Winterfeuer
von Cúthalion

Kapitel 9
Mein Herz in deinen Händen

Ich lag minutenlang auf der Erde, bevor ich imstande war, wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Irgendwie gelang es mir, mich aufzusetzen, und ich tastete nach der Verletzung auf meinem Oberarm. Es war eine offene Wunde; plötzlich berührten meine Fingerspitzen etwas Hartes, Spitzes: Mir wurde übel vor Schmerz und ich hörte mich selbst wie von sehr weit weg aufschreien. Die Welt um mich her wurde erst dunkelgrau, dann schwarz und eine Weile wusste ich nichts mehr.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Rücken. An einem blassen Abendhimmel kamen die ersten Sterne heraus. Die sachliche Stimme, die mir heute schon einmal das Leben gerettet hatte, meldete sich wieder, sanft und drängend. Steh auf. sagte sie. Du musst in die Häuser der Heilung, und zwar schnell.

Mein erschöpftes Hirn produzierte Bilder von mir selbst, wie ich mich über fünf Kreise hinweg die Serpentinenstraße von Minas Tirith hinaufquälte... mein Arm aufgerissen, den Körper von eigenem Blut überströmt und von ... seinem, die Kutte in Fetzen. Das würde ich nie schaffen. Nie im Leben.

Die Stimme war hartnäckig. Und ob du das schaffst . Steh auf, und zwar sofort.

Es war ein unglaublich mühsames Unterfangen, aber irgendwann stand ich tatsächlich auf den Beinen; sie zitterten erbärmlich, aber sie trugen mich. Es gelang mir, den zerknitterten, feuchten Mantel mit einer Hand notdürftig um mich zusammenzuziehen und ein paar Haken zu schließen; ich wandte mich dem zerstörten Tor zu und ging sehr langsam darauf zu, wankend und unsicher.

„Hilf mir...“ hörte ich mich selbst flüstern, und ich erkannte meine Stimme kaum wieder. „Hilf mir... ich kann nicht... hilf mir...“

Und dann hörte ich den Klang von Pferdehufen, gedämpft auf dem weichen Boden. Ich drehte mich herum und blinzelte.

Ein einzelner Reiter kam auf mich zu, eine kleine Fackel in der Hand. Ich wartete stumm, und als er ganz nahe war, erkannte ich sein Gesicht. Ich öffnete den Mund, um seinen Namen zu sagen, aber kein Laut kam heraus. Trotzdem wandte er den Kopf, als hätte er mich gehört, und dann trafen sich unsere Augen.

„Damrod!“ sagte ich heiser. Und so unglaublich es klingt, in diesem Moment spürte ich, wie sich mein Gesicht in einem breiten Lächeln entspannte. Und Damrod lächelte überrascht zurück, und dann war sein Pferd neben mir.

„Noerwen, was tut Ihr hier? Das ist kein Ort für Euch. Kommt, steigt auf, ich bringe Euch zu den Häusern der Heilung.“ Er streckte mir die Hand entgegen, aber ich rührte mich nicht. Die seltsame, kurze Erheiterung war dahin; ich war mir meines Elends und meiner Nacktheit unter dem notdürftigen Schutz des Mantels nur allzu deutlich bewusst. Ich sah, wie seine Augen sich verengten und sein Lächeln verblasste.

„Was ist?“

„Ich kann nicht so leicht aufsteigen.“ sagte ich. „Ich fürchte, ich bin verletzt, Damrod.“

„Verletzt?“ Seine Stimme bekam einen scharfen, besorgten Klang. „Was...“

„Mein Arm.“ Ich nestelte ihn mit der gesunden Hand aus den Mantelfalten heraus. „Er ist gebrochen.“

Er war in Blitzgeschwindigkeit aus dem Sattel, steckte die Fackel in den Boden und half mir beim Hinsetzen. Er nahm den Arm sehr behutsam in beide Hände und drehte ihn sachte hin und her; trotzdem traten mir vor Schmerz die Tränen in die Augen.

„Das sieht übel aus.“ sagte er ruhig, und ich war ihm dankbar für seinen sachlichen Ton. „Wie ist das passiert?“

„Ich... ich bin hier nur kurz heruntergekommen und war eigentlich schon wieder auf dem Heimweg. Und dann wurde ich von hinten niedergeschlagen. Der... der Mann wollte mich erstechen, und er... wir... es gab ein ziemlich wildes Gerangel. Ich bekam den Dolch zu fassen und ich habe... ich habe ihn getötet.“

„Wo?“

„Da drüben.“ Ich deutete in die ungefähre Richtung. „Nicht weit, vielleicht ein paar Meter.“

Er warf mir einen scharfen Blick zu, dann legte er mir kurz die Hand auf die Schulter, zog die Fackel aus der Erde und ging ein paar Schritte in die Dunkelheit. Ich sah, wie er sich hinunterbeugte und etwas untersuchte, dann drehte er sich um und kam zurück. Sein Gesicht war hart.

„Ein Südling, mit Bart und Zöpfen? Und Ihr habt ihm die Kehle durchgeschnitten?“

Ich nickte; die Erinnerung würgte mich in der Kehle. Grobe Hände auf meiner Haut und Blut, das mich wie ein entsetzlicher Regen übersprühte, während er starb.

„Ich kann Euch in den Sattel heben und das Pferd führen.“ schlug er zögernd vor und für einen Sekundenbruchteil sah ich, dass er meinem Blick auswich. Es war natürlich offensichtlich... meine zerrissene Robe und der Zustand, in der sich die Kleidung des Südlings befand. Brennende Scham stieg in mir hoch, und allein die Tatsache, dass ich mich dessen schämte, was mir beinahe angetan worden war, machte mich plötzlich unglaublich wütend. Ich hob das Kinn und starrte ihn an, die Hand des unverletzten Armes zur Faust geballt.

