ihm auf; sein Gesicht war angespannt und sein Blick eigenartig hart.
Ich will dich nicht verlieren. sagte er. Ich will nicht, dass du... dorthin zurückgehst. Aber wenn ich dich richtig verstanden habe, gibt es nichts, was du oder ich tun könnten, um zu verhindern, dass es vielleicht eines Tages passiert.
Ich schüttelte den Kopf, unfähig, zu sprechen.
Und ich weiß nicht, ob ich dir in deine... in deine Welt folgen kann. fuhr er fort. Deshalb bleibt uns vermutlich nur, was wir jetzt haben... wir sollten die gemeinsame Zeit nutzen, die uns geschenkt worden ist. Und das will ich. Ich habe seit heute Nachmittag Order, morgen nach Hause zurückzukehren; Faramir reist mit der Weißen Herrin und dem König nach Rohan, um den alten König zu beerdigen, und wir werden in Ithilien mancherlei vorzubereiten haben. Ich werde das Haus meiner Mutter wieder öffnen und in Ordnung bringen. Und in spätestens drei Wochen komme ich zurück nach Minas Tirith und hole dich.
Ich schnappte nach Luft.
Bist... bist du sicher?
Ganz sicher. Seine Hände umschlossen mein Gesicht, dann glitten sie hinunter zu meiner Taille und er zog mich an sich.
Ich weiß nicht, ob du je nach unserem Brauch meine Frau sein wirst. sagte er leise in mein Haar hinein. Aber was auch immer geschehen mag, für mich bist du die Meine, und du wirst es immer sein. Er sprach leise, aber mit Nachdruck dicht an meinem Ohr, und sein Atem ließ feine Haarsträhnen gegen meine Wange wehen.
Du bist verrückt, und es ist ein sträflicher Leichtsinn, und du solltest mich zurücklassen und machen, dass du wegkommst... aber ich danke dir dafür, dass du es nicht tust. sagte ich, und meine Stimme schwankte zwischen Lachen und Weinen. Ich liebe dich so sehr, dass es wehtut, weißt du das, du verrückter Kerl?
Ja, das weiß ich. erwiderte er heiser. Und dann hob er mein Kinn an und küsste mich; kein sanfter, zärtlicher Kuss diesmal, sondern eine leidenschaftliche Attacke auf meinen Mund, drängend und heftig. Der Atem staute sich in meiner Kehle und kam in einer heißen Explosion heraus, als er meine Lippen freigab.
Ahhh...
Sein Mund war wieder da, und noch nie zuvor war ich so geküsst worden, auch nicht von ihm. Ich fühlte seine Hände, die meine Kutte aufknöpften und das Hemd von meinen Schultern streiften, und dann waren sie überall auf meiner bloßen Haut. Ich merkte, wie ich zu zittern begann. Er löste sich noch einmal von mir, und ich wusste, dass er die Tür verriegelte und die Spätnachmittagssonne aussperrte, während ich still dastand und auf ihn wartete, die Augen geschlossen. Dann war er wieder da, und er zog mich an sich, und ich spürte seine warme Nacktheit und sein Begehren... und dann hob er mich hoch und trug mich zum Bett.
Noerwen... flüsterte er, Noerwen, meine Geliebte... und dann war er über mir und mit einer einzigen, fließenden Bewegung auch in mir, und ich klammerte mich an ihn, überwältigt von seinem Ansturm... und ich begriff, dass er mich mit jeder Berührung, mit jedem kraftvollen Vorstoß für sich beanspruchte, jeder Zentimeter meiner Haut sein Fleisch, seine Frau, sein eigen.
Und diese unverhüllte Inbesitznahme ließ mich in seinen Armen aufflammen wie ein Springfeuer, und ich gab mit wachsender Wildheit zurück, was mir geschenkt wurde. Ich hörte meine Stimme und erkannte sie kaum... rau vor Leidenschaft, hilflos um Gnade bittend und gleichzeitig um mehr flehend, um immer mehr, während er sich über mir aufrichtete und sich schneller bewegte, schneller und härter, ohne auch nur einen Moment die Augen von mir abzuwenden. Die Gnade, die er mir erwies, war süß und qualvoll zugleich, und sein heftiger Höhepunkt riss mich mit und erlöste uns beide.
Später schlief er ein, noch immer mit mir verschmolzen, und ich presste mein Gesicht in die dunklen Wellen seines Haares und trank seinen Geruch in mich hinein, und ich dachte daran, dass er morgen fort sein würde. Und dann dachte ich an Idril, deren Liebe und Starrsinn ihr den Tod gebracht hatte, und ich spürte ein so tiefes Mitgefühl und Verständnis, dass sich mir die Kehle zuschnürte. Wenn er es gewesen wäre...
Ich strich ihm das Haar aus dem Gesicht und küsste seine Schläfe; er murmelte etwas und seine Arme schlossen sich fester um mich, während er in seine Träume zurücksank.
Ich wäre wahrscheinlich auch bei dem Mann geblieben, den ich liebte... genau wie sie.
Ich erwachte kurz vor Sonnenaufgang, als eine Hand sich auf meine Schulter legte und mich sanft schüttelte. Ich öffnete die Augen. Eine einzelne Kerze brannte auf dem Tisch und Damrod stand über mich gebeugt, vollständig angezogen.
Was...? Ist etwas geschehen?
Nein, mein Herz, es ist alles in Ordnung. Aber die Waldläufer brechen sehr früh auf, und ich wollte mich von dir verabschieden.
Ich setzte mich auf, noch halb im Schlaf.
Warum hast du mir das nicht schon gestern Abend gesagt? murmelte ich und rieb mir das Gesicht. Er lachte leise.
Ich wollte nicht an den Abschied denken... nur an dich. sagte er sanft; seine Hände griffen in mein Haar, das aufgelöst und zerzaust über meine nackte Brust fiel und nahmen es zu einem lockeren Zopf zusammen... so wie er es in all den vergangenen Wochen immer wieder getan hatte. Ich seufzte und verschränkte meine Finger mit den seinen.
Ich werde dich vermissen. flüsterte ich.
Du wirst mich bald wiederhaben, mein Liebstes. Er küsste mich und liebkoste meinen Rücken, bevor er mich losließ und sich aufrichtete. Würdest du dich anziehen und mit mir in die Gärten hinauskommen, bevor ich gehe? Ich möchte dir etwas geben.
