Winterfeuer
von Cúthalion
Kapitel 11
Hell wie ein Stern
Ich stand auf einem wogenden, grünen Feld, und über mir wölbte sich ein endloser Himmel, klar und wolkenlos. Auf der weiten Ebene waren Bauernhöfe verstreut. Etwa einen halben Kilometer vor mir erstreckte sich eine bemannte Mauer mit zahlreichen, hohen Toren, und weiter dahinter lag eine Stadt, die schneeweiß in der Sonne strahlte.
Das mussten die Pelennor-Felder sein. Aber von den Narben des Krieges war nichts mehr zu erkennen. So weit mein Blick reichte, wuchsen Obstgärten mit reifen Früchten, und wo keine Obstgärten angelegt worden waren, erstreckten sich wogende, ernteschwere Weizenfelder.
Natürlich. Die Schlachten waren geschlagen, es war Frieden, und König Elessar herrschte über Gondor. Vor mir lag die Straße, die über den Rammas Echor nach Minas Tirith führte. Es konnte kein weiter Weg sein, und ein angenehmer war es noch dazu. Ich ging langsam auf die Stadt zu, und genoß das süße Aroma reifer Äpfel, mit dem die Luft geschwängert war.
Dann, ganz plötzlich, senkte sich weißer Nebel über die Landschaft - so dicht, dass ich von einer Sekunde zur anderen kaum noch meine Füße auf der sauber gepflasterten Straße sehen konnte. Ich tastete mich blind vorwärts, und plötzlich hatte ich losen Kies unter den Sohlen. Der Nebel löste sich in einzelne Schwaden auf und ich merkte, dass der Tag zu Nacht geworden war. Vor mir lag ein Teich, in dessen Oberfläche sich weiße und gelbe Lichter spiegelten.
Oh nein. Nein.
Ich wandte mich um und rannte instinktiv zurück, aber hinter mir war nun nicht mehr der Park, und auch nicht der in der Spätsommersonne gebadete Pelennor. Vor mir erhob sich nicht mehr der Rammas Echor, sondern eine neue Mauer, schwarz und fugenlos, und inmitten dieser Mauer ein gewaltiges, eisernes Tor. Silbriges Licht strahlte von dem Metall aus und beleuchtete komplizierte Eisenbeschläge, die aussahen, als seien sie aus fein geschmiedeten Elbenrunen zusammen gesetzt. Ich prallte mit voller Wucht gegen das Tor, taumelte ein paar Schritte zurück und stand still, keuchend vor Entsetzen.
Nein. Bitte.
Ich warf mich erneut gegen das Tor, ich schlug mit flachen Händen und geballten Fäusten dagegen und schrie.
Nein! Tut mir das nicht an... bitte!
Damrod war jenseits der Mauer. Die Gewissheit war wie ein brutaler Schlag ins Gesicht.
Nein, bitte! Lasst mich hinein! Oh... bitte!
Aber das Tor öffnete sich nicht. Und es kam keine Antwort.
Noerwen?
Ich saß aufrecht und schweißüberströmt im Bett, nur halb wach; das Zittern, das meinen Körper durchschüttelte, war so heftig, dass ich spürte, wie der Holzrahmen unter mir vibrierte.
Noerwen?
Allmählich begriff ich. Ich befand mich in meinem Zimmer in den Häusern der Heilung. Ich war immer noch in Minas Tirith und damit auch in Mittelerde.
Und den Valar sei Dank, auch Damrod war noch da.
Mit einem tiefen, schaudernden Atemzug, der mehr als nur ein halbes Schluchzen war, ließ ich mich nach hinten in seine Umarmung sinken. Ich spürte ihn Haut an Haut, und instinktiv drehte ich mich um, klammerte mich an ihn und vergrub mein Gesicht an seiner Brust.
Liebes, was ist denn?
Allmählich ließ das Zittern nach und ich lag still.
Ich habe nur geträumt. sagte ich leise.
Wovon? Damrod zögerte, die dunkle Stimme, deren Klang ich so sehr liebte, war ein wenig heiser vom tiefen Schlaf, aus dem ich ihn gerissen hatte. Von dem Überfall vor dem Tor?
In den vielen vergangenen Nächten war die Erinnerung an meinen Angreifer mehrfach zu mir zurückgekehrt, aber ich war nicht allein gewesen; ich hatte mich immer in Damrods Armen wiedergefunden. Und sein Körper war ein wunderbar tröstliches Heilmittel und hatte die brutalen Bilder jedes Mal vertrieben.
Ich schüttelte nur den Kopf. Diesen Traum konnte ich ihm nicht erzählen; er hätte zu viele Fragen nach sich gezogen, auf die es keine Antworten gab.
Hab keine Angst. Er seufzte leise und streckte sich unter der leichten Wolldecke. Ich bin ja hier.
Ich weiß. Ich weiß, mein Liebster.
Für wie lange noch?
Ein paar Minuten später glitt er wieder in den Schlaf hinüber; ich konnte seinen ruhigen, tiefen Atem hören und spürte seine Arme, die mich hielten. Ich lag still, ängstlich bemüht, ihn nicht noch einmal zu wecken, lauschte auf den langsamen, stetigen Herzschlag dicht an meinem Ohr und starrte mit weit geöffneten Augen in die Dunkelheit.
Nach dem Frühstück musste Damrod fort; er hatte den ganzen Vormittag mit den Waldläufern von Ithilien zu tun. Als ich ihn gehen sah, wurde mir plötzlich klar, dass er bald nach Hause zurückkehren würde. Ich starrte hinter ihm her, während er die Straße hinunterging; ich sah die geschmeidige Art, wie er sich bewegte, wie er den Rücken hielt und den Kopf. Sein Körper war mir schmerzhaft vertraut so, als würde ich ihn seit Jahren kennen. Und doch war es so, als sähe ich ihn heute zum ersten Mal.