„Nein, er hat mich nicht vergewaltigt.“ Die Worte stauten sich in meinem Mund, bitter wie Galle, und ich spie sie aus. „Das ist es doch, was Ihr euch fragt, nicht wahr? Nicht wahr? Natürlich hat er das vorgehabt... er hat mir die Kleider vom Leib gerissen, er lag auf mir und es fehlte wirklich nicht mehr viel, aber zum Glück vergaß er sein Messer, und ich hatte es in der Hand, bevor er sich wieder daran erinnern konnte. Und ich habe es benutzt... und Ilúvatar helfe mir, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie zuvor einen Menschen getötet.“

Ich schluckte hart.

„Und jetzt werde ich sein Bild jede Nacht vor mir haben, wenn ich die Augen schließe, und der bloße Gedanken daran macht mich krank.“ Die Stimme versagte mir und nun war ich es, die den Blick abwandte.

„Noerwen, es tut mir so leid.“ Damrod sprach sehr leise. „Ich würde Euch vor mich in den Sattel nehmen, damit ich Euch stützen kann... aber vielleicht möchtet Ihr nicht, dass Euch ausgerechnet jetzt ein Mann berührt. Deshalb habe ich gedacht, dass Ihr vielleicht lieber allein...“

Ich starrte ihn an; seine Augen waren voller Schmerz und Mitgefühl. Ich spürte, es fehlte nicht mehr viel, dass ich in Tränen ausbrach, aber ich drängte das Schluchzen mit aller Gewalt zurück; statt dessen verzog ich das Gesicht zu einem Lächeln, das zittrig und schief ausfiel.

„Ich wäre nur zu froh, wenn Ihr Euch als Stütze anbieten würdet.“ sagte ich; meine Stimme klang eigenartig hoch und dünn. „Denn die kann ich im Augenblick wahrhaftig gebrauchen. “

Dann war er bei mir, und er hob mich mühelos hoch, setzte mich sanft in den Sattel und schwang sich vorsichtig hinter mich auf’s Pferd. Das Tier fiel in einen langsamen Schritt. Er lenkte es durch die Überreste des großen Tores und bald hatten wir die meisten Leichen hinter uns gelassen. Der faulige Gestank ließ ein wenig nach, aber ich roch noch immer Blut, Rauch und einen bitteren Nachgeschmack nach Tod an seinem zerschrammten Harnisch, und auch an meinem eigenen Körper.

Der Geruch des Krieges.

Jetzt, da ich auf so unerwartete Weise zur Ruhe kam, spürte ich den Schmerz im Arm, dumpf und pochend, so lange ich ihn nicht bewegte. Aber auch die linke Brust tat weh, und zwar sehr. Vor meinem inneren Auge zuckte ein Bild auf: ein Gesicht mit gierigen Augen , das sich über mich beugte, während sich eine lieblose Hand mit aller Kraft in das empfindliche Fleisch grub. Ich tastete nach dem Arm, der locker um meine Mitte lag und fand eine andere Hand. Sie drehte sich und umschloss meine eisigen Finger warm und tröstend, und das Bild verblasste.

Als wir die Häuser der Heilung erreichten, war ich in einen Zustand der halben Betäubung gesunken. Nur ganz am Rande nahm ich wahr, dass dicht neben mir Stimmen laut wurden, erschrockene und besorgte Stimmen. Ich wurde vom Pferderücken gehoben und durch die abendstillen Kräutergärten getragen, und endlich fand ich mich auf einem Bett in einem der Behandlungszimmer wieder, als der Schmerz jäh zurückkam und meinen ganzen Körper durchzuckte. Ich wimmerte und riss die Augen auf. Überall brannten Kerzen; Oroher beugte sich über mich, sehr blass und mit gerunzelter Stirn, und direkt neben mir stand Ioreth und säuberte mit zusammengepressten Lippen den offenen Bruch an meinem Oberarm.

Der Vorsteher sah, dass ich bei Bewusstsein war und strich mir behutsam das feuchte, verwirrte Haar aus dem Gesicht.

„Ach Kind, dass Euch das zustoßen musste...“ sagte er leise und bekümmert. „Wärt Ihr doch nur hier oben geblieben!“

„Das war mein Fehler.“ sagte Ioreth, ungewohnt knapp. „ich hätte sie aufhalten müssen.“ Dann schwieg die alte Frau; ich spürte, wie sie ein sauberes Tuch über die Wunde legte. Sie ging zu einem kleinen Tisch hinüber und kam mit einem Tonbecher zurück. Sie schob einen stützenden Arm unter meinen Nacken; ich hob mühsam den Kopf und trank aus dem Becher, den sie mir an die Lippen hielt. Es war ein süßlicher, stark eingedickter Sirup, der durchdringend nach Mohn roch.

„Zur Betäubung.“ erklärte sie, den Blick gesenkt. „Wir müssen den Bruch noch richten, und das wird wehtun.“

„Macht Ihr Euch Vorwürfe?“ fragte ich. Der Sirup hatte ein taubes Gefühl auf meiner Zunge hinterlassen und meine Stimme klang mir heiser und undeutlich in den Ohren. „Das solltet Ihr nicht. Ihr hättet mich festbinden müssen, um mich aufzuhalten, Frau Ioreth.“

Ein kleines Lächeln geisterte um ihre Mundwinkel. „Wahrscheinlich.“ gab sie zu.