Also warf ich mir die Kutte über, schlüpfte in meine Sandalen und folgte ihm ins Freie. Hand in Hand gingen wir durch den Kräutergarten bis zur Mauer. Die Beete waren silberweiß vom Tau; es duftete stark und balsamisch nach Rosmarin und Lavendel. Der Himmel im Osten färbte sich von einem blassen Graublau zu einem sanften Rosaton; in wenigen Minuten würde die Sonne aufgehen.
Ich lehnte mich mit dem Rücken an die Mauer; der frische Wind, der von den Bergen her wehte, fuhr in mein offenes Haar und ließ dicke Strähnen in mein Gesicht flattern. Damrod stand still, lächelte und betrachtete mich schweigend.
Wie schön du bist. sagte er leise. Dann steckte er die Hand in die Tasche seines Umhangs und holte einen kleinen, dunkelblauen Samtbeutel heraus. Er zog sachte an dem Band, das ihn verschloss und ließ den Inhalt in seine gewölbte Handfläche fallen. Dann griff er nach meiner Rechten und plötzlich glitt etwas Kühles, Schweres über meinen Mittelfinger.
Ich hob die Hand, betrachtete den Ring, den er mir angesteckt hatte und hielt den Atem an.
Die Ringschiene sah aus wie eine natürlich gewachsene Ranke mit zarten Blättern, schlank und schmal wie bei einer Pappel. Das Metall wirkte auf den ersten Blick wie Silber, aber es leuchtete stärker, strahlend hell und kühl, wie mondbeschienenes Wasser. Der Ringkopf erinnerte an eine halb geöffnete Blüte, und ihre äußeren Blätter bildeten die Fassung für einen Stein, der in einem tiefen Moosgrün leuchtete, klar und rund wie ein Waldteich.
Damrod... Ich war beinahe fassungslos über dieses Geschenk; noch nie hatte ich einen so schönen Ring gesehen. Es handelte sich offensichtlich um ein kostbares Erbstück.
Das ist der Ring, den mein Großvater für meine Großmutter machen ließ. sagte Damrod sanft. Es ist Zwergenarbeit. Meine Mutter bekam ihn, als meine Großmutter starb. Und sie hat ihn bis zu ihrem letzten Tag getragen.
Den kannst du mir doch nicht geben! Ich starrte ihn an und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. Was, wenn ich...
Still. Er nahm mein Gesicht in beide Hände und verschloss mir den Mund mit einem Kuss. Ich habe jahrelang nicht mehr geglaubt, dass ich je eine Frau haben würde, die ihn trägt. Und ich möchte ihn an deiner Hand sehen.
Damrod...
Noerwen. Er sah mir in die Augen und zog mich fest an sich. Erinnerst du dich, wie ich dir einmal gesagt habe, dass blinde Furcht der Tod eines Kriegers ist?
Ich nickte, das Gesicht in sein weiches Wams gedrückt.
Sie ist auch der Tod jeder Liebe. Mein Herz, ich weiß nicht, warum du hergekommen bist. Aber ich segne jeden Tag, an dem ich dich in meinen Armen habe halten dürfen. Ich will keine Angst davor haben, dich zu verlieren. Ich will mich auf eine Zukunft mit dir freuen. Du wirst mit mir in Ithilien leben.
Glaubst du das wirklich?
Aber sicher. Er lächelte und fing an, mein Haar zu streicheln. Wir werden ein Kräuterlager anbauen, und die Kranken werden kommen, um sich von dir helfen zu lassen. Und abends werden wir am Ufer des Anduin sitzen, und ich werde dir all die Fragen stellen, für die jetzt keine Zeit mehr bleibt. Dann wirst du mir deine Welt erklären, und wenn es dunkel wird, gehen wir hinein und schließen die Tür hinter uns und ich werde dich lieben und du wirst neben mir einschlafen.
Ich lauschte wie gebannt, beruhigt und getröstet von der tiefen Zuversicht in seiner Stimme. Endlich hob er mein Kinn an und sah mir in die Augen.
Es war kein Zufall, dass du hergekommen bist, meine Geliebte. sagte er ruhig. Daran glaube ich von ganzem Herzen... genau so, wie ich daran glaube, dass ich dich in ein paar Wochen holen komme. Ich werde rechtzeitig Nachricht schicken, damit du dich auf die Abreise vorbereiten kannst.
Er küsste mich noch einmal, zärtlich und lange, und ich hielt ihn fest, erfüllt von seiner Wärme, dem Geruch seines Körpers und der pulsierenden Lebendigkeit seiner Haut unter meinen Fingern. Dann trat er zurück.
Auf Wiedersehen, Noerwen. Sein Blick hielt mich noch, obwohl seine Arme es nicht mehr taten. Auf bald, mein Herz.
Auf bald. erwiderte ich. Ich liebe dich.
Er drehte sich um und ging. Ich sah ihm nach, bis er hinter der Hecke verschwand, die den Kräutergarten begrenzte, dann wandte ich mich wieder der Mauer zu. Es dauerte fast eine Stunde, bis der Trupp der Waldläufer tief unten durch das große Tor ritt, aber ich rührte mich nicht von der Stelle, bis ich die Männer mit ihren Pferden sah... zwei Dutzend Gestalten in Dunkelgrün und Braun, die auf der Straße über den Pelennor immer kleiner wurden, bis sie endlich ganz verschwunden waren. Erst als ich sie nicht mehr erkennen konnte, drehte ich mich um und ging langsam wieder ins Haus zurück.
Ich hatte glücklicherweise keine Zeit, mich elend und verlassen zu fühlen; ich konnte mich gerade noch waschen und eilig im Refektorium frühstücken, bevor ich meinen Dienst antrat. Und ich hatte erst angefangen, mit Oroher die Runde zu machen, als ein Maurer von einer der zahlreichen Baustellen in Minas Tirith eingeliefert wurde. Er war vom Gerüst gestürzt, und sein Rücken und seine Beine waren mit Prellungen übersät, aber am schlimmsten hatte es sein rechtes Handgelenk erwischt. Es war mehrfach gebrochen, und einige Knochen waren regelrecht zertrümmert.