Es waren Wochen ins Land gegangen, seit er an diesem unvergesslichen Abend plötzlich in der Tür des Kräuterlagers gestanden hatte. Der Frühling war dem Sommer gewichen, der Mittjahrstag war vorübergegangen und hatte die Hochzeit des Königs gesehen; die steinerne Pracht der Stadt schmückte sich mit einer Überfülle an Blüten in allen Farben des Regenbogens. Mein Arm war fast geheilt, und seit ein paar Tagen konnte ich wieder in den Häusern der Heilung arbeiten. Damrod diente, solange er noch in Minas Tirith blieb, in Faramirs Garde, die den jungen Truchsess begleitete und auf Patrouillen ritt. Jeden Abend kam er zurück in den sechsten Ring, und ich stand am Eingang der Häuser und sah ihn durch die Gärten auf mich zukommen. Und immer noch stockte mir jedes Mal der Atem.
Noerwen?
Ich wandte überrascht den Kopf und stellte fest, dass Gandalf neben mir stand. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören.
Herr! Ich verbeugte mich und strahlte ihn an. Ich habe Euch kaum gesehen in den letzten Wochen Ihr wart wohl sehr beschäftigt?
Gewissermaßen. Ein schwaches Lächeln spielte um seinen Mund. Ich hatte viel zu tun, und ich hatte etwas mit König Elessar zu erledigen.
Ich konnte der Versuchung einfach nicht widerstehen.
Ihr habt nicht zufällig den Schössling des Weißen Baumes gefunden?
Gandalf räusperte sich. Ganz zufällig. sagte er. In der Tat. Er warf mir einen scharfen Seitenblick zu. Ich glaube, wir müssen uns unterhalten.
Jetzt?
Deswegen bin ich gekommen. Ich möchte, dass Ihr mich in mein Haus begleitet. Die Hobbits sind heute allesamt unterwegs, und wir sind ungestört.
Ich folgte ihm ohne Widerrede. Der alte Zauberer legte ein erstaunliches Tempo vor, und als wir das Haus, das er sich mit den Hobbits teilte, endlich erreicht hatten, war ich außer Atem. Gandalf öffnete die Tür und ließ mich eintreten. Ich stand in einem mit Steinplatten belegten Flur; links an der weiß gekalkten Wand hatte man niedrige Garderobenhaken angebracht; im Augenblick waren sie leer. Gandalf ging mir voraus in eine große Küche. Breite Fenster mit weit geöffneten Läden ließen das morgendliche Sonnenlicht herein. Die Feuerstelle war kalt und ordentlich ausgeräumt; auf dem Rost stand ein Teekessel. Mitten im Raum befand sich ein riesiger, sauber geschrubbter Tisch aus hellem Holz, umgeben von einem halben Dutzend Hocker. Mitten auf dem Tisch stand eine braune Tonschüssel voller Juniäpfel.
Setzt Euch, Noerwen.
Ich ließ mich auf einem der niedrigen Hocker nieder; er setzte sich mir gegenüber hin, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und sah mich an. Wie schon einmal, als er mich zum allerersten Mal gesehen hatte, durchforschten die dunklen Augen mein Herz und meine Seele und wieder wusste ich, dass es nutzlos gewesen wäre, mich zu wehren. Irgendwann zog er sich zurück und löste den Augenkontakt; er saß eine ganze Weile schweigend und mit gesenktem Kopf. Draußen rollte ein Fuhrwerk vorüber und der schrille, süße Gesang einer aufgeschreckten Amsel drang gemeinsam mit dem hölzernen Rattern der Räder zum Fenster herein.
Dann schaute er auf.
Ihr spielt ein gefährliches Spiel, Kind. sagte er. Das wisst Ihr doch, oder?
Ich spürte, wie sich mein Körper anspannte.
Was meint Ihr damit?
Gandalf seufzte.
Ihr seid erstaunlich, Noerwen.murmelte er. Ihr habt Euch unserer Welt so sehr angepasst, als wärt Ihr hier geboren. Ihr macht es den Menschen leicht, zu vergessen, das Ihr keine Vergangenheit habt, und dass eigentlich niemand weiß, woher Ihr wirklich stammt. Und in der schrecklichen Zeit, die jetzt hoffentlich hinter uns liegt, habt Ihr euch mehr als verdient gemacht. Ich habe mit Oroher gesprochen, mit Ioreth und den anderen Heilern... in den Häusern gibt es kaum jemanden, der nicht große Hochachtung für Euch empfindet.
Vielen Dank. sagte ich mit einem schwachen Lächeln. Aber Ihr habt mich sicherlich nicht hierher geschleppt, um mein Loblied zu singen.
Nein. erwiderte er. Ich habe Euch hierher geholt, um Euch zu warnen.
Wovor?
Vor Eurem eigenen Herzen vielleicht. Der Zauberer stand auf und fing an, langsam durch den Raum zu gehen. Was Ihr tun konntet, um hier von Nutzen zu sein, habt Ihr getan. Ihr habt auch mir geholfen, mehr als einmal. Aber welche Verdienste Ihr euch auch erworben haben mögt, was Ihr jetzt tut, ist gefährlich.
Ihr sprecht in Rätseln. Ich starrte auf meine Hände herunter, die sich auf dem Tisch langsam zu Fäusten ballten. Ich wusste mit qualvoller Sicherheit, was er als nächstes sagen würde.
Ich spreche natürlich von Damrod, und das wisst Ihr. Gandalfs Stimme war leise, aber durchdringend. Ihr dürft Euch hier nicht binden, an niemanden. Niemand kann Euch garantieren, dass Ihr bleiben dürft. Ich habe in den letzten Wochen alte Schriften studiert und versucht, herauszufinden, ob es Fälle wie Euch in der Geschichte von Mittelerde schon gegeben hat. Ich habe nichts gefunden nur Euch, und den Pengolodh, natürlich.
