Winterfeuer
von Cúthalion
Kapitel 10
Schlachten und Siege
Es war der Mond, der mich aufweckte. Seine Strahlen kamen in breiter Bahn durch das Spitzbogenfenster und schienen mir genau ins Gesicht. Ich öffnete die Augen und blinzelte. Dann spürte ich den Arm, der quer über meiner Brust lag, und den warmen Körper neben mir, nackt und entspannt in tiefem Schlaf.
Ich wandte den Kopf und sah ihn an. Die Decke war von seinem Oberkörper herunter gerutscht. Das klare Licht, das mich geblendet hatte, verwandelte sein Fleisch in Marmor und seine Haut in mattes Silber. Ich streckte die Hand aus und legte sie sachte auf seine Brust.
Von unserer ersten Begegnung an hatte ich mich auf seine körperliche Kraft und seinen Schutz verlassen müssen, und eine meiner ersten, intensiven Erinnerungen an ihn war die, wie ich im feuchten Gras lag und er sich über mich warf, um mich vor dem Zugriff des Nazgûl zu bewahren. Ich hatte hinter ihm gesessen und mich an ihm festgehalten, während er nach Minas Tirith ritt, ich hatte ihn umarmt, als er verletzt und voller Kummer aus Osgiliath zurückkam. Ich hatte ihn verarztet. Und in dieser Nacht hatte ich ihn in mein Bett geholt. Und er hatte sich mit einer Freude und Hingabe an mich verschenkt, die ich kaum fassen konnte.
Mein Liebster sieht blühend und kräftig aus, nur einer von Tausenden ist wie er! flüsterte ich. Wie von selbst kamen mir die herrlichen alten Worte aus dem Hohen Lied der Bibel in den Sinn. Sein Gesicht ist strahlend weiß und rot, sein Haar dicht und lockig und schwarz wie ein Rabe...
Was sagst du, mein Herz?
Er hatte die Augen geöffnet und lächelte.
Entschuldige. sagte ich leise. ich wollte dich nicht wecken. Du hast den Schlaf nötig.
Das ist wahr. Er hob einen Arm und zog mich behutsam an sich, um die Verletzung nicht zu berühren und mir wehzutun. Aber es tut mir nicht leid.
Nein? Ich lachte gegen seine warme Haut und spürte mit Entzücken den Schauder, der ihn überlief.
Nein. Er fing meine Hand ein und küsste die Fingerspitzen. Denn so habe ich etwas, was ich morgen mitnehmen kann, wenn das Heer abmarschiert.
Mein Lächeln erstarb, und jetzt war ich es, die schauderte. Ich umarmte ihn, so fest es mit einem steif bandagierten Arm möglich war, presste meine Wange gegen seine Brust und lauschte dem kraftvollen Herzschlag dicht an meinem Ohr. Wenn er starb... wenn er nicht zurückkam... Jähe Panik schnürte mir die Kehle zu. Dann spürte ich seine Hand, die langsam und beruhigend meinen Rücken streichelte.
Nicht doch. Du darfst dich nicht fürchten.
Ich hob den Kopf.
Fürchtest du dich denn nicht?
Die dunklen Augen waren für einen Moment nachdenklich und distanziert. Dann lächelte er, aber es war kein fröhliches Lächeln. Trauer lag darin und Erinnerungen an Zeiten, von denen ich nichts wusste... Erinnerungen das bittere Ende von gefallenen Freunden und längst vergangene Schlachten.
Nicht wirklich.sagte er ruhig. Es gibt eine Art von Furcht, die sich ein Krieger nicht erlauben darf sie macht das Auge blind und die Hand unsicher. Ich habe gelernt, mich nicht mehr auf diese Weise zu fürchten. Vorsicht, ja... die ist unbedingt notwendig. Und mit der Zeit entwickelst du einen gewissen Instinkt... für den Gegner in deinem Rücken, für das Schwert, das gegen dich ausholt, für den gezückten Dolch, den du im Dunkeln nicht sehen kannst.
Ein gezückter Dolch im Dunkeln... Ich dachte an den Überfall vor ein paar Tagen, und in diesem Moment kam er mir vor wie ein weit entfernter Traum... ein schlechter Traum, aber nicht mehr. Ich sah den Mann an, der mich in den Armen hielt. Dass Berührungen für mich niemals mit Entsetzen verbunden sein würden, niemals mit Scham und Qual, lag allein an ihm. Er hatte die dunklen Bilder ersetzt durch stärkere, tröstlichere Eindrücke... mit der Sanftheit seiner Hände, seines Körpers und seines Herzens.
Und wenn das Schicksal mir nicht gnädig war, dann würde ich ihn nach dieser Nacht nie wiedersehen.
Ich richtete mich mit etwas Mühe auf und sah auf ihn herunter; dann ließ ich meine Hand sanft über die marmorglatte Brust gleiten und strich über die Bauchmuskeln hin, die sich unter meiner Berührung anspannten. Damrod lag völlig still und schloss die Augen, als ich zu seiner Brust zurückkehrte und die Hand durch den Mund ersetzte. Ich spürte seine Hände auf meinem Hinterkopf; er ließ seine Finger durch mein Haar gleiten und zog die langen Strähnen auseinander, bis sie uns beide bedeckten wie ein ausgebreiteter Mantel.
Draußen wich die Schwärze der Nacht allmählich einer grauen Dämmerung und der Mond ging unter. Und während das erste, schwache Tageslicht durch das Fenster hereinsickerte, nahm ich ihn noch einmal in mich auf und spürte den Rhythmus unseres Hungers und unserer Sehnsucht so machtvoll wie das Auf und Ab von Ebbe und Flut. Ein Schrei stieg in mir auf, halb Freude und halb Verzweiflung, und dann zog mich Damrod mit einer fließenden, unwiderstehlichen Bewegung auf sich herab und nahm mich mit sich über die Schwelle, und mein Schrei löste sich auf in seinem Kuss.
Seine Hände hatten mein Haar spielerisch zu einem Zopf geflochten, und ich löste die Flechten wieder auf, während ich mich wie gebannt im Spiegel betrachtete. Die Wunde an meinem Arm pochte, aber in diesem Moment spürte ich die Schmerzen nicht. Er trat hinter mich, noch immer nackt, und seine warme Hand umfasste meine bloße Brust.
Du bist so schön. Ich kann kaum fassen, was für ein Geschenk du mir gemacht hast.
Wann musst du gehen?
Seine Hände liebkosten mich, sein Atem strich warm über meine Haut.
Das Heer bricht heute Mittag auf.
Ich zuckte heftig zusammen.
Ich will dich nicht gehen lassen. sagte ich. Mein Körper war starr und angespannt.
Wir haben noch eine Stunde.
Er konnte so leicht in der Schlacht sterben.
Eine Stunde...
Eine Stunde ist viel...
Seine Stimme war warm und tief, ich konnte das Lächeln darin hören. Ich spürte, dass er den Gedanken an den Weg zum Schwarzen Tor gewaltsam in sich verschloss. Er wollte mich schützen, und ich liebte ihn dafür so sehr, das mir das Herz wehtat.