Wenn wir das Handgelenk nur schienen, wird es steif bleiben, und dann kann er nicht mehr arbeiten. Man hat mir gesagt, dass er eine Frau und drei Töchter versorgen muss. meinte Oroher, während wir uns unter dem hellen Oberlicht des Untersuchungsraumes über die Verletzung beugten.
Was wollt Ihr denn sonst machen? fragte ich. Aus der offenen Wunde ragten weiße Knochenspitzen hervor, und ich war heilfroh, dass der Mann bereits in tiefer Betäubung lag. Zum ersten Mal konnte ich ziemlich genau nachvollziehen, wie sich einer unserer Patienten fühlte.
Ihr habt ruhige, geschickte Hände. Wenn wir zusammenarbeiten, können wir ihm vielleicht den größten Teil seiner Beweglichkeit erhalten.
Ich sah den Vorsteher zweifelnd an.
Oroher, ich weiß nicht... das ist wie ein Zusammensetzspiel mit ungewissem Ausgang. sagte ich, während ich gleichzeitig verzweifelt versuchte, mir die genaue Struktur des Handgelenkes ins Gedächtnis zu rufen. Er deutete mein Stirnrunzeln offenbar ganz richtig, denn er trat an einen Wandschrank, schloss ihn auf und holte ein Pergament heraus, das er sorgsam auseinanderfaltete. Zu meinem Erstaunen sah ich darauf die Silhouette eines Armes mit vollständig eingezeichneten Oberarm- und Unterarmknochen, dazu Handgelenk, Hand- und Fingerknochen, und jeder einzelne davon, soweit ich das beurteilen konnte, anatomisch völlig korrekt.
Wunderbar. Ich schaute von der exakten Zeichnung auf. Wer hat das gemacht Ihr?
Nun... Er lächelte. Mardils Leidenschaft mögen die Kräuter sein, meine sind die Knochen. Vielleicht kann uns dies hier als Wegweiser helfen.
Und so mühten wir uns, das zertrümmerte Handgelenk des Maurers einzurichten, so gut wir es vermochten. Der Vormittag ging vorbei, und noch immer standen wir unter dem Oberlicht des Behandlungszimmers über die offene Wunde gebeugt. Plötzlich entstand Bewegung an der Tür. Ich machte mir nicht die Mühe, aufzuschauen, aber ich hörte, wie jemand an den Tisch trat und dann Ioreths leise Stimme, die Oroher etwas ins Ohr flüsterte.
Noerwen, Ihr solltet das Gelenk ein wenig strecken, bevor Ihr es gleich verbindet. sagte er. Einen kleinen Moment, ich bin sofort wieder da.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er in Richtung Tür ging; ich dehnte das Gelenk behutsam und griff dann nach einer der sauberen Verbandrollen, die neben mir auf einem Tablett lagen. In diesem Moment stöhnte der betäubte Maurer auf und zuckte heftig zusammen, und ich murmelte einen leisen Fluch vor mich hin.
Vielleicht kann ich helfen? Jetzt schaute ich auf und entdeckte einen unbekannten Mann, der neben mir stand. Er war hochgewachsen und muskulös, mit einem klaren, scharf gezeichneten Gesicht, und das Haar, das ihm dunkel und glatt bis über die Schultern fiel, war von feinen, grauen Strähnen durchzogen. Trotzdem wirkte er nicht alt; er wirkte sehr lebendig und die Art, wie sich seine Lippen kräuselten, ließen auf einen gewissen Sinn für Humor schließen.
Vielleicht. sagte ich. Man muss ihn ruhig halten, damit ich den Verband anlegen kann. Bringt Ihr das fertig? - Aber bleibt von der Verletzung fern, Eure Hände sind nicht sauber genug.
Ein Lächeln tauchte in den tiefgrauen Augen auf, die mich prüfend musterten.
Ich werde mich bemühen. Er trat an das andere Ende des Tisches und legte dem bewusstlosen Mann, der jetzt zunehmend unruhiger wurde, eine Hand auf die Stirn. Der Maurer seufzte tief und lag still.
Sehr gut! sagte ich verblüfft, dann griff ich erneut nach der Verbandrolle und arbeitete so schnell und behutsam ich konnte, bis eine saubere, weiße Bandage um die Wunde lag. Endlich richtete ich mich auf und legte den Kopf in den Nacken. Mein Rücken war vom stundenlangen, gebeugten Stehen steif, und ich stöhnte unwillkürlich leise auf.
Der Fremde sah mich an und kam zu mir herüber.
Darf ich? sagte er. Ohne meine Antwort abzuwarten, legte er beide Hände auf meine Schultern und ließ sie mit festem Druck entlang des Rückgrates bis hinunter zur Taille gleiten. Die Wirkung war erstaunlich Wärme breitete sich in den verkrampften Muskeln aus und der dumpfe Schmerz ließ allmählich nach, bis er ganz verschwand. Der Mann trat zurück und ich drehte mich zu ihm um.
Er trug ein Wams aus schlichtem, aber eindeutig kostbarem Samt, der in luxuriöse Falten gelegt war. An der Schulter war eine Art Brosche befestigt; ein Adler spreizte seine Schwingen, und seine Klauen hielten ein Stein von hellem Goldgrün. Die Sonne stand jetzt genau über dem Oberlicht und die Strahlen fingen sich in dem Juwel und ließen es aufleuchten... wie wenn die Sonne im Frühling durch junges Laub scheint.**
Ich sah dem Mann wieder ins Gesicht und verbeugte mich tief.
Ich grüße Euch, König Elessar. sagte ich. Ich bitte um Vergebung, dass ich Euch nicht früher erkannt habe.
Er lächelte und neigte den Kopf.
Nun, das ist kein Wunder. meinte er. Schließlich sind wir uns noch nie zuvor begegnet.
Das stimmt nicht ganz. Ich fing an, mir das Blut von den Händen zu waschen. Ich habe Euch am Tag Eurer Hochzeit gesehen... aber ich stand irgendwo weit hinten in der Menge und Ihr wart nicht größer als mein Daumen.
Und obendrein in schwarzer Rüstung und mit Flügelkrone. fügte er hinzu, und sein Mund kräuselte sich in einem schwachen Ausdruck humorvoller Resignation. Vermutlich hätte ich mich selbst nicht erkannt.