Er blieb vor mir stehen, und dann umschloss eine starke, alte Hand mein Kinn und hob meinen Kopf an, so dass ich gezwungen war, ihn anzusehen. Ich starrte blind und verzweifelt zu ihm auf; in seinen Augen las ich tiefes Mitgefühl, aber auch die nackte Wahrheit, erbarmungslos und tödlich wie ein scharf geschliffenes Schwert.
Ihr werdet wieder gehen müssen, eines Tages. sagte er. Das kann morgen sein, nächste Woche oder vielleicht auch erst in einem Jahr. Wollt Ihr dann einen Mann zurücklassen, der seine Frau verliert, ohne zu wissen, warum? Und vielleicht nicht nur einen Mann, sondern auch Kinder? Ich weiß, dass der Pengolodh eine Familie hat... vielleicht ist das der Grund, warum er so mühelos zwischen den Welten hin- und herwechselt. Er ist in seiner Welt verwurzelt, und er weiß, wohin er gehört. Ihr aber...
Er hockte sich vor mir nieder, und ich hörte das leise Knacken seiner protestierenden Gelenke.
... Ihr bringt Euch in Gefahr, und nicht nur Euch allein. Ihr habt nur eine Möglichkeit. Beendet es, so lange ihr noch könnt, und so schmerzlos, wie es geht.
Schmerzlos? Ich starrte ihn an, erfüllt von einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit. Glaubt Ihr wirklich, ich kann ihm das antun? Glaubt Ihr wirklich, das wird schmerzlos?
Nein, natürlich nicht. sagte Gandalf ruhig. Aber je länger Ihr wartet, um der Sache ein Ende zu machen, desto schmerzhafter wird es, für Euch beide. Eure wahre Heimat ist nicht hier. Wenn Ihr diese Tatsache weiter missachtet, reißt Ihr euch über kurz oder lang selbst in Stücke.
Ich kann das nicht. flüsterte ich. Ich liebe ihn so sehr.
Meine Hände zitterten, und er nahm sie und hielt sie für einen Moment fest in den seinen.
Mein liebes Kind, sagte er sanft, ich habe Euch Kranke pflegen, furchtbare Wunden nähen und einen unglücklichen Hobbit trösten sehen. Ihr habt einem sterbenden Krieger auf seinem Weg zu seinen Vätern die Hand gehalten. Woran es Euch auch mangeln mag, es ist sicherlich nicht der Mut, das Richtige zu tun.
Ich spürte, wie er mir zart über das Haar strich, eine flüchtige, liebevolle Berührung, die mir die Tränen in die Augen trieb.
Ich weiß, dass Ihr ihn liebt. fuhr er fort. Und um dieser Liebe willen solltet Ihr ihn fortschicken, so schnell es geht. Das ist das Barmherzigste, das ihr für ihn tun könnt.
Er stand auf und ging leise hinaus. Ich blieb, wo ich war und starrte blicklos auf die Holzmaserung der Tischplatte.
Damrod kam am frühen Nachmittag zurück. Ich hatte vorgehabt, im Kräutergarten auf ihn zu warten, wie ich das auch sonst immer tat, aber ich stellte fest, dass ich wie ein unruhiges Raubtier im Käfig hin- und herstrich, während ich nach ihm Ausschau hielt. Also flüchtete ich mich in Mardils Vorratslager, mein Refugium, und trug die neuen Lieferungen in meine Listen ein. Eine halbe Stunde später hatte er mich gefunden.
Immer wenn ich an dich denke, habe ich den Geruch von Kräutern in der Nase. meinte er lächelnd. Er griff in das Schälchen mit getrockneten Lavendelblüten, das vor mir auf dem Tisch stand und zerrieb ein paar davon zwischen seinen Fingern, bevor er eine Hand auf meine Wange legte. Ich seufzte, drehte den Kopf und küsste die aromatisch duftende Handfläche.
Immer wenn ich an dich denke... Ich sah ihm ins Gesicht, und was immer ich auch hatte erwidern wollen, die Worte blieben mir in der Kehle stecken. Herrin der Sterne, wie sehr ich diesen Mann liebte. Und wie sehr würde ich ihm gleich wehtun müssen!
Schau mich nicht so an, mein Herz. sagte er plötzlich sehr leise. Sonst vergesse ich noch, dass ich dich eigentlich zum Essen abholen wollte und entführe dich ganz woandershin. Er lachte ein wenig atemlos und ich legte kurz meine Hand über seine, bevor ich zurückwich und das Buch zuklappte.
Ich möchte mit dir reden, Damrod. Ich stand auf. Es wird Zeit, dir etwas zu erzählen.
Mein Gesichtsausdruck musste ihm verraten haben, dass es sich um etwas Ernstes handelte.
Hier? fragte er. Ich schüttelte den Kopf.
Nein, draußen in den Gärten. Ich brauche frische Luft dafür.
Wir gingen hinaus, und auf dem Weg die Treppe hinauf und durch den Gang spürte ich , dass er mich prüfend musterte. Aber er sagte nichts. Dann traten wir ins Freie und gingen über die frisch geharkten Wege bis zur Mauer. Ich lehnte mich mit dem Rücken dagegen und sah ihn an. Mein Herz schlug langsam und schwer. Ich hatte Angst, große Angst sogar. Aber ich musste es hinter mich bringen, und ich betete im Stillen, dass Gandalf recht hatte, was meinen Mut anbetraf.
Bevor ich anfange, musst du mir etwas versprechen. sagte ich.
Was?
Dass du mir zuhörst und versuchst, mir zu glauben, auch wenn es dir schwer fällt. Dass du mich nicht unterbrichst. Und... Ich schluckte mühsam. ... dass du nicht gehst, bevor ich fertig bin.
Ist es so schlimm? Das schwache Lächeln, das kurz in seinen Augen aufgeblitzt war, erlosch wieder und er runzelte mit zunehmender Besorgnis die Stirn. Er machte einen Schritt auf mich zu, und ich wusste, dass er mich in die Arme nehmen wollte, aber ich versteifte mich und schüttelte den Kopf.