Lass mich nicht los. Ich will nicht, dass du gehst.
Schließlich half er mir, mich zu waschen und anzuziehen und ich sah ihm zu, wie auch er in seine Kleider schlüpfte. Wir gingen gemeinsam ins Refektorium, und ich holte Milch für uns, Obst und frisch gebackenes Brot. Damrod verspeiste sein Frühstück mit gutem Appetit und methodisch wie ein Mann, der genau weiß, dass er viel Kraft braucht für das, was ihm bevorsteht. Er drängte mich dazu, wenigstens meinen Becher Milch auszutrinken, und ihm zuliebe aß ich einen Apfel, den er für mich in saubere Viertel schnitt. Dann gingen wir Hand in Hand hinaus in den Garten, und ich begleitete ihn bis zur Straße.
Er nahm mich in die Arme und drückte mich an sich; ich atmete seinen Geruch ein, das saubere Aroma der Kräuterseife aus den Häusern, gemischt mit dem schwachen, ureigenen Duft seiner Haut, die ich in der letzten Nacht so gründlich erkundet hatte... warm und würzig wie Sandelholz.
Wenn du nicht zurückkommst, werde ich dir das nie verzeihen. flüsterte ich mit zugeschnürter Kehle.
Oh, aber ich komme zurück, Noerwen. sagte er ruhig. Ich werde immer zu dir zurückkommen, weißt du das denn nicht?
Ich spürte seine Lippen in einer sanften Berührung auf meiner Stirn, meinen Wangen und zuletzt auf meinem Mund, dann ließ er mich los. Ich sah, wie er mir ein letztes Mal zulächelte, dann wandte er sich ab und ging mit schnellen Schritten die Straße hinunter. Ich blieb reglos stehen und folgte ihm mit den Augen, bis die Straße eine scharfe Kurve machte und er verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Er war entschieden stärker als ich.
Ich wäre gern an meinen Lieblingsplatz nahe der hinteren Mauer in den Gärten der Heilenden Häuser zurückgekehrt dorthin, wo Damrod sich vor der letzten Schlacht von mir verabschiedet hatte. Aber ich hätte Mardil dort begegnen können, oder Oroher, oder und diese Vorstellung jagte mir einen entsetzten Schauder über den Rücken Ioreth. Das war mehr, als ich ertragen konnte.
Ich ging langsam die Straße hinunter, einen Ring tiefer. Dort hatte ich von oben einen kleinen Garten gesehen, der an die Stadtmauer grenzte. In dem Haus lebte niemand, wenigstens nicht zur Zeit. Vermutlich waren die Bewohner vor der Belagerung evakuiert worden. Ich fand das Haus, und das mit wunderschönen alten Steinmetzarbeiten eingefasste Tor aus schwarzem Holz war verriegelt. Aber daneben gab es einen kleinen Durchgang mit einem schmiedeeisernen Gitter, und das öffnete sich leicht, als ich probehalber dagegendrückte.
Ich ging hindurch und befand mich in dem Garten, den ich schon kannte. Weiß gepflasterte Wege schlängelten sich über eine kleine Rasenfläche, und ringsherum wuchsen Fliederbüsche, die jetzt im März noch noch nicht blühten; ein paar Wochen später im Jahr würde man hier in einer Wolke betäubend süßer Düfte stehen. Ich ging langsam über die Wiese, die einen kräftigen Grasschnitt vertragen konnte und trat an die Mauer.
Der vernarbte Pelennor lag in der Morgensonne, und vor den Toren sammelte sich das letzte Heer des Westens. Ich sah, wie die Männer Aufstellung nahmen, sah das Licht, das sich in Helmen und aufgerichteten Speeren spiegelte. Siebentausend Mann, dachte ich, großer Ilúvatar, es sind so wenige.
Sie würden überleben, wenigstens die meisten von ihnen. Der Ring würde ins Feuer gehen und der Dunkle Herrscher gestürzt werden. Aber in diesem Moment bedeutete dieses Vorauswissen keinen Trost mehr für mich. Krieger starben, wenn Schlachten geschlagen wurden. Ein verirrter Pfeil konnte den Mann treffen, den ich liebte, ein Ork konnte ihn erschlagen, bevor die Adler kamen.
Ich wandte mich ab, setzte mich in das taufeuchte Gras und zog die Knie an die Brust. Ein Zittern ging durch meinen Körper und wollte nicht mehr aufhören, aber die Kälte kam von innen und nicht von der Feuchtigkeit, die durch meinen Rock drang. Zum ersten Mal, seit ich hinter Damrod auf dem Rücken seines Fuchses gesessen und herausgefunden hatte, wo ich mich befand, rollte die Panik heran und schlug wie eine erstickende Woge über mir zusammen.
Was macht dich so sicher, dass du diesmal Glück hast? flüsterte eine kleine, böse Stimme in mein Ohr. Bis jetzt hast du noch jeden Menschen verloren, den du geliebt hast... und die Liebe deines Vaters zu dir war schon gestorben, bevor er tot war. Nicht wahr? Nicht wahr?
Ich vergrub das Gesicht in den Armen und schloss die Augen.
Und selbst, wenn er überlebt hat und der Krieg vorbei ist... höhnte die Stimme weiter. Was glaubst du denn, wie er reagieren wird, wenn du dich endlich dazu entschließt, ihm die Wahrheit zu sagen? Er wird doch wohl eine Frau vorziehen, bei der nicht die Gefahr besteht, dass sie sich urplötzlich in Luft auflöst!
Ich spürte, wie sich die Angst in meiner Kehle zusammenballte, und dann ließ ich alle Beherrschung fahren und fing an zu weinen. Ich hatte nicht mehr so geweint, seit meine Mutter gestorben war; Tränen strömten mir über das Gesicht und mein Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Nur ganz entfernt hörte ich die Hornsignale hinter mir auf dem Pelennor, während das Heer sich in Marsch setzte.
Ich weiß bis heute nicht, wie lange ich dort hockte und meinen Gefühlen freien Lauf ließ. Irgendwann jedenfalls ebbte der Sturm ab und ich beruhigte mich langsam. Ich hob den Kopf, holte tief und zitternd Atem und wischte mir mit dem Ärmel der Kutte die Augen.
Bitte um Verzeihung... Ihr möchtet nicht zufällig ein Taschentuch?
Ich zuckte heftig zusammen, wandte den Kopf und sah eine kleine Gestalt, die etwa einen Meter entfernt von mir auf der Wiese saß.
Verblüfft starrte ich mein Gegenüber aus rot verschwollenen Augen an. Er war klein, mit bloßen, kraus behaarten Füßen, er trug eine hellgraue, Kniehose und ein weißes Hemd; einer seiner Arme lag angewinkelt in einer Schlinge. Er hatte ein klares, kluges Gesicht mit graugrünen Augen. Ein tiefdunkler Ring zog sich um die Iris und verlieh seinem Blick eine eigentümliche Schärfe. Als er merkte, dass ich ihn betrachtete, kräuselte ein koboldhaftes Lächeln seine Mundwinkel und Grübchen erschienen auf beiden Wangen.