Ich trocknete mir die Hände ab und betrachtete ihn nachdenklich. Plötzlich hatte ich vor meinem inneren Auge das Bild eines Mannes in abgetragenem Leder und weichen Stiefeln, der abends an einem Lagerfeuer saß, dessen rotgoldene Flammen sich in seinen Augen spiegelten. Fast konnte ich den Tabak seiner Pfeife riechen, und ich fragte mich, ob er sich wohl nach dieser Zeit zurücksehnte... wenigstens manchmal.
Ich bin mir sicher, auch an ein hohes Amt wie das Eure muss man sich erst gewöhnen. sagte ich sanft, kontrollierte den Puls des bewusstlosen Maurers und wandte mich dann wieder Aragorn zu. Ich stellte fest, dass er mich mit undurchdringlichem Gesicht beobachtete.
Ihr sprecht aus Erfahrung, nicht wahr, Noerwen?
Er beugte sich vor und sein Blick hielt den meinen fest; genau wie bei Gandalf hätte ich nicht wegschauen können, selbst wenn ich es gewollt hätte. Ich begriff schlagartig, wie viel Macht dieser Mann besaß.
Ja. sagte ich mühsam. Und offenbar wisst Ihr das.
In der Tat. erwiderte er. Und zwar deshalb, weil Gandalf mit mir gesprochen hat.
Er hat... oh.
Nun... bemerkte er sanft, ich nehme an, es ist ziemlich hilfreich für einen König, zu wissen, was in seiner Stadt vorgeht. Vor allem bei einem derart... ungewöhnlichen Gast.
Ich holte tief Luft.
Wer weiß noch davon?
Ich fürchte, das bin ich, mein Kind.
Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Oroher war hereingekommen und betrachtete mich mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Neugier. Ich starrte ihn fassungslos an.
Wie lange?
Seit gestern. Gandalf hat nicht nur mit dem König gesprochen, sondern auch mit mir.
Ich schüttelte den Kopf.
Um Himmels Willen, und was geschieht als nächstes? Ein öffentlicher Aushang auf allen großen Plätzen von Minas Tirith? Fanfaren und Herolde?
Der König lachte leise, aber seine Augen blieben ernst.
Gandalf hat es auf meinen Wunsch getan. Solltet Ihr plötzlich verschwinden, ist es sicherlich besser, wenn wir die Verwirrung in Grenzen halten.
Wie überaus vorausschauend. sagte ich trocken.
Jetzt lächelten auch seine Augen.
Oh, ich bin sehr neugierig, mein Fräulein. meinte er zwinkernd. Und sobald wir vom Begräbnis König Théodens zurückgekehrt sind und uns von unseren Freunden verabschiedet haben, werde ich Euch zu einem langen Gespräch bitten; dann möchte ich alles über die Welt hören, aus der Ihr stammt. Und ich bin sicher, Oroher brennt vor Eifer, zu erfahren, mit welch geheimnisvollen Methoden dort geheilt wird.
Ich verneigte mich.
Nun, ich weiß nicht, wer mehr vom anderen lernen kann - er oder ich. sagte ich.
Ich habe keinen Zweifel, dass auch diese Gespräche hochinteressant sein werden. bemerkte der König. Aber jetzt werde ich gehen; zwei Dutzend Ratgeber warten auf mich, um mich mit Fragen zu überhäufen... und ich bin sicher, wenigstens die Hälfte könnten diese Herren mühelos auch ohne mich beantworten.
Er seufzte und ging in Richtung Tür; dann blieb er plötzlich stehen und drehte sich noch einmal zu mir um.
Ach ja... ich habe keine Geheimnisse vor meiner Königin. Sie würde Euch gern kennenlernen, und sie erwartet Euch in zwei Stunden in ihren Gemächern.
Er war kaum draußen, als Ioreth hereingewirbelt kam und mich mit strahlenden Augen in die Arme schloss.
Meine Güte, Liebes! rief sie, atemlos vor Aufregung. Eine Audienz bei der Königin... was für eine unglaubliche Ehre!
Ich erwiderte die Umarmung, dann schob ich sie sanft von mir.
Wahrhaftig, Ioreth. sagte ich und schaute an meiner grauen Kutte mit der blutbefleckten Schürze herunter. Aber Ihr werdet ein anständiges Kleid für mich auftreiben müssen. So kann ich ja wohl kaum gehen, oder?
Ich nahm ein hastig vorbereitetes Bad; währenddessen fand Ioreth innerhalb von einer Stunde tatsächlich ein passendes Kleid. Ihre Nichte Aragwen, deren Sandalen ich bis nach der Schlacht auf den Pelennorfeldern getragen hatte, nahm sich meiner Frisur an, flocht meine Haare zu zwei dicken Zöpfen und steckte sie mit Hilfe einer Unzahl von Haarnadeln aus ihrer Gürteltasche zu einer Krone auf. Das Kleid war tiefgrün, mit einem runden Ausschnitt und weiten Trompetenärmeln; sämtliche Säume und die Taille waren mit verschlungenen, silbernen Blättern bestickt. Es saß erstaunlich gut, ebenso wie die seidenen Schuhe. Als ich fertig angekleidet war, gingen die beiden Frauen prüfend um mich herum.
Schön. sagte Ioreth und rieb sich das Kinn. Aber irgend etwas fehlt noch.
Zu schade, dass Ihr keinen Schmuck besitzt, eine silberne Kette, oder vielleicht Ohrringe... meinte Aragwen.
Aber ich habe etwas.
Ich trat an die kleine Kommode, die mittlerweile in meinem Zimmer stand und zog die oberste Schublade auf. Oben auf einem Stapel weißer Unterkleider lag der kleine Samtbeutel. Ich holte ihn heraus, zog den Bändel auf, ließ den Ring in meine Hand gleiten und steckte ihn auf meinen Mittelfinger. Dann drehte ich mich um.
Ioreth schaute hinunter auf meine Rechte und ihre Augen weiteten sich.
Liebe Güte, Kind, aber der ist ja wundervoll! Sie nahm meine Hand, hob sie hoch, drehte sie hin und her und betrachtete entzückt die leuchtenden Reflexe in dem runden Stein. Dann hob sie den Blick, sah mir in die Augen und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Damrod?
Ich nickte und spürte, wie ich errötete.
Sie umarmte mich mit einiger Vorsicht, um das Kleid nicht zu zerdrücken oder unwiderruflichen Schaden bei meiner Frisur anzurichten.