Die beiden warteten noch ein paar Minuten, um sicherzugehen, dass der Mohnsaft wirkte. Ich spürte, wie die Droge zunehmend meine Sinne verwirrte, aber ich merkte doch noch, dass Oroher kurz hinausging. Ioreth schlug die Decke über meinem Oberkörper zurück und nahm einen flachen Tiegel von dem kleinen Tisch neben dem Bett. Dann begann sie vorsichtig, eine süß duftende Salbe auf die verletzte Brust zu tupfen. Sie warf mir einen kurzen Blick zu und sah, dass ich sie schläfrig beobachtete.

„Nicht so schlimm, Kleines.“ sagte sie aufmunternd und lächelte mir zu. „Nur ein paar Kratzer und blaue Flecken, Ihr seid bald so gut wie neu.“ Das Lächeln erreichte ihre Augen nicht, und wieder waren ihre Lippen schmal. „Ich wünschte, ich hätte Euch nicht gehen lassen, es tut mir so furchtbar leid...“

Ich wollte sie wieder beruhigen, aber die Betäubung hüllte mich ein wie ein dichter, weißer Nebel, und die Worte entglitten mir, schlüpfrig wie die Salbe, deren würziger Geruch mir in die Nase stieg. Dann kam Oroher zurück, und die beiden richteten den offenen Bruch und legten einen festen Verband an, was ich dankenswerterweise kaum mehr mitbekam, und dann versank ich in einem watteweichen Nichts und die Welt wurde still.

*****

Er war hinter mir her. Meine Füße steckten im Boden fest wie in einem zähen Sumpf, und ich wusste, er würde mich gleich eingeholt haben. Und diesmal würde er das Messer an meine Kehle drücken und es nicht fallen lassen, diesmal würde er sein Ziel erreichen, und diesmal würde er mich töten anstatt andersherum. Und dann krallte sich eine erbarmungslose Hand im meine Schulter...

... und ich schoss im Bett hoch, keuchend und schweißüberströmt. Mein linker Arm schmerzte höllisch, und ich hörte meinen Atem, der wie ein würgendes Schluchzen klang.

„Kindchen?“

Ich sah mich verwirrt um und entdeckte Ioreth, die auf einer schmalen Liege neben meinem Bett lag; während der Schlacht hatten wir Dutzende davon zusätzlich in den Zimmern aufgestellt, damit wir uns ausruhen konnten, während wir die Patienten überwachten. Ioreth wandte sich zum Tisch, auf dem Kerzen in einem silbernen, sechsarmigen Leuchter brannten und nahm ein Tuch, das dort lag, dann tupfte sie mir sachte das Gesicht ab. Die Betäubung durch den Mohnsaft hatte nachgelassen, die Milderung der Schmerzen leider auch.

„Was tut Ihr denn hier?“ fragte ich müde.

„Auf Euch Acht geben, Kindchen.“ sagte sie. „Und von Zeit zu Zeit gehe ich hinaus und sage diesem ängstlichen Krieger vor der Tür, dass Ihr noch lebt.“

„Diesem ängstlichen... ist Damrod noch hier? Warum...“

„Er hat sich geweigert, zu gehen.“ In die müden Augen trat ein wissendes Lächeln. „Ich vermute, er würde am liebsten mit gezogenem Schwert vor Eurem Bett schlafen, damit Euch nur ja nichts zustößt. Wenn ich jemals einen betörten Mann gesehen habe...“

Ich rutschte unbehaglich auf dem zerknitterten Leinenlaken hin und her. „Nicht doch, bitte. Darf ich... darf ich ihn sehen? Vielleicht kann ich ihn ja dazu überreden, dass er in die Wachquartiere zurückgeht.“

Ioreth beäugte mich zweifelnd.

„Ich bin nicht sicher, ob sich das schickt, Kind...“

„Ioreth.“ Ich seufzte und biss die Zähne zusammen, als der gebrochene Arm gegen mein ungeduldiges Achselzucken protestierte. „Was erwartet Ihr denn bitte von einem Mann, der meine Unschuld mit der nackten Klinge verteidigen würde, wie Ihr sagt? Dass er Euch mit dem Schwertknauf eins überzieht und sich dann auf mich stürzt?“

Sie kicherte widerwillig. „Also gut, ich hole ihn.“

Ich ließ mich erleichtert in das Kissen zurücksinken und schloss die Augen. Ich dachte daran, wie Damrod mich den langen Weg die Straße hinauf vor sich im Sattel gehalten hatte, meinen Körper behutsam an seine Brust gedrückt. Ich hatte nach seiner Hand getastet, und er hatte sie festgehalten und erst wieder losgelassen, als er mich in die Obhut der Heiler übergab.

Und er war immer noch da.

Die Tür ging leise, und ich öffnete die Augen. Damrod kam herein, gefolgt von Ioreth. Er hatte sich offenbar gewaschen und umgezogen. Sein Haar war gekämmt; er trug ein sauberes, dunkelgrünes Wams und darunter ein weißes Hemd mit weiten, locker fallenden Ärmeln, schwarze Beinkleider aus einem Material, das wie schwarzes Wildleder aussah und weiche Stiefel. Ich sah ihn an und lächelte.