Schlimm genug. sagte ich. Hilf mir, es loszuwerden, indem du mir zuhörst. Bitte. Danach darfst du mich alles fragen, was du willst. Tust du das für mich?
Sicher. Er betrachtete mich aufmerksam.
Erinnerst du dich an den Tag, als Ihr mich gefunden habt, deine Kameraden und Herr Faramir?
Er nickte.
Also... ich hatte mein Gedächtnis nicht verloren. Das war ebenso falsch wie meine armselige Maskerade als Junge. Ich wusste genau, wer ich bin. Und ich wusste auch, wo ich herkam. Ich hatte nur keine Ahnung wo ich war...
Ich weiß nicht, wie lange ich sprach. Am Anfang lehnte ich noch an der Mauer, dann ging ich langsam hin und her. Als ich anfing, das erste nächtliche Gespräch mit Gandalf zu schildern, lehnte sich Damrod an eine blühende Kastanie, die dicht an der Mauer wuchs; ich sah, wie er die Arme verschränkte und wie sein Gesicht langsam jeden Ausdruck verlor. Mir sank das Herz, aber ich sprach weiter, während die Sonne hinter mir immer höher stieg und meinen Rücken wärmte. Und endlich war ich fertig, und ein langes, tiefes Schweigen legte sich über uns.
Endlich sagte er etwas.
Du sagst, Gandalf hat es gewusst? Von Anfang an?
Wenigstens glaubte er mir.
Ja. Meine Stimme war ein wenig heiser; es war Ewigkeiten her, dass ich einen derartig langen Monolog gehalten hatte. Er konnte meine Gedanken lesen. Und er sah, dass ich beim Anblick von Faramirs Erschöpfung an seinen Vater dachte, und er sah meinen Zorn.
Damrod hob den Kopf und warf mir einen scharfen Blick zu.
Wusstest du, dass er wahnsinnig war? Dass er versuchen würde, seinen eigenen Sohn bei lebendigem Leibe zu verbrennen?
Ja. sagte ich tonlos. Und bevor du fragst ich wusste von dem sinnlosen Angriff auf Osgiliath, von der Belagerung, und von der Schlacht vor dem Schwarzen Tor, und ich wusste, dass der Ring des Feindes ins Feuer gehen würde. Ich habe alles vorher gewusst... jedenfalls das meiste. Wie ich dir gesagt habe... es war alles aufgeschrieben.
Ich versuchte, seinem Blick zu begegnen und sah, dass er vermied, mich anzusehen.
Ich hatte solche Angst, etwas falsch zu machen. Ich hatte Angst, Dinge in Bewegung zu setzen, die sich vielleicht nicht mehr rückgängig machen lassen würden. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so sehr gefürchtet.
Ich sah, wie sich seine Wangenmuskeln anspannten.
Komme ich vor in dem Buch dieses Mannes? fragte er leise.
Ja. erwiderte ich. Allerdings nur auf ein paar wenigen Seiten, gemeinsam mit Mablung. Der Pengolodh hat beschrieben, wie ihr in Ithilien den Ringträger und seinen Gefährten bewacht habt.
Plötzlich lachte er. Es klang bitter und zornig.
Dann bin ich also eine Randfigur, die deinem Gelehrten nicht mehr wert war als eine kurze Bemerkung?
Nicht für mich. sagte ich leise.
Er holte tief Atem, und ich sah, wie er die Fäuste ballte.
Der andere Mann, der deinem Geschichtenerzähler so unwichtig war, ist in meinen Armen gestorben. Er war mein Freund. Und jetzt sag mir eines: So plötzlich wie du gekommen bist, könntest du auch wieder verschwinden?
Ich senkte den Kopf.
Das ist wahr. Ich hätte ein Lebensjahr dafür gegeben, wenn er sich mir jetzt genähert und mich berührt hätte. Aber er bewegte sich nicht. Ich habe mich lange geweigert, darüber nachzudenken ich habe mich so sehr daheim gefühlt, so sehr am richtigen Platz. Aber Gandalf hat mir geraten... mir befohlen... mit dir zu sprechen. Er machte mir klar, wie plötzlich ich von deiner Seite gerissen werden könnte.
Er hat es dir befohlen? Sag mir eines: wenn der alte Zauberer nichts gesagt hätte, wie lange hättest du noch gewartet mit diesen Offenbarungen? Jetzt kam er, jetzt spürte ich seine Hände... aber nicht mit der vertrauten Zartheit. Er umschloss meine Oberarme, so fest und unbarmherzig wie ein Schraubstock. Sieh mich an! Wie lange hättest du gewartet?
Ich hob den Kopf und sah ihn an, und wäre sein Griff nicht gewesen, ich wäre zurückgetaumelt. Der eisige, verletzte Zorn in seinen Augen war wie ein Schlag ins Gesicht.
Wie lange? Bis ich dich gebeten hätte, meine Frau zu werden? Bis ich dich heimgeführt hätte nach Ithilien? Bis du mein erstes Kind empfangen hättest? Bis es auf die Welt gekommen wäre? Die Worte trafen mich wie kurze Peitschenhiebe, und ich starrte ihn an, betäubt von Entsetzen und Schmerz. Gandalf hatte mich gewarnt. Und wie recht er gehabt hatte!
Und natürlich hätte ich dich gefragt! Er ließ mich so abrupt los, dass ich schwankte und Mühe hatte, mein Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Ich bin kein Mann für eine Liebelei in Kriegszeiten. Du warst mir mehr als jede andere Frau je zuvor in meinem Leben, und ich wollte, dass du mir gehörst. Und du hast mich ermutigt! Du hast mich geküsst, du hast...
Er sah mir ins Gesicht und in den Zorn in seinen Augen mischte sich so etwas wie Verachtung.
... du hast mich in dein Bett geholt! Was war das... ein Spiel? Macht man das so in deiner Welt?