Ich freue mich so für Euch! sagte sie. Wann hat er ihn Euch gegeben? Werdet Ihr bald nach Ithilien abreisen? Werdet Ihr dort leben? Oh, wie ich Euch vermissen werde... aber Ihr werdet sicherlich sehr glücklich sein, jetzt, wo die Dinge sich auch dort zum Besseren gewendet haben, und Ihr werdet uns sicher besuchen, und wenn erst einmal Kinder da sind...
Hoppla, langsam! sagte ich lachend. Noch bin ich hier, und der einzige Ort, wo ich im Augenblick hingehe, sind die Gemächer der Königin.
Die Tür öffnete sich und Oroher steckte den Kopf herein.
Noerwen? Draußen steht eine Hofdame, um Euch abzuholen. Ihr... Donnerwetter! Er starrte mich verblüfft an, und dann tat er etwas, das ich dem gesetzten Vorsteher der Häuser nie zugetraut hätte er pfiff anerkennend durch die Zähne.
Ich verneigte mich grinsend, dann richtete ich mich wieder auf, raffte die rauschenden Röcke und segelte hoch erhobenen Hauptes an ihm vorbei aus dem Zimmer.
Die Frau, die mich abholte, war in keiner Weise hochmütig, sondern sehr freundlich und sichtlich aufgeregt über ihren brandneuen Status als Mitglied von Arwens Hofstaat. Sie machte mir Komplimente über mein Aussehen und geleitete mich nach einem kurzen Fußweg das letzte Stück der Serpentinenstraße hinauf an zwei schwarz gekleideten Wachen vorbei in einen weiten, gemauerten Hof. In der Mitte stand ein Springbrunnen, um den sich eine breite Marmorbank zog; Kissen lagen darüber verstreut. Daneben erhob sich ein ganz junger Baum mit schneeweißer Rinde.
Die Hofdame bemerkte meinen Blick und strahlte vor Stolz.
Ja, Fräulein! sagte sie. Das ist ein Schössling des Ältesten Baumes. Unser König hat ihn mit eigenen Händen ausgegraben und eingepflanzt, und Herr Gandalf hat ihm geholfen. Und fast jeden Tag kommt unsere Königin, setzt sich dort hin und singt elbische Lieder. Manche meinen, davon wächst er besser.
Sie führte mich über den Hof an weiteren Wachen vorbei in den Palast, und ich folgte ihr durch eine ganze Flucht prächtiger Empfangsräume bis zu einer breiten Treppe, die in ein anderes Stockwerk führte. Ich hätte gern mehr Zeit gehabt, mich umzusehen; ich kam mir vor wie in einem prachtvollen Museum. Teilweise waren die marmornen Wände wunderbar bemalt, teilweise von kostbaren, seidig schimmernden Draperien und Gobelins verhüllt. An einigen Stellen wurden die Mauern von hohen Buntglasfenstern durchbrochen, und die Sonnenstrahlen, die durch dieses Glas fielen, ließen die weißen, elegant geschwungenen Stufen in allen Farben des Regenbogens aufleuchten.
Endlich waren wir oben, und ein Diener öffnete und mit einer tiefen Verbeugung eine reich geschnitzte Tür aus Eichenholz. Ich trat ein und hörte, wie die Hofdame mich ankündigte; ich weiß noch, dass die zwei Dutzend Haarnadeln, die meine Flechten an Ort und Stelle hielten, sich alle gleichzeitig in meine Kopfhaut bohrten. Die mehrschichtigen Röcke meines Hofgewandes, die mir nach der losen, weiten Kutte sehr füllig vorkamen, drohten sich um meine Knie zu wickeln und ich trat ungeduldig und möglichst unauffällig danach. Ungeachtet der großen Ehre, die mir erwiesen wurde, wünschte ich mich plötzlich brennend in ein friedliches Krankenzimmer, um ein gebrochenes Bein zu schienen oder einen Hautriss zu nähen.
Willkommen, Noerwen.
Die Königin von Gondor kam mir entgegen, und was immer ich auch als höfliche Begrüßung hatte sagen wollen, erstarb mir auf den Lippen.
Ich hatte immer Schwierigkeiten gehabt, mir vorzustellen, wie Elronds Tochter aussah; die Beschreibung des Pengolodh hatte mich nicht so recht zufrieden gestellt. Weiße Haut, schwarzes Haar und graue Augen... das hätte genauso gut Schneewittchen sein können oder irgendeine andere farblose Märchenprinzessin. Aber jetzt stand mir die Frau, die man den Undómiel, den Abendstern ihres Volkes nannte, leibhaftig gegenüber, und sie nahm mir den Atem.
Weiße Haut, wahrhaftig, aber nicht ohne Farbe sie war wie Alabaster, durchscheinend und von innen erleuchtet. Ihre Augen waren so grau wie der Ozean nach einem Sturm, freundlich und vielleicht ein wenig neugierig, aber voller Tiefe von ertragenem und überwundenem Leid, und strahlend von Leben und neuer Freude. Und das schwarze Haar war ein mitternächtlicher Mantel, der ihr in seidenen Wellen über die Schultern und den Rücken fiel.
Ihr Gewand war lang und weit und scheinbar aus vielen dünnen Seidenschleiern von der Farbe von blassestem Mondlicht bis zu dunkelstem Anthrazit gemacht . Ihre Arme und Hände waren entblößt und ohne jedes Geschmeide; ihr einziger Schmuck war eine Perle wie ein Tränentropfen an einem zarten Silberfaden auf ihrer hohen Stirn. Ihre Lieblichkeit war so überwältigend, dass das prunkvollste Kleid und die kostbarsten Juwelen ihrer Schönheit nichts hinzufügen konnten; nichts konnte schöner sein als die Vollkommenheit. Neben ihr fühlte ich mich hoffnungslos übertrieben herausgeputzt.
Herzlich willkommen in Gondor. sagte sie mit einer warmen, musikalischen Stimme, die jedes Wort so klingen ließ, als sei es Teil eines Liedes. Obwohl Ihr, wenn ich es recht bedenke, schon länger hier seid als ich. Und dann lachte sie, und ich verlor einen wenig von meiner ehrfürchtigen Scheu und schaffte es endlich, mich angemessen zu verneigen.