„Was macht Ihr denn hier?“ fragte ich. „Glaubt mir, ich bin in Sicherheit. Und Ihr müsst schlafen, Ihr habt eine Schlacht hinter Euch...“ .... und eine vor Euch. Der Gedanke kam ungebeten und ich drängte ihn brüsk beiseite. „Habt Ihr etwas gegessen?“

„Diese hochherzige Dame hier...“ er machte eine fast höfische Geste in Ioreths Richtung, was sie sichtlich genoss, „... hat für mein körperliches Wohl gesorgt. Es geht mir sehr gut. Aber wie fühlt Ihr euch, Noerwen?“

„Mittelprächtig.“ entgegnete ich trocken. „Und ich habe wahrhaftig schon besser geträumt, muss ich sagen.“

Damrod öffnete den Mund, um zu antworten, als Ioreth plötzlich vernehmlich gähnte. Sie schlug erschrocken eine Hand vor den Mund; ich konnte sehen, wie erschöpft sie war. Kein Wunder - sie hatte in den letzten zwei Tagen noch weniger Schlaf gehabt als ich.

Damrod dachte offenbar in die selbe Richtung. „Vielleicht möchtet Ihr Euch zur Ruhe begeben, Frau Ioreth?“ fragte er. „Ich könnte hierbleiben, wenn Noerwen nichts dagegen einzuwenden hat – und wenn es die Regeln der Häuser nicht verletzt.“

Erstaunlicherweise hatte Ioreth nichts mehr über Schicklichkeit oder Anstand zu sagen, und fünf Minuten später waren wir tatsächlich allein im Zimmer. Ich betrachtete Damrod, der sich auf einem Stuhl am Tisch niederließ. Das Licht der Kerzen ließ sanfte Reflexe in den weichen, dunklen Wellen seines Haares aufschimmern, und goldene Pünktchen glitzerten in den tiefgrauen Augen. Er hob den Kopf und erwiderte meinen Blick, und wieder musste ich lächeln.

„Wie habt Ihr das angestellt?“ fragte ich. „Ich habe Ioreth gebeten, Euch hereinzuholen, damit ich Euch in Euer Quartier schicken kann, und jetzt bleibt Ihr statt dessen hier. Und um ehrlich zu sein, ich bin sehr froh, dass Ihr da seid. Kommt... bleibt nicht auf diesem Stuhl sitzen, nehmt die Liege. Dann könnt Ihr wenigstens ein bisschen schlafen.“

Er zögerte, aber nur kurz. Dann blies er die Kerzen aus und kam auf das Bett zu. Ich hörte, wie die Lederriemen der Liege leise knarrten, als er sich neben mir ausstreckte.

„Gute Nacht, Noewen.“ kam seine Stimme aus der Dunkelheit. „Und fürchtet Euch nicht – wer Euch verletzen will, muss erst an mir vorbei.“

„Ich weiß.“ sagte ich leise. Und ich wusste es wirklich. Ohne nachzudenken, streckte ich meine gesunde Hand aus und fand, vielleicht aus Zufall, auf Anhieb die seine. Sie war ebenso warm und tröstlich wie beim ersten Mal, und ich umschloss sie voller Erleichterung und erfüllt von einem Gefühl des Friedens. Dann schlief ich ein.

Als ich wieder erwachte, drang das erste, graue Licht des Tages durch das Spitzbogenfenster herein. Tageslicht... wenigstens was das anging, war die Macht des Dunklen Herrschers gebrochen. Ich drehte mich vorsichtig auf die Seite und betrachtete den Mann, der friedlich schlummernd neben mir lag.

Die ruhige Nacht hatte die angestrengten Linien in seinem Gesicht geglättet. Es war nicht nur ein angenehmes, gut geschnittenes Gesicht... es hatte seine eigene Schönheit, die nicht nur mit dem regelmäßigen Knochenbau, den elegant geschwungenen Brauen und der Form und Farbe seiner Augen zu tun hatte. Und während ich ihn anschaute, wurde mir klar, wie sehr mich dieses Gesicht anzog.

Ich war fünfundzwanzig Jahre alt, und entgegen den Gepflogenheiten in der Welt, in der ich bis vor kurzer Zeit noch gelebt hatte, waren Männer selten gewesen. Die flüchtigen Begegnungen, die stattgefunden hatten, waren nie über ein paar Küsse und ein- oder zweimal über ein paar oberflächliche Zärtlichkeiten hinaus gegangen. Die schwierige Beziehung zu meinem Vater hatte mich schmerzhafte Wahrheiten gelehrt; Menschen, die einem nahe waren, konnten einen bitter verletzen und völlig unerwartet im Stich lassen. Daher hatte ich kaum Freundschaften geschlossen und Annäherungsversuche jahrelang konsequent abgewehrt. Das hatte mir Sicherheit gegeben... aber ich war dadurch auch sehr allein geblieben.

Und jetzt war ich hier, umgeben von Menschen aus einer völlig anderen, schockierend fremden Welt – aber ich fühlte mich auf sicherem Boden. Zum ersten Mal begriff ich, wie erstaunlich das war. Wo ich in einer anderen Welt argwöhnisch Abstand gehalten hatte, schloss ich in Mittelerde mühelos Freundschaften. Ich hatte nie wirklich Ärztin sein wollen... aber in Minas Tirith kam alles, was ich während des widerwilligen Medizinstudiums gelernt hatte, zu mir zurück, als hätte es in einem geheimen Winkel meines Verstandes nur darauf gewartet, endlich zum Wohle anderer eingesetzt zu werden.

Und hier war nun dieser Mann... vielleicht das Überraschendste von allen. Ein sanftmütiger, liebevoller Freund und ein Krieger zugleich – die Tatsache, dass seine Ankündigung, mich nötigenfalls mit Leib und Leben zu verteidigen, kein leeres Versprechen war, raubte mir buchstäblich den Atem. Mir war schleierhaft, womit ich mir eine derart selbstlose Ergebenheit verdient hatte.