Nein! Meine Stimme war beinahe ein Aufschrei. Nein, Damrod, nein! Ich liebe dich! Es tut mir so entsetzlich leid... Ich wollte dir nicht wehtun, ich war so glücklich, so froh, dass es dich gab. Ich hatte solche Angst dich zu verlieren!
Nun... Seine Stimme brach, und er räusperte sich. Wärest du von Anfang an bei der Wahrheit geblieben, ich hätte vielleicht noch die Möglichkeit einer Wahl gehabt. Aber du hast geschwiegen und zugelassen, dass ich mein Herz an dich verliere und mich zum Narren mache. Zur Hölle, Noerwen...
Plötzlich trat er einen Schritt vorwärts und packte mich ein zweites Mal. Er drängte mich gegen die Mauer und küsste mich, aber der Kuss war ohne jede Zärtlichkeit, und ich spürte die Wut, den Schmerz und die Verzweiflung in ihm, als er meine Lippen auseinander zwang. Ich bog in jäher Angst den Kopf zurück und versuchte ihn von mir zu schieben, aber sein Körper war unnachgiebig wie Eisen.
Und dann ließ er mich los und wich zurück. Wir starrten einander an, und mein wildes Entsetzen spiegelte sich in seinen Augen wieder. Seine Schulten hoben und senkten sich, und sein Atem ging ebenso keuchend und mühsam wie meiner.
Es wird besser sein, dass ich gehe, Noerwen. sagte er heiser. ich will nichts tun, was ich später bedauern müsste, und ich will dich nicht so verletzen, wie du mich verletzt hast. Ich denke, ich habe auch so schon genug zu bereuen.
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging. Ich sah ihm nach, wie er die Gärten verließ, ohne sich noch einmal umzudrehen, und dann gaben meine Beine nach und ich fiel neben der Mauer auf die Knie.
Ich kann nicht mehr mit Sicherheit sagen, wie lange ich dort im Gras kniete. Ich war wie betäubt. Mir war klar gewesen, dass ich ein großes Risiko einging, wenn ich ihm die Wahrheit sagte. Ich hatte damit gerechnet, dass er mir vielleicht nicht glauben würde, oder dass er zumindest erschrak. Nur eines hatte ich mir nicht vorstellen können dass dieser sanfte, geduldige Mann mich mit einem solchen Zorn und einer solchen Verachtung ansehen würde.
Ich will dich nicht verletzen, wie du mich verletzt hast.
Endlich drehte ich mich um und zog mich an der Mauer hoch, bis ich wieder auf den Füßen stand. Vor mir lag der Pelennor in der Nachmittagssonne; die erste Saat der Bauern nach dem Krieg war bereits aufgegangen und junger Weizen wiegte sich grün im Wind.
Ich habe auch so schon genug zu bereuen.
Ein Schluchzen stieg in meiner Kehle hoch, würgend und schmerzhaft. Er war fortgegangen wie jemand, der nicht die Absicht hatte, jemals wiederzukommen. Meine Schultern krümmten sich und ich umklammerte die Mauer mit beiden Händen. Monatelang hatte ich mich in der trügerischen Sicherheit gewiegt, eine neue Heimat gefunden zu haben, und jetzt hatte mir der Mensch, den ich am meisten liebte, mit einem Schlag den Boden unter den Füßen weggerissen. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich derart verloren gefühlt.
Ist Euch nicht wohl? Kann ich Euch helfen?
Bitte nicht. Nicht jetzt.
Merry. Ich sprach mit unterdrückter Schärfe und ohne mich umzudrehen. Ihr könnt mir nicht helfen... es sei denn, Ihr hättet gerade festgestellt, dass Ihr nicht mehr sicher seid, wo Ihr hingehört, dass der Weg nach Hause Euch so unwahrscheinlich vorkommt wie eine Wanderung zum Mond und dass das Heimweh Euch das Herz zerreißt, während Ihr Euch gleichzeitig davor fürchtet, die Schwelle Eures Hauses zu überschreiten. Und da das sicherlich nicht zutrifft, lasst Ihr mich wohl besser in Ruhe.
Es folgte ein langes Schweigen. Dann:
Ich glaube, ich kann mir ungefähr vorstellen, was Ihr meint.
Ich drehte mich langsam herum.
Es war nicht Merry, der da vor mir stand. Es war ein Hobbit, aber er war kleiner als der Knappe von Rohan, und sein Haar war dunkler. Und älter war er auch, denn die Sonnenstrahlen ließen überall in den dichten Locken silberne Fäden aufleuchten. Sein Gesicht allerdings war weder alt noch jung und die Augen ruhig und aufmerksam; als er merkte, dass ich ihn anschaute, kräuselte ein halbes Lächeln seine Mundwinkel. Die obersten Knöpfe seines Hemdes standen in der Sommerwärme offen und ich bemerkte eine feine silberne Kette, die darunter auf seiner Brust hing. Und dann sah ich, dass seine Rechte einen leichten Verband trug.
Ich starrte ihn an und spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Für einen kurzen Augenblick hatte ich das Gefühl, als ob der Boden unter meinen Füßen schwankte, und wenn ich die Gabe gehabt hätte, aus eigener Kraft spurlos zu verschwinden, ich hätte es getan.
Das war Frodo. Frodo Beutlin. Das war der Ringträger, und er hatte mir seine Hilfe angeboten und zum Dank war ich ihm über den Mund gefahren.
Es tut mir leid... stammelte ich. Um Himmels Willen, ich habe gedacht, Ihr wäret Merry!
Das erklärt natürlich alles. Das leichte Lächeln vertiefte sich zu einem Grinsen. Wenn er es darauf anlegt, ist mein Vetter eine echte Heimsuchung.
Nicht für mich. sagte ich. Ganz im Gegenteil. Er ist klug und freundlich, und ich mag ihn sehr.
Er sah mich prüfend an, dann nickte er leicht.