Er hielt mir ein großes weißes Leinentuch entgegen, und das Lächeln vertiefte sich, als ich es entgegennahm und mir geräuschvoll die Nase putzte.
Dankeschön. sagte ich. Merry Brandybock, nicht wahr?
Zu Euren Diensten. erwiderte er und brachte es fertig, sich mit einiger Grazie zu verneigen, obwohl er auf der Wiese saß. Und Ihr seid Noerwen aus den Häusern der Heilung.
Da habt ihr recht. Ich gab mir alle Mühe, ihn nicht großäugig anzustarren, aber er betrachtete mich seinerseits sehr gründlich. Es war faszinierend und ein bisschen verwirrend zugleich, einen anerkennend männlichen Blick aus den Augen von jemandem zu sehen, den vermutlich viele mit einem Kind verwechselten.
Ihr habt wunderbares Haar, bemerkte er im Plauderton. Rotgolden, wie die Flammen im Kamin. Wirklich prachtvoll.
Oh... danke. Ich spürte, wie ungeachtet meiner elenden Verfassung ein Kichern in mir aufstieg. Ich kann Euch versichern, normalerweise sieht mein Gesicht auch etwas besser aus.
Wir schwiegen eine Weile, aber es war ein kameradschaftliches Schweigen.
Pippin hat mir von Euch erzählt. sagte er unvermittelt. Er meinte, Ihr hättet Euch sehr um ihr gekümmert, als ich bewusstlos in den Häusern der Heilung lag.
So viel habe ich gar nicht getan. sagte ich.
Oh, ich finde schon. Er warf mir einen Seitenblick zu. Ihr habt freundlich mit ihm geredet und ihm Mut zugesprochen... und obendrein habt Ihr ihm etwas zu essen gegeben. Er grinste. Schließlich ist er ein Hobbit, und in unserem Volk hat Essen eine Menge Bedeutung.
Ach ja? Wieder spürte ich das Kichern, das mich in der Kehle kitzelte. Ich stellte mit einigem Staunen fest, dass ich mich in Merrys Gegenwart sehr wohl fühlte.
Ich habe Euch vorhin hier hereingehen sehen. sagte er nach einer gedankenvollen Pause. Und ich bin Euch gefolgt, weil ich Euch danken wollte, dass Ihr meinem Vetter Freundlichkeit erwiesen habt, als er sie dringend brauchte. Ich wollte Euch nicht stören oder belästigen.
Das weiß ich. Ich stützte das Kinn auf die Knie und sah an ihm vorbei auf den Rasen. Ich habe mich vorhin von einem Mann verabschiedet, der in die Schlacht vor dem Schwarzen Tor gezogen ist. Er ist ein wunderbarer Mann, einer der Waldläufer aus Ithilien, und ich liebe ihn sehr. Und als ich ihn aus den Augen verlor, hatte ich plötzlich große Angst ihn nie wiederzusehen.
Seid Ihr einander versprochen?
Ich lächelte. Nein... wir kennen uns noch nicht sehr lange. Genau genommen bin ich ihm erst vor einer Woche begegnet.
Eine Woche. Nein... sechs Tage. Ich konnte es kaum glauben.
Ich denke nicht, dass das eine sehr große Rolle spielt. sagte er langsam. In den letzten Monaten habe ich gelernt, dass man in kurzer Zeit Freundschaften schließen kann, die in anderen Zeiten als diesen wohl kaum möglich wären... abgesehen davon, dass ich einigen meiner Gefährten wohl kaum begegnet wäre, wenn ich das Auenland nicht verlassen hätte.
Dem Sohn des Truchsessen. Ich lächelte ihm zu. Einem Elben, einem Zwerg und einem Waldläufer mit einem neu geschmiedeten Schwert... Ihr kommt ganz schön herum, Herr Brandybock.
Er starrte mich verblüfft an.
Woher wisst ihr das alles?
Oh... Gandalf. sagte ich und versetzte mir innerlich einen kräftigen Tritt für meine Dummheit. Die Tatsache, dass ich mich in Merrys Gegenwart zusehends entspannte, durfte nicht dazu führen, dass ich unvorsichtig wurde.
Ach so. Ihr müsst auf gutem Fuß miteinander stehen! Merry gab ein erstauntes Lachen von sich. Und ich bin Knappe der Riddermark. König Théoden... er war ein guter, freundlicher Mann. Ich mochte ihn sehr. Ihr wisst, dass er gefallen ist?
Ja, sicher. Ich sah den tiefen Schatten, der sekundenlang das offene Gesicht verdüsterte. Ein paar von den Heilern haben geholfen, ihn zu waschen und aufzubahren. Und wir haben Éowyn gepflegt.
Éowyn... murmelte er. Sie hat sich als Mann verkleidet und ist in die Schlacht gezogen. Und als alle mich zurücklassen wollten wie ein lästiges Kind, hat sie mich zu sich auf ihr Pferd genommen, und ich durfte zeigen, was ich wert bin. Grimmige Genugtuung schwang in seinen Worten mit. Ich habe nicht mehr getan, als einen Geist mit dem Messer ins Bein zu stechen, aber ich habe ihr damit das Leben gerettet, und sie konnte ihn töten...
Ich weiß. sagte ich ernst. Das war eine sehr tapfere Tat.
Ach was.Er machte eine abschätzige Handbewegung. Das war gar nichts. Éowyn war tapferer als ich; sie hat ihm ins Gesicht gesehen und ist nicht zurückgewichen. Und jetzt hat Streicher Aragorn sie wieder aufgeweckt, aber manchmal glaube ich, sie schläft noch immer.
Er sah mich unsicher an; ich hob ermutigend die Augenbrauen.
Sie... sie hatte es schwer, glaube ich. Sie hat sich um Théoden sorgen müssen, als der unter dem Einfluss von Gríma Schlangenzunge stand hat Gandalf Euch auch von Gríma erzählt?
Ich nickte.
Ich glaube, er... wollte sie. Er ist jahrelang hinter ihr hergeschlichen wie ein schleimiger, lautloser Wurm. Und als Gandalf ihm die Maske von Gesicht gerissen hat, ist er feige zu seinem Herrn Saruman geflüchtet. Ich habe ihn in Isengart gesehen. Er zögerte. Sie hat andauernd vor ihm auf der Hut sein müssen, während ihr Onkel immer schwächer wurde. Ich glaube, sie hätte sich lieber in den Sattel eines Pferdes geschwungen und mit ihrem Bruder gegen die Orks gekämpft. Manchmal denke ich, sie wäre lieber ein Mann. Das ist sehr traurig, finde ich.
Ich betrachtete ihn und meine Hochachtung vor ihm wuchs. Er hatte ein erstaunlich tiefes Verständnis für Zusammenhänge, und mir gefiel seine große Zuneigung für Éowyn, die in jedem Wort spürbar wurde.