Sie dirigierte mich zu einem kleinen Tischchen mit Einlegearbeiten in Emaille und Gold, das am Fenster stand. Er war mit kleinen Tellern und kostbaren Kristallgläsern gedeckt, und auf einem Tablett stand eine üppig gefüllte Obstschale und eine Platte mit feinem Gebäck. Der Ringträger hat mir erzählt, Ihr esst nicht genug.
Sie setzte sich und bedeutete mir, das selbe zu tun. Als ich mich in dem dick gepolsterten Stuhl zurücklehnte, stach eine der Haarnadeln schmerzhaft in meine Kopfhaut, und ich zuckte heftig zusammen.
Habt Ihr Schmerzen? Die Königin runzelte die Stirn. Man hat mir gesagt, Ihr habt während der Schlacht vor Minas Tirith eine Verletzung davongetragen.
Nein, Majestät, die ist längst verheilt. erwiderte ich. Um die Wahrheit zu sagen, eine freundliche Seele hat mir die Haare hochgesteckt, um mich bei Hofe präsentabel zu machen, und diese Nadeln bringen mich um.
Ich schlug mir die Hand vor den Mund sagte man so etwas zu einer Königin? Was würde sie nur von mir denken!
Aber Arwen lachte fröhlich und schüttelte den Kopf, so dass ihr dunkles Haar flog.
Nehmt sie heraus, liebes Kind! sagte sie. Und dann trinkt Ihr ein Glas Wein und esst eines von diesen Mandeltörtchen, damit ich Frodo morgen sagen kann, dass es Euch geschmeckt hat.
Ich pflückte eine Nadel nach der anderen aus der komplizierten Hochsteckfrisur und erinnerte mich an das Picknick mit Frodo im Garten der Häuser der Heilung. Ich rief mir sein ruhiges Gesicht in Erinnerung, das seine Ängste und seinen Schmerz so geschickt hinter einer Maske der Gelassenheit verbarg, und seine leise Stimme, die davon erzählte, wie er sein eigenes Zuhause nicht mehr wiederfand.
Wir haben zusammen gegessen und uns gegenseitig unsere Träume erzählt... sagte ich versonnen, goss mir aus dem Krug ein, der in einer Schale auf einem Bett aus klein gehackten Eisbrocken stand und griff gehorsam nach einem der Törtchen. Er sehnte sich danach, heimzugehen, und ich hatte Angst davor.
Tatsächlich?
Die Königin beugte sich vor.
Aragorn sagte mir, dass Ihr aus der selben Welt stammt wie der Pengolodh. Ich kannte ihn; eine Zeitlang kam er regelmäßig nach Bruchtal und verbrachte ganze Tage in der Bibliothek meines Vaters. Sie lächelte. Er wusste, dass es mein Vater nicht mochte, wenn er das Pfeifenkraut der Hobbits zwischen den Schriftrollen und Büchern rauchte, also ging er abends immer hinaus auf eine der Terrassen. Ich erinnere mich, wie er auf und abwanderte, eine blaue, würzig duftende Wolke um den Kopf, und das Rauschen der Wasserfälle mischte sich mit seiner Stimme, die irgendetwas auf Quenya oder Sindarin zitierte.
Er kannte Bilbo, nicht?
Oh ja und schon, bevor der nach Bruchtal kam. Er hat ihn oft im Auenland besucht. Aber seit mindestens zehn Jahren habe ich ihn nicht mehr gesehen.
Er wird herkommen. sagte ich. In ein paar Wochen oder Monaten vielleicht, aber kommen wird er. Er hat die ganze Geschichte des Ringkrieges aufgeschrieben, und in meiner Welt haben viele Tausende von Menschen sie gelesen. Und er wird jemanden brauchen, der sie ihm erzählt.
Mittlerweile war ich auch die letzte Haarnadel losgeworden, ließ die Haare mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung über meine Schultern hinunterfallen und nahm einen Schluck Wein. Dieser war süßer und fruchtiger als der letzte, den ich gemeinsam mit Frodo gekostet hatte; er hatte eine tiefgoldene Farbe und ein reiches, fülliges Aroma, wie ein schwerer Muskateller.
Wisst Ihr, ich zerbreche mir den Kopf, warum ich hierher gekommen bin. Ich sah die Königin an und seufzte. Der Pengolodh reist durch diese Welt, er betritt und verlässt sie so mühelos wie ein Kind im Spiel. Vielleicht ist er so etwas wie der Chronist von Mittelerde. Aber ich...?
Ihr habt in den Häusern der Heilung gedient und Euch großen Respekt erworben. Und nach dem, was Gandalf gesagt hat, habt Ihr ihn mehrmals aufgerichtet, wenn er den Mut verlor. Die Königin betrachtete mich aufmerksam. Meint Ihr nicht, dies ist auch ein Verdienst?
Ich weiß nicht. Ich nippte an meinem Wein und wich ihrem Blick aus. Ich habe auch gewusst, dass der alte Truchsess versuchen würde, sich und seinen Sohn zu verbrennen, aber ich habe nichts unternommen. Und der Ringträger...
Ich brach ab. Arwen beugte sich vor, die Augen scharf, das Gesicht angespannt. In diesem Moment hatte ich eine ziemlich deutliche Vorstellung davon, wie ihr Vater aussah.
Was ist mit dem Ringträger?
Ich holte tief Luft.
Es war ein guter Einfall, ihm Euren Juwel zu geben. So hat er wenigstens diesen Ausweg, wenn er seine Erinnerungen nicht mehr erträgt. sagte ich leise, und dann versagte mir die Stimme und ich brach zu meiner eigenen Überraschung in Tränen aus.
Kind... Kind... Das graue Gewand rauschte und plötzlich stand die Frau des Hohen Königs von Gondor neben meinem Sessel. Eine kühle, weiche Hand legte sich auf meine Wange, die andere streichelte mein Haar, ihre Stimme ein beruhigendes, wortloses Murmeln in meinen Ohren.
Es tut mir leid... Ich versuchte erfolglos, die Tränenflut einzudämmen. Ihr müsst verstehen, ich kannte Frodo Beutlin nur aus einem Buch, und selbst als Figur aus einer Geschichte war er mir unendlich teuer. Aber jetzt habe ich ihn mit eigenen Augen gesehen, und... Ich vergrub mein Gesicht in dem seidenen Tuch, das mir in die Hand gedrückt wurde.