Dann seid Ihr wahrscheinlich Noerwen sagte er. Merry und Pippin haben beide von Euch gesprochen, und Merry hat Euch beschrieben in den leuchtendsten Farben, wenn ich das sagen darf.
Wirklich? Ich schüttelte leicht den Kopf; beim Gedanken an Merrys Stärke, Fröhlichkeit und Humor hob sich unwillkürlich mein Herz. Ein gefährlicher Bursche ist das - ich wette, dass er unter den Hobbitmädchen im Auenland für reichlich Verwirrung sorgt, wenn er zu Hause ist...
Ich kann nicht für das Auenland sprechen. erwiderte er zwinkernd, aber aus Bockland sind mir ein paar Geschichten zu Ohren gekommen, die für die Ohren einer Dame wohl kaum geeignet sind.
Dann müsst Ihr sie mir unbedingt erzählen!
Wir sahen uns an und fingen beide an zu lachen. Ein Teil von mir konnte kaum glauben, dass mir das passierte; fassungsloses Staunen und eine seltsame Art von Ehrfurcht hatten für einen kostbaren Moment den Schmerz und die Angst aus meinem Herzen vertrieben. Frodo. Frodo Beutlin aus dem Auenland. Ich konnte einfach nicht fassen, dass er mir plötzlich gegenüberstand, in Fleisch und Blut, wirklich und lachend.
Jetzt hatte ich die Gelegenheit, ihn etwas gründlicher in Augenschein zu nehmen. Ich sah, dass er ziemlich dünn war (für einen Hobbit jedenfalls). Und in dem klaren Gesicht zeichnete sich das Alter bei näherem Hinsehen doch deutlicher ab, als ich zuerst gedacht hatte. Wenn er lächelte, bildeten sich ein Kranz von Krähenfüßen um die Augen, und zwei tiefe Linien zogen sich von seiner Nase hinunter zu den Mundwinkeln.
Habe ich einen Rußfleck auf der Nase? fragte er plötzlich. Es ist nur, weil Ihr mich jetzt schon eine ganze Weile anstarrt.
Ich wurde knallrot.
Ich bitte um Vergebung. stotterte ich, aber ich fürchte, dieser.... dieser prüfende Blick ist eine Berufskrankheit. Merry wird Euch vielleicht gesagt haben, dass ich in den Häusern der Heilung arbeite.
Er seufzte.
Ja, das hat er aber ich bitte Euch, fragt mich nicht, wie es mir geht! Das tun nämlich alle, und zwar ununterbrochen, und wenn es nach meinem lieben Sam Gamdschie ginge, dann würde ich meine Tage in Minas Tirith in einem Liegestuhl verbringen, so dick in Decken gewickelt, dass ich aussähe wie eine Seidenraupe.
Er warf mir einen Seitenblick zu, resigniert und humorvoll zugleich.
Möchtet Ihr mir einen Gefallen tun?
Was für einen?
Setzt Euch ein bisschen zu mir, und wenn ihr Eure Güte auf die Spitze treiben wollt, dann sagt mir doch vorher, wo ich etwas zu essen finde. Mein Appetit ist zwar nicht, was er einmal war, aber ich glaube, ich habe den Elf-Uhr-Imbiss und das Mittagessen verpasst. So langsam bekomme ich doch Hunger.
Ich lächelte ihn an.
Ich besorge Euch etwas. Ich habe einen guten Draht zum Refektorium der Häuser. Wenn ich mich recht erinnere, dann hat die Köchin heute Morgen Fleischpastetchen und Nusskuchen gebacken. Klingt das gut?
Mehr als gut. sagte er. Von den Fleischpastetchen hat mir Pippin auch schon erzählt, und er hat, seit wir hier sind, mehr als einmal kleine Raubzüge in diese Küche unternommen. Wahrscheinlich bekommt er dort noch Hausverbot.
Ich bin gleich wieder da.
Die Köchin lachte, als ich sie nach Pippin fragte (So ein reizender kleiner Kerl und immer so hungrig!) und verriet mir, dass sie seit ein paar Wochen immer ein zusätzliches Blech Pastetchen buk, das bei den Hobbits reißenden Absatz fand. Und als sie erfuhr, dass der Ringträger draußen im Garten saß und auf einen Imbiss hoffte , ließ sie es nicht mit einem schlichten Tablett bewenden. Sie richtete eine großer Weidenkorb her, mit in Papier eingeschlagenen Fleischpastetchen, frischem Nusskuchen und mit Zuckerguss überzogenen Apfeltörtchen. Außerdem packte sie frisches dunkles Brot ein, sahnig gelbe Butter in einem Steinguttopf, ein großes Stück festen Käse und Schinken. Zuletzt brachte sie noch irgendwie Becher, eine Flasche Wein und einen Krug gekühltes Bier in dem Korb unter, und als ich diese Riesenmahlzeit die Treppe hinauf in den Garten gewuchtet hatte, taten mir Arme und Rücken weh.
Frodo stand an der Mauer und schaute hinaus auf den Pelennor. Ich ließ den Korb ins Gras plumpsen, rettete den Bierkrug vor dem Umfallen und sank auf dem Rasen zusammen. Er drehte sich um, sah mich und lächelte; ich schaute zu ihm auf und sah, dass die warme Nachmittagssonne einen Strahlenkranz um seinen Kopf legte, schimmernd und tiefgolden wie ein alter byzantinischer Heiligenschein.
Nun, Frodo Beutlin, sagte ich, immer noch etwas außer Atem, offenbar ist die Köchin der Ansicht, dass man Euch ein wenig herausfüttern muss.
Wahrscheinlich hat sie recht.
Der Ringträger setzte sich mir gegenüber auf die Wiese, streckte bequem die Beine von sich und inspizierte den Korbinhalt. Die nächste Viertelstunde verbrachten wir in schweigend. Er tat den Fleischpastetchen der Köchin alle Ehre an und verschmähte auch das Bier nicht, danach verlegte er sich auf Brot, Käse und Schinken und wurde erst wieder aufmerksam, als er bemerkte, wie wenig ich aß.