„Damrod...“ flüsterte ich. Er seufzte und regte sich, dann öffnete er die Augen. Er sah, dass ich halb über ihn gebeugt lag und blieb still liegen. Sein Blick war in Sekundenschnelle hellwach, sein Gesicht aber ruhig und nachdenklich; ich spürte seinen Atem auf meiner Wange. Dann hob er langsam eine Hand und legte sie sanft auf meinen Hinterkopf. Ich gab der Berührung nach und sah mein Bild dicht vor mir in den tiefgrauen Augen gespiegelt.

Dann küsste ich ihn.

Er schmeckte nach Holzfeuer und nach Schlaf; ich spürte, wie seine Lippen sich unter meinen in einem erstaunten Lächeln entspannten. Er machte keinen Versuch, sich mir zu entziehen, umarmte mich aber auch nicht. Ich begriff, dass er vermeiden wollte, mir wehzutun, und diese Erkenntnis entzündete ein warm glühendes Feuer in meinem Herzen und in meinem Körper. Ich hatte keine Hand frei, um ihn so zu berühren, wie ich es mir in diesem Moment wünschte, aber ich konnte ihm auch auf andere Weise zeigen, wie viel mir an ihm lag.

Ich verstärkte den Druck meines Mundes, dann wich ich wieder ein wenig zurück. Ich fühlte, wie seine Hand meinen Rücken hinunter glitt und etwas in meinem Inneren übernahm ohne zu zögern die Regie. Ich suchte erneut seine Lippen, überrascht von dem plötzlichen Hunger, der mir alle Scheu nahm. Sein Mund öffnete sich unter meinem und für einen schwindelerregend köstlichen Augenblick berührten sich unsere Zungen. Ich hörte, wie er leise aufseufzte, dann vergrub er die freie Hand in meinem Haar, das sein Gesicht ein Vorhang einhüllte. Ich hob den Kopf und holte tief Atem, dann küsste ich ihn wieder, und dieser Kuss war tief und verlangend, und ein erstickter Laut des Entzückens kam aus meiner eigenen Kehle und jagte mir einen warmen, prickelnden Schauder über den Rücken. Seine Hand lag auf meiner Schulter und streichelte sie sanft; dann glitten die Finger tiefer. Das Leinentuch und die Wolldecken waren längst heruntergerutscht; ich trug nur noch ein ärmelloses Hemd mit weitem Ausschnitt, und mitten im Kuss spürte ich, wie seine Hand unter den Stoff schlüpfte und sich um meine rechte Brust legte. Dann wanderte sie zärtlich suchend hinüber zur anderen Seite und ---

„Ah - nicht!“

Ich zuckte heftig zurück und fiel dank der ruckartigen Bewegung fast aus dem Bett. Ich unterdrückte mit aller Macht einen Schmerzensschrei und es dauerte ein paar Augenblicke, bis ich mich zusammengenommen hatte. Vorsichtig schaute ich zu Damrod hinüber. Der Anblick war ernüchternd; er saß auf der Liege, war sehr blass und hielt die Augen gesenkt.

„Damrod...“ begann ich.

Er blickte auf und ich sah, dass ihm jetzt die Röte in das Gesicht stieg.

„Es tut mir leid, Noerwen.“ sagte er, und seine Stimme klang erbittert. „Was für ein unglaublicher Flegel ich bin! Euch so zu berühren, als wäret Ihr die Meine... nach dem, was Euch zugestoßen ist! Das war unverzeihlich.“

Er stand auf.

„Das Beste wird sein, ich gehe sofort.“ sagte er und wandte den Blick wieder ab. „Verzeiht mir, wenn Ihr könnt... ich werde Euch nicht mehr zu nahe treten.“

Plötzlich begriff ich. Natürlich.... das konnte er nicht wissen.

„Halt, Damrod!“ Er blieb stehen, die Hand schon am Türknauf. „Du hast nichts Unverzeihliches getan. Darf ich dich daran erinnern, wer dich zuerst geküsst hat? Du bist zärtlich und wunderbar, und ich bin dir nicht böse. Natürlich bin ich nicht böse!“

Er drehte sich um und sah mich an, unsicher und zweifelnd. Ich betrachtete ihn, und ein Teil von mir lauschte ungläubig dem Nachklang meiner Worte. War ich dabei, ihm allen Ernstes eine Liebeserklärung zu machen? Natürlich war ich das... denn wahrhaftig, ich liebte ihn. Ganz einfach – ich liebte ihn. Nie im Leben war mir etwas so vollkommen klar gewesen.

„Ich bin zurückgezuckt, weil meine linke Brust verletzt ist! Dieses... dieses Vieh hat sich darauf abgestützt, und jetzt ist alles grün und blau und voller Kratzer. Wenn diese Verletzungen nicht wären, meinst du, ich hätte dich losgelassen?“

Ein winziges Licht leuchtete in seinen Augen auf, aber ich sprach weiter, die Hände im Schoß gefaltet, wie ein Schulmädchen bei dem sorgsam einstudierten Vortrag einer Ballade.

„Bevor du gekommen bist, habe ich von diesem Mann geträumt. Er hat mich gejagt wie eine hilflose Beute, und am Ende des Traumes hat er mich gepackt, und ich wusste, diesmal werde ich nicht mehr entkommen. Und wenn du jetzt gehst, wird mich dieser Traum jede Nacht verfolgen, und davor fürchte ich mich.“

Sein Bild verschwamm hinter einem plötzlichen Tränenschleier.