Nun... Ich streckte die Beine aus und bewegte probehalber den rechten Arm; Schmerz flackerte bis in die Fingerspitzen, und ich hielt ihn lieber wieder still. Soweit ich weiß, kam Éowyn doch nach dem Tod ihrer Mutter nach Edoras, und es war ein Königshof ohne Königin. Sie hat nie die Möglichkeit gehabt, sich eine Frau zum Vorbild zu nehmen... es gab ja nur Männer. Und Stärke und Ehre hatten für Éowyn immer mit Kampf zu tun, und mit dem Gebrauch eines Schwertes.
Merry runzelte die Stirn, dann lächelte er in sich hinein.
Vielleicht hätte sie lieber die nächstbeste Gelegenheit ergreifen und Grima mit dem Schwert erledigen sollen. murmelte er.
Seht Ihr, und eben das ist das Problem. sagte ich. Das stand ihr nicht zu. Sie wurde beinahe erzogen wie ein Mann, aber sie durfte nicht handeln wie ein Mann. Es muss unendlich schwer für sie gewesen sein, das zu ertragen; sie hat ihr Frausein immer als Last und Schande empfunden.
Er betrachtete mich aufmerksam; ich konnte sehen, wie er meine Argumente erwog und schließlich akzeptierte.
So habe ich das nie gesehen, sagte er langsam. aber Ihr habt wahrscheinlich recht. Er gähnte, dann zuckte er leicht zusammen und fasste sich an die Schulter.
Vielleicht sollten wir langsam zu den Häusern zurückkehren. meinte er. Ich werde schon wieder müde und Hunger habe ich auch.
Dann wollen wir zusammen gehen. Ich werde etwas zu essen für Euch finden. Ich stand ein wenig unbeholfen auf, und wieder schoss der Schmerz durch meinen Arm.
Merry betrachtete meine Schlinge. Wie ist denn das passiert?
Der Mann, der mich brutal gegen den Boden presste. Seine Hände auf meinem Körper, seine Zunge, die sich rücksichtslos in meinen Mund bohrte. Das Messer, dass so furchterregend leicht durch sein Fleisch schnitt, und das Blut, entsetzlich warm auf meiner entblößten Haut.
Ich atmete tief, schloss die Augen und drängte die Erinnerung mit aller Gewalt zurück.
Das erzähle ich Euch später. sagte ich freundlich, und ich war froh, dass meine Stimme nicht zitterte. Irgendwann einmal. Jetzt sollten wir wirklich zurückgehen. Ich fürchte, ich hätte noch nicht draußen herumlaufen sollen; ich werde von Ioreth eine Menge zu hören bekommen...
Er grinste. Klein, alt, scharfe Augen und eine Zunge wie ein ratterndes Mühlrad?
Ich grinste zurück. Genau die.
Die erinnert mich an die Geschichten über meine Großtante Amaranth. sagte Merry. Es wird erzählt, dass es Familienmitglieder gab, die Tage gebraucht haben, um sich von einer Unterhaltung mit ihr zu erholen.
Klingt faszinierend. Ich würde gern mehr wissen über das Leben bei Euch zu Hause.
Wir gingen langsam die Straße hinauf, und Merry fing an, mir Geschichten vom Brandyschloss zu erzählen.
Wir sprachen nicht mehr viel miteinander, als wir die Häuser der Heilung erst einmal erreicht hatten; der kleine Ausflug einen Ring weit hinunter war anstrengender gewesen, als ich dachte, und ich musste mich hinlegen. Ich sah Merry erst am nächsten Morgen wieder, als ich mit einem Apfel in der Hand in den hinteren Garten trat.
Er stand an der Mauer, eine kleine, sehr aufrechte Gestalt, und er rührte sich auch nicht, als ich ihn begrüßte, obwohl er den Gruß höflich erwiderte. Er blickte starr durch einen der kunstvollen Durchbrüche. Ich trat neben ihn und schaute in die gleiche Richtung wie er; auf die kahlen Abhänge des Mindolluin, die voll in der strahlenden Morgensonne lagen.
Wollt Ihr nicht nach Osten schauen? fragte ich nach einer Weile sanft.
Er schüttelte den Kopf, und ich sah, wie seine Lippen schmal wurden.
Ihr macht Euch Sorgen um Pippin, nehme ich an.
Ich setzte mich neben ihn ins Gras, so wie er gestern in dem fremden Garten neben mir gesessen hatte. Endlich drehte er sich zu mir um; ich entdeckte Furcht in den scharfen, klaren Augen und etwas, das aussah wie Zorn.
Ja, tue ich. sagte er. Und dann, als gäbe er plötzlich jeglichen Widerstand auf, schwand die straffe Spannung aus seinen Gliedern und er ließ sich neben mich auf die Wiese fallen. Er zog die Beine dicht an den Körper, stützte das Kinn auf die Knie und schloss die Augen.
Ich habe immer auf ihn aufgepasst. sagte er plötzlich. Wenn ich dabei war, konnte ihm nicht wirklich etwas zustoßen. Ständig hat er seine Finger in Sachen, die ihn nichts angehen, und manchmal treibt mich seine Neugier in den Wahnsinn. Der Palantír...
Er hielt inne und warf mir einen kurzen Seitenblick zu. Als ich kein Anzeichen von Überraschung oder Unwissen zeigte, nickte er leicht, als hätte er etwas Ähnliches erwartet.
Pippin ist nicht dumm. Er runzelte die Stirn. Er ist bloß ein bisschen leichtsinnig, und er denkt nicht immer rechtzeitig nach. Aber er ist auch wie ein Bruder für mich... nein, mehr als ein Bruder. Wenn er nicht da ist, dann habe ich das Gefühl, dass mir ein Arm fehlt oder ein Bein. Oder beides. Und wenn er getötet wird, vor diesem schwarzen Tor, von dem sie alle reden...
Sein Gesicht verzerrte sich zu einer qualvollen Grimasse. Es war unerträglich, seine Zweifel und seine Furcht mit anzusehen; ohne nachzudenken, streckte ich die gesunde Hand aus, legte sie auf seinen Rücken und knetete die starren Muskeln so fest und gleichmäßig, wie es mir ohne die Unterstützung der anderen Hand möglich war. Merry zuckte vor Überraschung zusammen, dann entspannte er sich und ließ den Trost der Berührung zu. Wir saßen minutenlang da, ohne zu reden, während ich die improvisierte Massage fortsetzte; dann strich ich noch einmal sanft seinen Rücken hinauf und ließ die Hand einen Moment auf seiner Schulter liegen, bevor ich sie zurückzog.
Er wird nicht sterben.sagte ich. Er wird vielleicht nicht unversehrt zurückkommen, und sicher nicht unverändert, aber er wird nicht sterben.
Was macht Euch so sicher?
Er sah mich an, und ich wusste, dass es besser war, vor seiner Intelligenz ein wenig auf der Hut zu sein.