Nehmt von dem Nusskuchen, solange noch etwas da ist. sagte er. Er entkorkte sorgfältig die Weinflasche, füllte einen Becher und hielt ihn mir hin. Gehorsam nahm ich ihn entgegen und trank. Der Wein war weiß, kühl und würzig, und er schmeckte fremdartig und wunderbar zur gleichen Zeit.
Ich biss in den Kuchen und merkte aus den Augenwinkeln, dass er mich nachdenklich betrachtete. Er musste sich fragen, warum ich vorhin an der Mauer gestanden hatte wie ein Sinnbild verlorener Liebe (bevor ich ihm fast den Kopf abriss). Aber er sagte nichts; statt dessen sah er mir zu, wie ich langsam aufaß und an meinem Weinbecher nippte.
Endlich leerte ich den Rest meines Bechers in einem Zug und sah ihn an.
Ich hatte einen Streit vorhin, sagte ich, mit jemandem, an dem mir sehr viel liegt. Ich habe lange Zeit etwas vor ihm verborgen, und heute habe ich mich entschieden, ihm die Wahrheit zu sagen. Er hat es nicht gut aufgenommen.
Ihr seid nicht in Freundschaft geschieden?
Nein, geschweige denn in Liebe. erwiderte ich, und plötzlich brannten meine Augen.
Oh.
Er goss sich selbst Wein ein, und plötzlich fragte ich mich, ob er überhaupt wirklich verstand, wovon ich sprach. Er hatte immer allein gelebt, und wenn er in etwas mehr als zwei Jahren in die Unsterblichenlande segeln würde, dann, ohne eine eigene Familie zu hinterlassen.
Nun... sagte er, manchmal muss man schweigen, um denen, die man liebt, nicht wehzutun. Die Wahrheit ist ein scharfes Schwert; sie kann furchtbare Wunden schlagen.
Überrascht hob ich den Kopf; es war, als hätte er meine unausgesprochenen Gedanken gelesen.
Woher...? Ich brach ab, als sich unsere Augen trafen, und für einen winzigen Moment sah ich hinter das gelassene Gesicht. Er rührte sich nicht, aber dann wandte er den Blick ab, als hätte ich ihn unerwartet ertappt.
Fällt es Euch schwer, zu schweigen? sagte ich endlich.
Nun ja... Seine Mundwinkel hoben sich in dem halben Lächeln, das ich schon gesehen hatte. Wahrscheinlich leichter, als zu sprechen... jedenfalls mit denen, die ich liebe.
Ich wartete.
Sie sind alle so besorgt. sagte er plötzlich, und jetzt waren die Linien der Anstrengung sehr deutlich zu sehen. Wenn ich eine schlechte Nacht habe, wenn meine Schulter schmerzt, meine Hand oder mein Nacken, dann versuche ich das zu verbergen, damit sie mir nicht ständig Fragen stellen. Aber ich weiß, dass sie mich beobachten... jeden Schritt den ich mache, jedes Wort das ich sage, ob ich viel esse oder wenig, oder gar nichts.
Er betrachtete die Reste aus dem Picknickkorb der Köchin, die vor uns auf dem Rasen ein Stilleben bildeten.
Ehrlich gesagt war dies das erste Mal seit Wochen, dass ich richtig Hunger hatte. gestand er. Ich nahm die Flasche und goss ihm nach, dann bediente ich mich selbst. Ich spürte, wie mir der Wein ganz langsam zu Kopf stieg... ich war sicherlich nicht betrunken, aber es war ein bisschen so, als säßen Frodo Beutlin und ich in einer schillernden Luftblase. Die verblüffende Offenheit mit der er zu mir sprach, obwohl er mich gar nicht kannte... die Tatsache, dass uns niemand störte, obwohl die Gärten der Häuser um diese Tageszeit normalerweise ziemlich bevölkert waren... all das machte die Szene so unwirklich wie ein Traum.
Träumt Ihr manchmal? fragte er, und wieder war es, als hätte er meine Gedanken gesehen. Und könnt Ihr Euch daran erinnern?
Selten. erwiderte ich. Außer an den Traum von letzter Nacht... an den erinnere ich mich ganz genau.
Erzählt ihn mir. Er schaute mich an. Erzählt ihn mir, und ich erzähle Euch meinen.
Ich habe von einem Tor geträumt. sagte ich langsam. Und ich stand auf der falschen Seite. Ich stand außerhalb des Landes, nach dem ich mich sehnte, und ich konnte nicht mehr hinein. Ich rief und schlug gegen die Torflügel, aber niemand hörte mich.
Und ich... Er senkte den Kopf, dann hob er ihn wieder und hielt meinen Blick fest. Ich ritt auf meinem Pony nach Hobbingen hinein, und um den Bühl herum... ein Hügel, unter dem Beutelsend liegt, mein Zuhause.
Ich nickte.
In meinem Traum war es Frühling, und überall blühten die Bäume. Ich ritt den Weg hinauf und kam an mein Gartentor. Seine Stimme war jetzt sehr leise; ich musste mich vorbeugen, um zu verstehen, was er sagte. Ich stieg ab und band das Pony an den Torpfosten. Dann ging ich durch den Garten zum Eingang. Die Tür von Beutelsend ist rund und grün, und sie stand einen Spalt offen. Als ich gerade eintreten wollte, kam ein Hobbit heraus, den ich noch nie gesehen hatte. Er starrte mich verwirrt an, und ich merkte, dass es mich so wenig kannte wie ich ihn.
Er leerte seinen Becher, und ich goss den Rest des Weines hinein. Jetzt sah er mich nicht mehr an; seine Augen folgten den Bildern in seinem Inneren.