„Ich will nicht, dass du dich zurückziehst, Damrod.“ sagte ich leise. „ich will, dass du mich wieder so berührst, als wäre ich die Deine... denn das bin ich, wenn du mich möchtest. Das bin ich.“

Ich schloss die Augen. Damrod schwieg, und für einen Moment packte mich die entsetzliche Angst, dass ich mich zu weit vorgewagt hatte... dass ich seine Annäherung missverstanden hatte, dass sie nichts weiter war als die flüchtige Lust eines Kriegers, der allzu lang keine Frau mehr gehabt hatte. Dass ich wieder einmal zurückgewiesen wurde wie ein unpassendes, unerwünschtes Geschenk.

Doch dann war er mit zwei großen Schritten bei mir, er saß er auf der Bettkante und ich spürte seine Arme um mich.

„Noerwen.“ sagte er. „Noerwen!“ Seine Stimme war atemlos und staunend und er streichelte mein Haar und meine Wangen und küsste mir die Tränen vom Gesicht.

*****

Als Ioreth eine Viertelstunde später kam, um nach mir zu schauen, lag ich züchtig zugedeckt in meinem Bett, und Damrod saß am Tisch. Sie ließ ihren Blick von ihm zu mir wandern. Was immer sie dachte, sie behielt es für sich, und das rechnete ich ihr hoch an. Damrod verabschiedete sich von uns beiden mit einer formvollendeten Verbeugung, schenkte mir ein heimliches Lächeln, das sie nicht sehen konnte, und ging hinaus.

Ich bekam mein Frühstück auf einem Tablett serviert und aß etwas, aber nicht viel; zum einen raubten mir die Nachwirkungen des Mohnsaftes den Appetit, zum anderen ging mir die Szene von vorhin im Kopf herum.

Was hatte ich da getan?

Er war ein wunderbarer Mann, gar keine Frage. Er liebte mich... noch nie war ich mir einer Sache so sicher gewesen. Und ich liebte ihn. Beim Gedanken an sein Gesicht, seine Augen und an die Berührung seiner Hände erfasste mich ein sanfter Schwindel, und das Blut kreiste rascher durch meinen Adern. Ich war von Wärme erfüllt und musste lächeln.

Trotzdem – was hatte ich da getan?

Was, wenn ich von einem Moment ebenso plötzlich verschwand, wie ich aufgetaucht war? Wenn ich dem Kuss noch mehr folgen ließ und er blieb am Ende mit leeren Händen zurück? Außerdem... eine letzte Schlacht lag noch vor ihm. Ich hatte keinen Zweifel, dass er kämpfen würde. Damrod war kein Mann, der die Gefahr mied, vor allem dann, wenn er den Kampf als seine Pflicht ansah. Es mochte wohl geschehen, dass er fiel.

Als ich mit meinen Gedanken an diesem Punkt war, kam glücklicherweise Ioreth herein, um das Frühstückstablett wieder abzuholen.

„Wann darf ich wieder hinaus?“ fragte ich.

Sie warf mir einen ungläubigen Blick zu.

„Hinaus?“ fragte sie. „Wo wollt Ihr denn hin, Liebchen? Einen Spaziergang machen? Das Schlachtfeld säubern?“

„Ich möchte einfach an die frische Luft,“ Meine Stimme klang quengelig; ich biss mir auf die Lippen und bemühte mich um einen freundlichen, gelassenen Tonfall. „Ich habe seit fast einer Woche keine Sonne mehr gesehen. Meint Ihr nicht, dass ich wenigstens in den Garten gehen könnte?“

„Ich bin nicht sicher, ob Ihr überhaupt gehen könnt, Liebchen.“

„Aber wieso denn? Meinen Beinen fehlt doch nichts!“

Es klopfte, und Ioreth seufzte erleichtert. „Kommt herein!“

Die Tür öffnete sich einen Spalt und Mardils zerzauster grauer Haarschopf kam zum Vorschein; er spähte vorsichtig ins Zimmer, und als er Ioreth entdeckte, wurde der Ausdruck auf seinem freundlichen, alten Gesicht wachsam – um es milde auszudrücken.

„Mardil!“rief ich, aufrichtig erfreut.

„Na?“ Ioreth beäugte den alten Kräutermeister spöttisch. „Weißt du nicht mehr, wo du das Johanniskraut gelassen hast und bist du gekommen, um den einzigen Menschen in ganz Minas Tirith zu fragen, die sich in deinem Durcheinander auskennt?“

Mardil kam herein und schloss die Tür hinter sich.

„Es gibt kein Durcheinander mehr, meine liebe Ioreth.“ bemerkte er sanft. „Und das habe ich Noerwen zu verdanken. Wie geht es Euch, mein liebes Kind?“

„So lange ich den Arm stillhalte, ganz gut.“ sagte ich und lächelte ihm zu. „Aber ich würde mich über eine Tasse Pfefferminztee aus Euren Vorräten freuen.“

„Das erledige besser ich.“ sagte Ioreth resolut. „Sonst trägt Mardil die Pfefferminze in die Küche, und wenn er dort ist, weiß er nicht mehr, was er eigentlich damit wollte.“

Sie wirbelte hinaus und die Tür knallte hinter ihr zu. Ich starrte verdutzt hinter ihr her.

„Was war das denn?“

„Nichts Ungewöhnliches, mein Kind.“ Mardil zog sich den Stuhl neben das Bett und ließ sich darauf nieder. „Ich kenne Ioreth schon seit über 40 Jahren. Wir haben mehr oder weniger gleichzeitig angefangen, hier zu dienen. Damals war sie...“ Er blinzelte einen Moment abwesend ins Leere. „... nun, sie war eine hübsche, muntere junge Frau, und geredet hat sie schon genauso viel wie heute... nun ja, vielleicht ein bisschen weniger.“ Er warf mir aus den Augenwinkeln einen ironischen Blick zu. „Ich mochte sie sehr, aber ich war auch damals schon ein ziemlicher Eigenbrötler. Und ein wenig vergesslich, fürchte ich. Dummerweise habe ich sie ein paar Mal versetzt, als wir eigentlich etwas zusammen unternehmen wollten. Nun, vermutlich war sie ohnehin nicht so besonders interessiert...“

Ich starrte ihn an und tat mein Bestes, um diese erstaunliche Information zu verdauen.