Frodos Schicksal liegt nicht in Eurer Hand. sagte Arwen ruhig. Ihr seid nicht für seinen Seelenfrieden zuständig.
Das ist nicht das einzige, was mich bekümmert. Ich wischte mir die Augen. Es gibt einen Mann in meinem Leben, und er ist aus dieser Welt, nicht aus meiner. Ich habe ihm die Wahrheit gesagt, und für eine Weile war er sehr, sehr zornig auf mich. Aber er ist zurückgekommen, und ich liebe ihn, und er hat mir einen Ring gegeben und ist verrückt genug, mich zur Frau nehmen zu wollen, dabei weiß ich nicht einmal, ob ich hierbleiben kann... Ich presste die Hand auf meinen Mund und schüttelte hilflos den Kopf.
Ist das der Ring, den ich die ganze Zeit an Eurer Hand sehe? Die Stimme der Königin war sanft. Darf ich ihn einmal näher anschauen?
Ich zog ihn vom Finger und legte ihn in ihre Hand. Sie drehte ihn behutsam hin und her. Der Stein leuchtete grün und tief auf ihrer Haut, und das Metall der Fassung und der Schiene strahlte wie weißes Feuer.
Das ist herrliche Schmiedearbeit, sagte sie, und ein wunderbarer Stein. Sehr Ihr, hier oben ist er ganz glatt geschliffen, aber die Unterseite ist mit kleinen, sternförmigen Facetten übersät. Deswegen bricht sich das Licht darin wie Sonnenstrahlen in einem Teich. Wisst Ihr, woher der Ring stammt?
Mir wurde gesagt, es sei Zwergenarbeit. erwiderte ich.
Das erklärt das Material. sagte sie und nickte. Hat den Ring vor Euch schon jemand getragen?
Ja. Seine Mutter und seine Großmutter.
Das heißt, er muss an die hundert Jahre alt sein. Seht Ihr, dass der Ring nirgendwo Kratzer oder Gebrauchsspuren hat? Die Königin fuhr mit einem schlanken, weißen Finger an der Schiene entlang. Das wäre kaum möglich, wenn es Silber wäre. Das ist ein Ring aus Mithril, mein Kind.
Meine Augen weiteten sich, und Arwen lächelte mich warm an, während sie meine Hand nahm und den Ring behutsam wieder an meinen Finger steckte.
Wenn ein Mann Euch ein solches Schmuckstück schenkt, dann muss er Eurer und seiner selbst sehr sicher sein. Ihr habt so viel Liebe gegeben und empfangen, seit Ihr hier seid, und unendlich viel Mut bewiesen, Noerwen. Ihr solltet ihn jetzt nicht sinken lassen.
Ihr Lächeln vertiefte sich.
Und wo Ihr in Zukunft auch leben werdet in Ithilien, hier in Minas Tirith oder in Eurer eigenen Welt Ihr werdet an diesem Hof immer willkommen sein.
Als ich gegen Abend in die Häuser der Heilung zurückkehrte, wartete Ioreth auf mich. In meinem Zimmer half sie mir, das enge Mieder des grünen Kleides zu öffnen und hängte das Prachtstück auf einen Bügel, während ich erleichtert in meine dünne Kutte schlüpfte und mir das Gesicht wusch.
Nach einer Weile hörte sie auf, mich mit Fragen über die Audienz zu bombardieren, drückte mich auf den Stuhl und fing an, mir langsam die Haare zu bürsten.
Ioreth?
Ja, Liebes?
Möchtet Ihr Euch nicht langsam mit Mardil versöhnen?
Die Hand mit der Bürste hielt inne.
Wieso sollte ich das? Ihre Stimme klang angespannt.
Weil Ihr ihn einmal geliebt habt... genauso, wie er Euch geliebt hat. Ich drehte mich zu ihr um und schaute in das freundliche Gesicht mit den dunklen Vogelaugen, das mir so vertraut geworden war.
Es macht mich traurig, mit anzusehen, wie Ihr mit ihm umgeht. Mardil ist ein wunderbarer, weiser Mann, und er ist wie ein Großvater für mich. Was macht es, dass er manchmal etwas vergisst? Ihr beide solltet das Alter miteinander genießen... statt dessen läuft er ständig vor Eurer spitzen Zunge davon.
Kind, die Sache mit mir und Mardil ist über vierzig Jahre her... murmelte sie abwehrend.
Genau. Ich nahm ihr die Bürste aus der Hand. Und die Kränkungen, die er Euch in seiner Zerstreutheit unabsichtlich zugefügt hat, sind es auch. Deshalb wird es Zeit, ihm zu vergeben.
Ich umarmte sie und roch den Duft konzentrierter Kräuter und frisch gebügelten Leinens, der sie umgab, und den ich für immer mir ihr und den Häusern der Heilung verbinden würde.
Ich möchte, dass meine liebsten Freunde sich vertragen. flüsterte ich ihr ins Ohr und küsste sie auf die Wange.
In der Nacht zuvor hatte ich wenig geschlafen und der Tag war anstrengend genug gewesen; während des Abendessens im Refektorium fielen mir ein paar Mal die Augen zu. Deshalb ging ich zu Bett, noch bevor es richtig dunkel geworden war, und ich glitt langsam in einen Traum hinein.
Ich wanderte über eine Sommerwiese; das Gras streifte meine bloßen Füße und über meinem Kopf wiegten sich die dicht belaubten Zweige von Eichen und Buchen. Sonnenlicht und der bewegte Schatten der Bäume tauchten die Landschaft in ein grüngoldenes Licht; plötzlich öffnete sich das Gehölz zu einer weiten Lichtung, die an ihrem entfernten Ende von Weiden begrenzt wurde; ich konnte dahinter das satte Rauschen eines breiten Flusses hören.
Auf der linken Seite der Lichtung stand ein Haus; der untere Teil war aus grauem Naturstein gebaut, das niedrige Obergeschoss mit den tief heruntergezogenen Gauben war aus Eichenholz gezimmert, das mit der Zeit eine warme, dunkle Patina angenommen hatte. Die Sonne, die warm durch die Bäume schien, ließ die schmalen Schindeln auf dem Dach silbrig aufschimmern.