Ich fragte ihn: ,Wer lebt hier? Er starrte mich an, als sei ich verrückt. ,Nun, ich.. sagte er. ,Ich und meine Familie. - ,Hat denn dieser Smial nicht einmal Bilbo Beutlin gehört, und danach Frodo Beutlin? fragte ich. Er dachte eine Weile nach, dann hellte sich sein Gesicht auf, als sei ihm etwas eingefallen. ,Oh ja... sagte er. ,Aber das ist mehr als hundert Jahre her. ...Und dann wachte ich auf.
Er senkte den Kopf und fing abwesend an, mit seiner unverletzten Hand Grashalme abzureißen. Eine ganze Weile sagte keiner von uns beiden etwas. Ich betrachtete kummervoll den Hobbit, der vor mir auf der Wiese saß, während um uns her die Schatten allmählich länger wurden und das Sonnenlicht eine Farbe annahm wie geschmolzenes Kupfer.
Ich habe Heimweh. sagte er endlich, und ich konnte den Schmerz in seiner Stimme hören. Alles, was ich möchte, ist ins Auenland zurückzukehren und die Fäden meines alten Lebens wieder aufzunehmen. Ich sehne mich nach altvertrauten Wegen, nach dem Geruch der Bücher in meinem Studierzimmer und dem Klappern der Schere von Sam Gamdschie in meinem Garten. Nach dem sanften Geräusch des Regens auf dem Grasdach von Beutelsend und dem Duft des Geißblatts, das sich neben dem Fenster meines Schlafzimmers hochrankt. Ich will nach Hause.
Ich weiß.
Ich schloss die Augen und biss mir auf die Lippen. Noch nie hatte mir mein Wissen so schwer auf der Seele gelegen. Ich wusste, er würde im Auenland nie wieder wirklich zu Hause sein. Ich wusste, wann die Schulter am meisten schmerzen würde, und wann die Narbe im Nacken, und ich wusste, an welchen Tagen sich seine Seele besonders schwer verdunkeln würde. Ich sah seinen Weg vor mir... einen Weg, der aus dem Schrecken der Fahrt mit dem Ring hineinführte in die qualvolle Erkenntnis, dass er, der die größte Belohnung von allen verdiente, am Ende als einziger mit leeren Hände dastand.
Dann fiel ein Sonnenstrahl zwischen uns und ließ die Glieder der Kette unter seinem Hemd aufblitzen.
Was tragt Ihr da um dem Hals?
Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn mit meiner Frage von weit her zurückgeholt. Dann streifte er sich die Kette über den Kopf und gab sie mir... ein glitzerndes Häufchen Silber, das in meine Handfläche rieselte. gekrönt von einem großen, weißen Juwel. Die Fassung sah aus wie ein zartes Netz unendlich fein miteinander verwobener Blüten, und als ich den Stein in die Sonne hielt, flammte er zwischen meinen Fingern auf wie ein vom Himmel gefallener Stern.
Das ist unglaublich schön... sagte ich leise und ehrfürchtig.
Ein Geschenk der Königin. sagte er, und als ich ihm die Kette wieder zurückgab, fing der Stein das Licht ein zweites Mal ein und versprühte einen Schauer regenbogenfarbiger Funken über unsere Gesichter und Hände. Dort, wo der Juwel meine Haut berührt hatte, spürte ich eine wohltuende Wärme.
Ich weiß, ich kann nur für mich sprechen. sagte ich schließlich. Aber wenn ich eines gelernt habe, seit ich hier bin, dann dies: Trost und Hoffnung sind oft dort zu finden, wo man sie nicht erwartet. Jedenfalls habe ich heute Nachmittag beides gefunden, und dafür möchte ich Euch danken.
Er schaute mich überrascht an, dann lächelte er. Es war ein wunderschönes Lächeln, das sein Gesicht von Schatten zu Sonnenschein aufleuchten ließ...aber dieses Mal kam die Helligkeit nicht von dem wundersamen Elbenjuwel, sondern aus einer Quelle tief seinem Inneren.
Und ich möchte auch Euch danken. Lebt wohl, Noerwen. Er stand auf und verbeugte sich dann wandte er sich ab und ging über den Rasen zum Tor. Ich blieb still stehen und sah ihm nach, bis er hinter der Hecke verschwand. Ein seltsames Gemisch aus Freude und Trauer erfüllte mich, und plötzlich kamen mir Arwens Worte wieder in den Sinn, die sie zu Frodo gesagt hatte, als sie ihm den Edelstein gab.
Doch an meiner statt sollst du gehen, Ringträger, wenn die Zeit kommt und du es dann willst. Wenn deine Wunden dich quälen und die Erinnerung an deine Bürde schwer auf dir lastet, dann kannst du in den Westen fahren, wo du von all deinen Gebrechen und von deiner Müdigkeit geheilt wirst.
Leb wohl, Frodo Beutlin. sagte ich sehr leise. Namarië, Iorhael.
Ich sammelte Teller, Becher und Besteck ein und packte sie mit den Resten in den Korb. Dann ging ich langsam ins Haus zurück. Ich hatte an diesem Tag keinen Dienst mehr, aber der Abend würde leer sein, und ich würde ihn allein verbringen müssen. Ich war sehr sehr müde. Vielleicht konnte ich mich ein paar Stunden hinlegen und dann Oroher anbieten, für jemand anderen die Nachtwache zu übernehmen.
Ich ging durch die langen Korridore zu meinem Zimmer. Tagsüber sorgte Ioreth meist dafür, dass jemand mein Bett machte und Staub wischte, und sie vergaß nie, frisch geschnittene Blumen auf meinen Tisch zu stellen. Diesmal waren es gerade erst erblühte Teerosen, deren Duft mir süß und schwer entgegenströmte, als ich die Tür öffnete. Ich sah den üppigen Strauß gelber Blüten und daneben ein Schälchen mit frischem Obst.
Und ich sah, dass das Zimmer nicht leer war. Jemand saß am Tisch, und als ich eintrat und die Tür hinter mir schloss, stand er auf und drehte sich zu mir um.
Es war Damrod.
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