Nennt es Hoffnung. sagte ich ruhig. Nennt es Gewissheit, dass die Dinge sich nach all dem Schrecken einfach zum Guten wenden müssen. Dass der König irgendwann wieder in Frieden über ein geheiltes Gondor herrscht... dass die Menschen in Ruhe ihre Felder bestellen, anstatt in den Kampf zu ziehen... und vielleicht auch, dass ein paar heldenhafte Hobbits irgendwann nach Hause gehen dürfen.
Sein Gesicht verschloss sich, aber ich wusste, an wen er dachte an die beiden, deren Rückkehr am wenigsten wahrscheinlich war. An den, der in diesem Krieg das größte Wagnis auf sich genommen hatte und den, der diesen Weg ohne zu zögern mit ihm ging.
Entschlossen schluckte den Kloß herunter, der in meiner Kehle stak.
Alle Hobbits. flüsterte ich endlich. Wie unversehrt auch immer.
Hinter uns wurden Stimmen laut, und Merry schaute über meine Schulter.
Seht... sagte er mit gedämpfter Stimme.
Ich drehte mich um; hinter uns gingen Faramir und Éowyn nebeneinander über die taufeuchte Wiese. Beide trugen einen Arm in der Schlinge, beide sahen blass und angegriffen aus, aber sie sprachen miteinander, und ich konnte sehen, dass Faramir ihr irgend etwas erzählte. Ab und zu warf sie ein Wort ein, und ich merkte, dass Faramirs Gesicht aufleuchtete, wenn sie zu ihm aufschaute (nicht weit, denn sie war beinahe so groß wie er) und seinen Blick erwiderte. Wenn ich je einen betörten Mann gesehen habe... Ioreth hatte das über Damrod gesagt, aber hier war es genauso deutlich spürbar, für mich ebenso wie für Merry.
Ein schönes Paar. sagte ich leise.
Ganz genau. Merry klang gedankenvoll und die Müdigkeit war gänzlich aus seiner Stimme geschwunden. Ich schaute ihn an und sah, dass seine Augen glitzerten.
Wollt Ihr etwa nachhelfen, Herr Meriadoc? Ich tat mein Bestes, schockiert zu klingen, aber er fiel nicht darauf herein.
Und ob ich das will. Er grinste, und ich konnte buchstäblich sehen, wie sich hinter der Stirn die ersten Grundzüge eines Schlachtplanes abzeichneten. Verschwörer, aber wirklich. Ich stemmte mich mühsam hoch, trat beim Aufstehen beinahe auf den Saum meiner Kutte und stand endlich auf den Beinen.
Ich muss ins Haus zurück. sagte ich. Mein Arm braucht einen frischen Verband.
Er stand auf und verneigte sich, dann ergriff er zu meiner Überraschung meine gesunde Hand und küsste sie.
Danke. sagte er ruhig. Für jeden Trost, den ich und mein Vetter von Euch empfangen haben.
Er lächelte mich an, und die Grübchen tauchten wieder auf.
Ihr seid wie ein Feuer, an dem man sich wärmt, wenn der Winter kalt ist. Euer Waldläufer hat wirklich Glück... ich hoffe, auch er kommt heil und gesund wieder nach Hause.
Ich ging langsam durch den Garten zum Haupthaus; als ich mich an der Tür noch einmal umdrehte, sah ich, dass er wieder im Gras saß und mit Appetit in den Apfel biss, den ich mit herausgebracht und völlig vergessen hatte.
In der Woche, die folgte, konnte ich mit ansehen, wie Merrys Plan sich zufriedenstellend entwickelte. Der junge Hauptmann und die Schildmaid von Rohan verbrachten immer mehr Zeit miteinander; oft sah ich Merry mit Faramir reden, zu seinen Füßen sitzend, während der Truchsess ein Buch müßig auf den Knien hielt, oder gemeinsam mit Éowyn, die in einem Lehnstuhl ruhte, während Merry bäuchlings im Gras lag, beide in eine Gespräch vertieft.
Mein Arm schien langsam zu heilen, wenn auch nicht so schnell, wie ich gehofft hatte. Mein medizinischer Sachverstand sagte mir, dass ich schon froh und dankbar sein musste, dass Ringelblumenumschläge, Packungen mit Ackerschachtelhalm und sauber ausgekochte Leinenverbände offenbar eine erstaunlich gute Wirkung zeigten, aber ich war trotzdem nicht zufrieden. Ich war ständig müde; selbst kürzeste Wege machten mich atemlos und ich schlief schlecht; während die schwer geprüfte Stadt unter einem klaren Himmel Nacht für Nacht auf die Entscheidung des Schicksals wartete, lag ich mit weit offenen Augen in meinem stillen Zimmer und sah zu, wie irgendwann die Sterne verblassten und einer perlgrauen Dämmerung Platz machten.
Die Tage verschmolzen ineinander; ich erinnere mich noch, wie ich am 24. März nach einem ziemlich schmerzhaften Verbandwechsel mit weichen Knien in den Garten hinausging, um mich davon zu erholen. Ich erreichte einen windstillen Flecken nahe der Mauer und plötzlich entdeckte ich zwei Gestalten, die ausgestreckt im kurz geschorenen Gras lagen, entspannt in tiefem Schlaf. Ich sah den blonden Kopf von Éowyn, an Faramirs Schulter gelehnt. Der Frühlingswind hatte ihrem marmorblassen, wunderschönen Gesicht ein wenig Farbe verliehen, und seine Hand lag über der ihren wie ein schützender Schild.
Ich stand vor ihnen und betrachtete sie einen langen Moment; ich spürte, wie mich Neid erfasste angesichts der Tatsache, dass ihr Schicksal sie zusammenführen würde. Ich hätte gern eine ebenso starke Gewissheit gehabt, was mich betraf.
Dann ging ich leise davon, um sie nicht zu stören und rieb mir die Stirn; seit dem Frühstück hatte ein bohrender Kopfschmerz angefangen, mich zu quälen. Im Laufe dieses Tages wurde er immer schlimmer, bis Ioreth mir endlich gegen Abend einen Holz-Schirm vor das Fenster stellte, weil mir inzwischen selbst das Licht in den Augen wehtat.
Oroher muss Euch morgen früh gründlich untersuchen. sagte sie. Sie stand am Fußende meines Bettes, und ihre Stimme drang nur unvollständig durch das dumpfe Dröhnen in meinem Kopf. Ich nickte schwach und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass sie mit leisen Schritten das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloss.
Eine weitere, unerfreuliche Nacht verstrich, und dann brach der 25. März an, grau und stürmisch. Ich kämpfte mich aus dem Bett und brachte es irgendwie fertig, mich zu waschen und anzuziehen. Beim Gedanken an Frühstück zog sich mein Magen zu einem harten Knoten zusammen. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt, und alle paar Schritte packte mich ein so heftiges Schwindelgefühl, dass ich stehen bleiben und mich an der Wand abstützen musste.
Endlich gelangte ich in den Garten hinaus und trat an die Mauer; das ferne Gebirge mit Mordor dahinter lag in dunklen Wolken, und es war kalt. Trotzdem lag eine Spannung in der Luft wie kurz vor einem Gewitter.