„Aber Ihr wart interessiert, nicht wahr, Mardil?“ sagte ich endlich.

„Gewissermaßen.“ Ein sanftes, erinnerungsseliges Lächeln blitzte kurz in den blauen Augen auf. „Sie war wirklich reizend, wie ein munterer, kleiner Vogel... Aber sie hat sich vielleicht nicht gerade einen zerstreuten Träumer gewünscht, der sich mit alten Sprüchen und Kräuterrezepturen besser auskannte als mit den Wünschen und Sehnsüchten von Frauen. Und so ging sie dann eines Tages fort und heiratete einen braven Mann, und sie waren glücklich zusammen. Als er vor ein paar Jahren starb, kam sie wieder zurück zu uns und stellte fest, das ich mich nicht geändert hatte. Und seitdem bin ich von Zeit zu Zeit die Zielscheibe ihrer ... eh... Scherze.“

Er stand auf und schaute auf mich herunter.

„Ich muss wieder hinunter. Ich habe ein paar neue Mischungen gegen Wundfieber und Schmerzen hergestellt... sie sind sogar schon abgefüllt. Ich muss die Gläser nur noch beschriften.“ Er lächelte.

„Ich wünschte, ich könnte Euch helfen.“ sagte ich betrübt.

„Aber das habt Ihr doch schon.“ Er tätschelte meine Schulter, dann ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich.

Ich trank den Tee, den mir Ioreth ein paar Minuten später brachte ( und der sehr gut war) und verschlief mehr oder weniger den ganzen Rest des 16. März, während die Heerführer in der Veste darüber berieten, was jetzt zu tun sei. Am Abend erwachte ich, als ein prächtiger Sonnenuntergang die Wände meines Zimmers vergoldete, bekam eine kleine Mahlzeit serviert und schlief fast sofort wieder ein.

Damrod war den ganzen Tag über nicht ein einziges Mal aufgetaucht; ich vermisste ihn, nahm ihm aber nicht übel, dass er keine Zeit hatte, zu kommen. Allerdings hoffte ich sehr, ihn wenigstens noch einmal zu sehen, bevor das Heer abzog, und ich nahm mir vor, spätestens am nächsten Tag einen Boten in die Quartiere der Wache zu schicken, um ihn herzubitten (wahrscheinlich Ioreth, und die Kommentare, die mir zweifellos bevorstanden, wenn ich das tat, wagte ich mir kaum vorzustellen).

Am nächsten Morgen fühlte ich mich wesentlich besser; nach dem Frühstück kam Oroher, wechselte den Verband und brachte mir eine Schlinge, in der ich den Arm ruhigstellen konnte. Er erlaubte mir auch, hinauszugehen, wenn ich es wollte und ließ Alandel einen Liegestuhl unter den Bäumen im hinteren Garten aufstellen. Nachdem Ioreth mir in einer (reichlich mühsamen) Prozedur geholfen hatte, mich anzuziehen, bewältigte ich am späten Vormittag endlich den Weg ins Freie, auf ihren Arm gestützt.

Eine blasse Märzsonne schien auf den Rasen unter den Bäumen, die übersät waren mit dicken Knospen. Als ich den Liegestuhl erreichte, ließ ich mich erleichtert hineinsinken; offensichtlich war ich doch etwas schlechter beisammen, als ich gedacht hatte. Ioreth faltete die Decke auseinander, die über der Lehne gelegen hatte, hüllte mich darin ein wie in einen warmen Kokon und stopfte sie sorgsam fest.

Ich blinzelte zu ihr hoch.

„Sagt mal, Ioreth... wie ist das eigentlich mit Euch und Mardil? Er hatte vorhin allerhand liebenswürdige Dinge über Euch zu sagen.“

„Mardil?“ Sie zuckte zusammen. „Der alte Zausel? Nun... auf seine Liebenswürdigkeiten kann ich wirklich verzichten!“

„Aber wieso denn das? Wenn ich ihn richtig verstanden habe, mochte er Euch einmal sehr gern...“

„Der?“ Sie schnaubte vernehmlich. „Dann hatte er aber eine höchst merkwürdige Art, es zu zeigen!“ Sie sah mich an und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder ein wenig weicher. „Ich muss zurück ins Haus, Liebchen. Heute Nachmittag bringe ich Euch etwas zu essen, und wenn Ihr wieder in Euer Bett möchtet, dann müsst ihr nur rufen. Es ist immer irgend jemand im Garten, der Euch behilflich sein kann.“

Sie nickte mir zu und eilte geschäftig davon. Ich lächelte in mich hinein; wenn ich mich nicht täuschte, dann war sie damals durchaus an ihm interessiert gewesen... vermutlich nahm sie ihm nach immerhin 40 Jahren heute noch übel, dass er sie in seiner Gedankenlosigkeit ein paar Mal sitzen gelassen hatte. Ich legte mich etwas bequemer zurecht, atmete den süßen, frischen Duft des taufeuchten Grases ein und schloss die Augen.