Ich wusste, wessen Haus das war, und ich wusste, er wartete dort auf mich. Gleich würde ich ihn wiedersehen.
Damrod?
Ich beschleunigte meinen Schritt und kam dem Haus immer näher, aber plötzlich verdunkelte sich das warme Tageslicht erst zu einem trüben Grau, und dann übergangslos zu tiefem Schwarz. Ich stolperte, zögerte und blieb stehen.
Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis. Mein Blick wanderte aufwärts und sah vertraute Tengwar-Beschläge und silbrig schimmerndes, massives Metall. Ich stand zum zweiten Mal vor dem Tor... und wieder auf der falschen Seite.
Ich öffnete die Augen.
Das Zimmer war dunkel und still. Ich konnte meinen schweren Atem hören und meinen jagenden Herzschlag fühlen, der nur zögernd ruhiger wurde. Ich stand auf, trat and Fenster und stieß die Flügel auf. Kühle Luft strömte herein, und der Himmel zeigte den zarten, rosigen Widerschein des nahenden Sonnenaufgangs.
Ich hatte fast acht Stunden geschlafen, bevor mich der Traum hochschrecken ließ; jetzt war ich hellwach. Nach kurzem Zögern zog ich die Kutte über mein Nachthemd, legte ein Schultertuch um, das mir Ioreth vor zwei Tagen geliehen und noch nicht wieder abgeholt hatte, und ging hinaus ins Freie.
Die Kräutergärten lagen still im Zwielicht; während ich auf bloßen Füßen über die Raseneinfassungen der Beete zur Mauer hinüberging, verstärkte sich das Leuchten und der Himmel wurde heller.
Ich erreichte meinen Lieblingsplatz an der Mauer und setzte mich unter der hohen Kastanie ins Gras. Irgendwo krähte ein Hahn; seine Stimme klang wie eine schrille Fanfare, die den Tag herbeirief. In wenigen Stunden würde die große Gesellschaft aufbrechen... Théoden auf dem Weg zu seiner letzten Ruhestätte, Faramir und Èowyn, die in Edoras ihr Verlöbnis bekannt geben würden, Aragorn und seine schöne Königin, und die vier Hobbits.
Ich lehnte meinen Kopf an den Baumstamm; mir fiel ein, dass ich noch immer nicht Sam kennen gelernt hatte, ebenso wenig wie Galadriel und Celeborn, und auch nicht Legolas und Gimli. Wahrscheinlich würden viele Bürger der Stadt ihren König verabschieden wollen, warum also nicht ich? Ich würde mich waschen und anständig anziehen das grüne Kleid hing ja noch an der Tür meines Zimmers und dann würde ich hinuntergehen, um Lebewohl zu sagen. Ich dachte an Merry und seinen mutmachenden Humor, an Pippin, der neben seinem Vetter in den letzten Wochen seine Fröhlichkeit wiedergefunden hatte, und an Frodos stilles, bedrücktes Gesicht...
Ich sehne mich nach altvertrauten Wegen, nach dem Geruch der Bücher in meinem Studierzimmer und dem Klappern der Schere von Sam Gamdschie in meinem Garten.
Aber ich nicht, dachte ich. Ich habe keine Sehnsucht nach zu Hause, wenigstens nicht nach dem Ort, an dem ich geboren wurde. Ich möchte das Haus am Fluss finden und den Mann, von dem ich weiß, dass er dort ist und alles für meine Ankunft vorbereitet. Ich möchte bei Damrod sein.
Allmählich drang die Feuchtigkeit des Taus bis auf meine Haut. Ich stand auf, bürstete mir Rindenstückchen und Grashalme von der Kutte und machte mich auf den Rückweg ins Haus. Vielleicht konnte ich genügend warmes Wasser für ein Bad auftreiben.
Plötzlich schien die Erde zu wanken und schleuderte mich zu Boden. Ich spürte, wie sich der Kies des Weges schmerzhaft in meine Handfläche und Knie bohrte. Der Garten rings um mich her verschwand hinter dichtem, lautlosen Weiß und ich hob den Kopf, verwirrt und erschrocken. Was geschah mit mir?
Und dann wusste ich es und hörte mich wie von weit her aufschreien. Oh nein. Das durfte nicht sein, nicht jetzt. Nicht ausgerechnet jetzt.
Krampfhaft krallte ich die Hände in den Boden und versuchte, mich an meine Welt zu klammern, aber ich hatte keine Kontrolle mehr. Ich wurde herumgeworfen wie ein Stock in einer Stromschnelle, geradewegs aus der zerbrechlichen Hülle meines Körpers und hinein in ein blindes Nichts. Aber selbst dort durfte ich nicht bleiben, obwohl ich mit der ganzen Verzweiflung meines letzten bewussten Gedankens danach verlangte. Vergessen schlug über mir zusammen, und ein Name hallte in meinem Geist wider und in dem Abgrund, in den ich gestürzt war.
Damrod. Oh mein Gott, Damrod.
Ich kann kaum etwas sehen. Dicker Nebel wirbelt vor meinen Augen und meine Ohren dröhnen. Ich merke, dass meine Füße mich mit stolpernden, unsicheren Schritten vorwärts tragen, aber ich weiß nicht, wohin. Meine Knie sind weich und ich taste mit ausgestreckten Armen verzweifelt nach Halt. Endlich bleibe ich stehen, keuchend und zitternd vor Angst.
Ich friere entsetzlich. Ein schneidender Wind fährt unter meinen Pullover; es fühlt sich an, als würde mir jemand einen Schwall Eiswasser über Brust und Rücken gießen.
Es ist stockfinster, und es ist kalt. So kalt.
*Die eigentliche Evakuierung von Ithilien fand schon 50 Jahre früher statt (HdR, Anhang B, Zeittafel der Westlande, Zitat: 2954: ... die letzten Bewohner Ithiliens flüchten über den Anduin). Ich habe mir für die Erzählung von Damrods unglücklicher Liebe die Freiheit genommen, diese Flucht 50 Jahre weiter nach hinten zu verlegen, in das Jahr 3004.
**Das kursive Zitat mit der Beschreibung der Brosche (oder Spange) stammt aus Die Gefährten (2. Buch, 8. Kapitel: Abschied von Lòrien). Galadriel übergibt den Elbenstein als eine Art vorgezogener Hochzeitsgabe an Aragorn.
|