Heute würde es sich entscheiden. Heute würde der Dunkle Herrscher fallen.
Heute würde Damrod vielleicht sterben.
Kind?
Ich drehte mich um. Mardil stand hinter mir; der Wind zerzauste sein dünnes, weißes Haar und sträubte es um seinen Kopf zu einer Aureole.
Ioreth sagte mir, Ihr fühlt Euch nicht wohl. Seid Ihr schon bei Oroher gewesen?
Ich schüttelte den Kopf. Etwas Merkwürdiges geschah mit mir. Mardils Stimme entfernte sich, wurde sehr leise und kam zurück, um verzerrt in meinem Kopf zu dröhnen. Auch sein Gesicht schien sich zu verändern. Erst wurde es klein, als würde ich es durch das verkehrte Ende eines Fernrohres beobachten... dann wuchs es zu grotesker Größe und schwebte über mir wie ein riesiger Ballon.
Mardil... sagte ich. Mardil...
Ich spürte, wie mir die Knie weich wurden. Ich stolperte vorwärts, auf den Kräutermeister zu, und als er versuchte, mich festzuhalten, berührte er die verbundene Stelle am rechten Arm.
Der Schmerz zuckte durch meinen ganzen Körper wie eine jähe Stichflamme. Ich schrie auf, hörte ihn sehr leise und weit entfernt Um Himmels Willen, Kind...! ausrufen und fiel in Ohnmacht.
Die Adler kamen am frühen Nachmittag; Sie flogen über die Stadt, die riesigen Schwingen vergoldet im Sonnenlicht, und verkündeten den Sieg. Binnen einer halben Stunde läuteten alle Glocken in Minas Tirith und die Menschen versammelten sich aufgeregt und in fassungsloser Erleichterung auf den Straßen. Am Abend wurden überall Lampen entzündet, und niemand verspürte den Drang, ins Bett zu gehen. Als dann allerdings gegen Mitternacht der Jubel und Tanz nachließ, die Lampen gelöscht wurden und die Menschen sich endlich zur Ruhe legten, schliefen sie das erste Mal seit Wochen in wirklichem Frieden.
Von all dem bekam ich nichts mit; ich lag halb bewusstlos in einem der Krankenzimmer in den Häusern der Heilung. Mein Misstrauen, was die Wunde an meinem Arm anging, war berechtigt gewesen; sie hatte sich zwar oberflächlich geschlossen, darunter aber hatte sich ein Eiterherd gebildet, der jetzt für ein heftiges Wundfieber sorgte. Oroher öffnete die Wunde, säuberte sie gründlich mit einem Skalpell, wusch sie mit Branntwein aus und legte einen dünnen Federkiel hinein, damit jedes weitere Wundsekret abfließen konnte. Das alles war ungeheuer schmerzhaft und nur mit einer großen Dosis Mohnsaft zu ertragen; deshalb verbrachte ich die folgenden Tage in einem betäubten Dämmerzustand. Von Zeit zu Zeit tauchten in meinem Blickfeld Gesichter auf, die ich kannte, und ich hörte vertraute Stimmen, aber ich war zu müde und elend, um zu sprechen, und mein Universum konzentrierte sich auf die Verletzung, die solch ein bösartiges Eigenleben entwickelt hatte.
Die Tage verstrichen langsam, und überall in der Stadt begannen Reparaturarbeiten. Die zerstörten Häuser im ersten und zweiten Ring wurden abgerissen oder ausgebessert, und auf dem Pelennor brannten die letzten Leichenfeuer; die Bauern warteten ungeduldig darauf, ihre Felder zu bestellen, um wenigstens noch eine kleine Ernte einzufahren. Die ersten Familien, die vor der Belagerung in den Süden evakuiert worden waren, kehrten nach Minas Tirith zurück, und die Straßen, die ich so verwaist gefunden hatte, summten vor Geschäftigkeit.
Irgendwann Anfang April wachte ich eines Morgens auf und entdeckte Merry, der neben meinem Bett stand. In dem stillen schattigen Zimmer wirkte er wie eine Explosion der Lebensfreude; seine Augen strahlten, und als er merkte, dass ich ihn ansah, nahm er meine Hand.
Ihr habt Recht gehabt! sagte er. Pippin lebt, er hat die letzte Schlacht überstanden... nicht ganz unverletzt allerdings, anscheinend ist ein Troll auf ihn gefallen.
Wie schön. Ich lächelte schwach. Dass er lebt, natürlich... nicht das mit dem Troll.
Merry grinste, dann wurde sein Gesicht wieder ernst.
Aber Ihr... Euch geht es nicht gut. Der Vorsteher hat mir gesagt, Eure Wunde hat sich entzündet...
Ich nickte und zuckte zusammen; in meinem jetzigen Zustand tat mir selbst diese kleine Kopfbewegung weh.
Ich bin sicher, es wird wieder. sagte ich müde. Und ihr... was macht Ihr? Geht Ihr nach Cormallen?
Ein durchbohrender Blick traf mich, scharf wie ein Schwert.
Ich hatte bis vor einer halben Stunde keine Ahnung, wie der Ort heißt, wo ich heute hinfahre. sagte er langsam. Eines Tages werdet Ihr mir erklären, woher Ihr so ungeheuer viel wisst.
Eines Tages. sagte ich. Aber nicht jetzt. Grüßt Pippin von mir, wenn Ihr ihn seht. Und...
... erschreckt nicht zu sehr, wenn Ihr Frodo das erste Mal begegnet. Ich drängte die Worte gerade rechtzeitig zurück und verfluchte hilflos den Mohnsaft, der es mir so schwer machte, klar zu denken.
Und...?
Nichts. Ich schloss die Augen. Ich wünsche Euch eine gute Fahrt, Merry Brandybock. Und wenn Ihr einen hochgewachsenen Waldläufer namens Damrod seht, mit grauen Augen und langem, schwarzen Haar, dann sagt ihm, dass ich ihn liebe...
Das werde ich.
Ich spürte ein letztes Mal den Druck seiner Hand, dann ging er leise hinaus.
Wo bist du, mein Liebster? Lebst du noch?
Ich seufzte, ließ den Kopf in die Kissen sinken und schlief ein.
Etwa eine Woche nach Merrys Abreise stieg das Fieber, und es stieg sehr hoch. Ich war tagelang nur halb bei Bewusstsein, und mein Dämmerzustand wurde von Träumen zerrissen, in denen ich wieder und wieder über das Schlachtfeld wanderte. Wieder und wieder erlebte ich den Angriff und das Entsetzen, das Gefühl des Ausgeliefertseins und den Moment, als mein Peiniger starb; während dieser Träume warf ich mich so heftig in meinem Bett hin und her, dass Oroher fürchtete, ich würde mich noch mehr verletzen und mich schließlich mit gepolsterten Ledergurten festbinden ließ.
Einmal öffnete ich die Augen und sah ein Gesicht, eingerahmt von dunklen Haaren, das sich über mich beugte. Das Gesicht eines Mannes, und er sah beinahe aus wie...
Damrod...? Ich versuchte, die Hand zu heben, aber es ging nicht. Eine kühle Hand berührte kurz meine Stirn, dann verschwand das Gesicht. Ein anderes tauchte auf, diesmal ganz gewiss das von Ioreth, und eine andere Hand hob meinen Kopf an. Ein Becher wurde gegen meine Lippen gedrückt; ich trank, und das bittere Aroma von starkem Weidenrindentee erfüllte meinen Mund, leicht gemildert mit Honig.
Leise Stimmen neben mir, gedämpft und besorgt.
Wie lange ist sie in diesem Zustand?
Schon seit Tagen, Herr Faramir. Wir versuchen, das Fieber zu senken, aber bis jetzt haben wir nicht viel Erfolg.
Ob er etwas von Damrod wusste? Konnte er mir vielleicht sagen, ob es ihm gut ging? Ob er verwundet war?
Ich wollte ihn fragen, aber als ich den Mund öffnete, kam ein anderer Becher, und diésmal schmeckte ich den süßlichen, schweren Mohnsirup. Ich schluckte und versuchte wieder zu sprechen, aber das Fieber ließ meinen Kopf schwimmen, und ich brachte nur ein leises Wimmern zustande.
Wird sie sich erholen?
Wir tun für sie, was wir können. Aber sie ist schwach.
Meine Gedanken verwirrten sich. Ein Feld voller Leichen... der Mann, der mich gegen den Boden presste... das Messer in meiner Hand und mein hochgerissener Arm... der schwere Körper, der auf meinem erschlaffte... Ich spürte, wie sich mein Rücken durchbog, als wollte ich ihn noch einmal abschütteln, und ich biss die Zähne zusammen; mein Atem war ein zischendes Stöhnen. Behutsame Hände hüllten mich in kaltfeuchte Tücher, während ich tiefer in die Betäubung versank.
Hände... die Hände eines anderen Mannes, nicht grausam diesmal, sondern zärtlich und sanft... ein klares, schönes Gesicht und ein anderer Körper über mir, der wundersam mit dem meinen verschmolz... behutsame Berührungen und Küsse, tief und berauschend...
Meine Glieder entspannten sich langsam, mein Atem wurde tief und regelmäßig.
Damrod.
*****
Nach diesem Tag wurde es besser. Das Fieber sank langsam, und die Wunde heilte endlich sauber aus. Mein Appetit kehrte zurück, und Ioreth brachte allerlei Köstlichkeiten aus der Küche, von denen sie hoffte, dass sie mir schmecken würden.
Es dauerte eine Woche, bis Oroher den Federkiel entfernte und eine weitere, bis Alandel mich hinaus in den Garten trug und ich mich in dem Liegestuhl wiederfand, in dem ich schon einmal einen ganzen Tag verbracht hatte. Und von diesem Stuhl aus sah ich um die Mittagszeit den jungen Truchsess von Gondor mit seiner Braut vorübergehen.
Und seine Braut war sie ganz gewiss; die beiden gingen dicht nebeneinander und ihre tiefe Verbundenheit war fast mit Händen zu greifen. Irgendwann, während ich mühselig gegen das Wundfieber kämpfte, musste sich Éowyn endlich von ihren kalten Sehnsüchten und aussichtslosen Wünschen gelöst und sich dem Leben zugewandt haben... und dem Mann, der sie so geduldig liebte. Ich beobachtete die beiden mit müder Zufriedenheit, und plötzlich wandte Faramir den Kopf und entdeckte mich. Die beiden kamen über den Rasen auf mich zu.
Noerwen! Der Truchsess lächelte mit echter Freude. Also geht es Euch wirklich besser! Ich hatte mir Sorgen gemacht...
Ich weiß. erwiderte ich. Ihr seid einmal bei mir gewesen, glaube ich.
Das stimmt. Er schaute zu Èowyn hinüber und sein Blick umarmte sie. Ich sah das Lächeln, das ihre Mundwinkel kräuselte, dann ließ sie sich ohne viel Federlesens auf dem Rasen nieder, ungeachtet des kostbaren, weißen Kleides das sie trug. Es war mit blauen und silbernen Fäden durchwirkt und floß wie kühles Wasser an ihr herunter, und es würde wahrscheinlich Grasflecken davontragen, wenn sie nicht sofort wieder aufstand. Statt dessen zog sie Faramir mit sich zu Boden, und er lachte und setzte sich neben sie.
Meine Braut Éowyn, die Weiße Herrin von Rohan. sagte er, und seine Augen leuchteten vor Stolz.
Hohe Frau... Ich hob leicht die Schultern, froh darüber, dass die starken Schmerzen im rechten Arm offensichtlich endlich der Vergangenheit angehörten. Ich würde mich gern angemessen verneigen, aber ich fürchte, ich kann noch nicht einmal aufstehen.
Sie lachte leise.
Das macht doch nichts. Ihre Stimme war hell, angenehm und klar, und ich stellte fest, dass ich ihre liebliche, entspannte Erscheinung kaum mit der Beschreibung in Einklang brachte, die ich von Tolkien kannte. Noch viel weniger konnte ich mir vorstellen, dass sie mit dem Schwert über ihrem toten Onkel stand und das Wagnis auf sich nahm, einen Alptraum anzugreifen.
Andererseits hatte ich mir auch nie vorstellen können, einem Mann die Kehle durchzuschneiden.
Ich unterdrückte den Schauder, der mir den Rücken hinterrieselte und schloss kurz die Augen. Dann stellte ich Faramir die Frage, die mich schon seit Tagen beschäftigte.
Habt Ihr von Euren Männern gehört? Sind sie wohlauf? Wisst Ihr etwas über... Ich zögerte. ...über Damrod von Ithilien?
Sein Gesicht verdunkelte sich.
Ich weiß nicht viel. sagte er. Ich weiß nur, dass einige Waldläufer gefallen sind; Mablung ist tot.
Ich zuckte zusammen und spürte, wie mir das Blut aus dem Gesicht wich. Mablung, der mit einer hässlichen Schmarre quer über der Stirn aus Osgiliath zurückgekommen war... ich hatte ihn zum Tor von Minas Tirith hereinmarschieren sehen. Die Verletzung hatte nicht einmal mehr richtig abheilen können, bevor er starb.
Und Damrod?
Ich will Euch nicht belügen. Er sah mich unverwandt an, mit ernsten, besorgten Augen. Wir können es nicht mit Sicherheit sagen. Viele Verletzte werden noch gepflegt, und die Listen der Toten sind noch nicht vollständig. Wir werden erst dann völlige Klarheit haben, wenn das Heer gemeinsam mit dem König zurückkehrt.
Ich verstehe. sagte ich. Ich... danke Euch. Mir versagte die Stimme. Meine Glieder wurden taub, als ich spürte, wie die altvertraute Panik heranrollte und mich zu überwältigen drohte.
Èowyn kam mir unerwartet zu Hilfe.
Habt keine Furcht. sagte sie. Faramir hat oft von Damrod gesprochen. Er ist ein guter Kämpfer... stark, bedachtsam und schnell. Er hat sicher überlebt. Ihre Finger schlossen sich um meine, und ich spürte ihre Kraft und ihren Mut so deutlich wie eine von Samt überzogene Stahlfeder. Die Schildmaid von Rohan... und jetzt schützte sie mich.
Eure Hand ist eiskalt. sagte sie ruhig. Und Ihr seid blass wie der Tod. Ihr müsst zurück ins Haus. Eine Mahlzeit und etwas Schlaf werden Euch wohl tun.
Ich verkniff mir den Hinweis, dass ich in den letzten Tagen kaum etwas anderes getan hatte, als zu schlafen... ich fühlte mich elend und ich wusste, dass sie recht hatte. Sie rief Alandel, und er trug mich in das Krankenzimmer zurück. Ich wurde ins Bett gesteckt und Èowyn schob höchstpersönlich angewärmte Steine unter meine Bettdecke. Dann verabschiedete sie sich und strich mir sanft das Haar aus dem Gesicht, bevor sie hinausging. Ich sah ihr nach, ehrlich beeindruckt von dieser Mischung aus Sanftheit, Entschlusskraft und Stärke, dann ließ ich den Kopf zurücksinken und hatte das Gefühl, als sei das Licht im Raum plötzlich verblasst.
Wo war er? Lag er verletzt in einem Feldlazarett? Oder war er auf dem Schlachtfeld geblieben, gefallen wie sein Kamerad Mablung?
Ich presste das Gesicht in die Kissen und atmete den zarten Duft nach Lavendel, Kamille und frischem Leinen ein.
Damrod.
Der April ging zu Ende; die Stadt war ein Wirbel aus Menschen, Stimmen und Musik, die die einst so stillen Straßen erfüllten. Spannung und Vorfreude lag in der Luft; auch die Heiler wurden davon angesteckt, und Gerüchte schwirrten durch die Häuser. Mir wurde bewusst, wie lange Gondor keinen König mehr gehabt hatte... mehrere tausend Jahre. Jetzt begann ein neues Zeitalter, und die Menschen warteten darauf, ihren neuen Herrscher kennenzulernen.
In der Nacht vor dem ersten Mai schlief kaum jemand; Fackeln und Lampen brannten, überall ertönte Musik. Ich stand an der Mauer des sechsten Ringes und schaute hinunter auf das fröhliche Durcheinander von Farben und Licht. Ganz in der Nähe spielte jemand eine betörend süße Melodie auf der Flöte. Ich lauschte eine Weile, dann hob ich den Blick und sah über die Bastion hinweg auf den Pelennor. Auch er war in dieser Nacht nicht still. Dort, wo die Höfe zum Teil wieder aufgebaut waren, brannten überall Lichter, und dicht vor der Stadt erhob sich ein riesiges Zeltlager. Den ganzen Tag hatte ich dort die Wimpel wehen sehen... das weiße Pferd auf grünem Grund für Rohan, der Schwan, der auf leuchtendem Blau für Dol Amroth die Flügel spreizte und natürlich das Banner des Königs, der weiße Baum und die Sterne, flammend hell auf dem tiefen Schwarz.
Ich wäre gern mit Ioreth hinunter gegangen; ihre Base aus Imloth Melui war gekommen, und als ich die beiden sah, wie sie im Garten saßen und miteinander redeten, war ich froh, dass ich inzwischen so viel mehr von ihr wusste, als in den Büchern stand.
Sie waren mir alle so teuer geworden. Und noch immer wusste ich nicht, ob der am Leben war, den ich am meisten liebte.
Das war auch der Grund, warum ich nicht mit den anderen hinunter vor das Stadttor ging, als der König endlich gekrönt wurde und in Minas Tirith einzog. Ich hätte Gandalf wiedersehen können, Merry und Pippin... ich hätte Aragorn sehen können, Frodo und Sam.
Aber ich war nicht sicher, ob ich Damrod sehen würde. Und ich fürchtete mich davor, ihn nicht zu sehen. Nachfragen zu müssen. Erfahren zu müssen, dass er gefallen war.
Also verkroch ich mich in Mardils Lagerraum. Auch er war geblieben; Schiffe waren endlich den Anduin hinaufgelangt und hatten Kräuter und Öle gebracht, die er lange entbehrt hatte. Ich half ihm, Eukalyptusöl, Zitrusöle und Fenchelessenz aus großen Krügen in kleine Phiolen umzufüllen und trug die neuen Vorräte in die Bestandslisten ein, die ich angelegt hatte, als ich anfing, in den Häusern der Heilung zu arbeiten. Wir sprachen nicht viel; ich spürte wohl, dass Mardil mich beobachtete, aber ich wollte keine Fragen beantworten.
Endlich, gegen Mittag, wurden draußen Stimmen und Schritte laut. Ich hob den Kopf. Eine kleine, prächtig herausgeputzte Gestalt im Weiß und Grün der Riddermark war auf leisen Sohlen hereingekommen und stand vor mir.
Merry! Ich stellte die Flasche, die ich gerade geöffnet hatte, vorsichtig auf den Tisch. Meine Güte, das ist wirklich... beeindruckend.
Der Hobbit lächelte; seine Augen funkelten.
Ich glaube, ich habe etwas gefunden, das Euch gehört. sagte er.
Was...
Sein Lächeln vertiefte sich und er trat zur Seite. Hinter ihm erschien jemand im Schatten des Türrahmens und stand plötzlich in dem breiten Streifen aus Sonnenlicht, der durch das Fenster fiel.
Weiche, staubbedeckte Reitstiefel. Ein silberner Harnisch, halb verhüllt von einem langen, dunkelgrünen Mantel. Und darüber ein Gesicht, das ich kannte.
Ich stand auf und tastete nach der Lehne meines Stuhles. Die Worte, die ich sagen wollte, erstarben mir in der Kehle. Ich machte einen Schritt nach vorne, stolperte und prallte gegen den Tisch. Die Flasche fiel um und plötzlich duftete der ganze Raum intensiv nach Orangen.
Da bin ich, mein Herz. sagte Damrod.
Ich machte einen weiteren Schritt auf ihn zu, und die Knie gaben unter mir nach. Bevor ich fallen konnte, war er bei mir und fing mich auf. In dem Moment, als ich seine Arme spürte, merkte ich, wie ich zu weinen begann, und ich sah ihn nur noch durch einen dichten Schleier. Ich hob eine zitternde Hand und legte sie auf seine Wange, und die Wärme und das leichte Kratzen der Bartstoppeln unter meiner Handfläche trafen mich wie ein heftiger Schock. Die Tränen strömten mir über das Gesicht, und dann lag sein Mund auf meinem und ich vergaß alles um mich herum.
Hinter mir hörte ich vage, dass Merry etwas vor sich hin pfiff; es klang wie die fröhlichste Melodie, die je komponiert worden war.
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