Als ich sie wieder öffnete, wusste ich einen Moment lang nicht, wo ich war. Die Sonne stand tief und tönte den Garten mit tiefem Gold und rötlichem Braun. Ich blinzelte, nestelte die gesunde Hand aus dem warmen Deckenkokon und rieb mir über die Stirn. Als ich den Kopf zur Seite drehte, blickte ich geradewegs in das Gesicht von Damrod, der neben der Liege im Gras saß.

Es war wie ein sanfter, aber nachdrücklicher Schlag mitten in den Solarplexus; jähe Wärme schoss mir in die Glieder und es dauerte ein paar Sekunden, bevor die Welt aufhörte, sich um mich zu drehen.

„Hallo, Noerwen.“ sagte er leise. Ich hätte gern geantwortet, aber mir fehlte buchstäblich der Atem. Ich lächelte ihn an und brachte endlich eine Frage zustande.

„Wie lange bist du denn schon hier?“

„Ein paar Minuten.“ Er hob eine Hand und legte sie auf meine Wange. Ich schmiegte mein Gesicht in seine Handfläche und seufzte. „Die unvergleichliche Frau Ioreth war eben hier und hat dir etwas zu Essen gebracht. Sie sagte, sie sei schon ein paar Mal hier gewesen, aber du hast die ganze Zeit geschlafen. Das Tablett steht neben dir auf dem Boden.“

„Hast du schon gegessen?“

„Keine Sorge, wir werden gut versorgt bei der Wache der Stadt.“ Sein Blick ruhte auf mir, intensiv und warm wie eine Umarmung. „Ich bin gekommen, weil ich mir so sehr gewünscht habe, dich zu sehen. Ich habe in den letzten Minuten einfach hier gesessen und dich angeschaut. Es war einer der friedlichsten Momente, die ich in den letzten Monaten erlebt habe.“ Er stockte. „Weißt du... du bist so wunderschön.“

Ich sah ihn lange an.

„Du bist nicht nur deswegen gekommen, oder?“ fragte ich endlich. „Du willst dich verabschieden. Du ziehst morgen mit vor das Schwarze Tor.“

„Woher...“ Natürlich, eigentlich konnte ich das nicht wissen. Nicht, dass es irgendeine Rolle spielte. Nicht jetzt und nicht hier.

„Wie du schon einmal bemerkt hast, Damrod von Ithilien; es wird viel geredet in den Häusern der Heilung.“ sagte ich leichthin.

Ich betrachtete sein Gesicht... die schön geformten, tiefgrauen Augen mit den rußschwarzen Wimpern (erstaunlich dicht für einen Mann)... die hohen Wangenknochen, die gerade kühne Nase und der fein gezeichnete Mund. Seine Haut hatte eine frische, kräftige Farbe wie bei allen Menschen, die sich hauptsächlich an der frischen Luft aufhalten.

„Und was erwartest du jetzt von mir? Dass ich dich wieder einmal fortschicke, dir alles Gute wünsche und die nächsten Wochen geduldig wartend auf den Zinnen von Minas Tirith verbringe, wie man es von einer anständigen Jungfer erwarten kann? Und dass ich dich mit Blumen bekränze, wenn du wiederkommst – falls du wiederkommst?“

Meine Stimme versagte und ich wandte den Kopf ab. Mir war plötzlich hundeelend zumute; mein Vorauswissen aus den Büchern des Pengolodh nützte mir, was Damrod anging, überhaupt nichts. Vor meinem inneren Auge sah ich den Professor, an einem Wintertag nach dem Ringkrieg mit dem Fürsten von Ithilien am Feuer sitzen, während der Sturm im Kamin heulte. Dies war der Tag, als ich Frodo, den Neunfingrigen traf. sagte Faramir. Ich ließ ihn unter der Bewachung von zwei Männern zurück, Mablung und Damrod. Schade, dass Ihr Damrod nicht mehr kennen lernen könnt; er ist bei der Schlacht vor dem Schwarzen Tor gefallen. Es starben nicht viele in diesem Kampf, aber er war einer von ihnen, und er fehlt mir sehr.

Die Szene stand in grausamer Klarheit vor mir, und ich biss die Zähne zusammen. Ich wusste es nicht. Ich konnte nicht wissen, ob er überleben würde.

Er nahm mein Kinn in die Hand und drehte meinen Kopf sanft, aber bestimmt wieder in seine Richtung.

„Ich halte nicht viel von Blumenkränzen.“ sagte er, und ich sah mit einigem Staunen das Lächeln in seinen Augen. „Mir sind die Kräuter von Ithilien lieber. Als du nach Osgiliath unten am Tor auf mich gewartet hast, rochen deine Kutte, deine Haut und sogar dein Haar nach Rosmarin, würzig und stark. Erinnerst du dich an den Tag?“

Als ob ich ihn je vergessen könnte.

„Was wünscht du dir von mir?“

„Zeit.“ Ich sah ihn offen an. „ich weiß, dass ich nicht die einzige Frau bin, die jetzt jemanden verabschieden muss – einen Vater, einen Gatten, einen Sohn. Aber sie haben mir alle etwas voraus: Sie hatten Zeit mit den Männern, denen ihr Herz gehört, und zwar schon vorher. Ich nicht.“

„Was wünscht du dir von mir?“ wiederholte er.

„Kannst du mich auf mein Zimmer bringen?“ sagte ich. „Ich sollte hineingehen, es wird kühl."“

„Gewiss.“ erwiderte er. „Ich habe um Urlaub gebeten bis morgen früh; dann werden die Männer von Gondor vor den Toren der Stadt Aufstellung nehmen und das Heer macht sich auf den Weg.“

Bis morgen früh.

Wir sahen einander in die Augen und die Stille zwischen uns dehnte sich . Dann gab er sich einen Ruck und half mir behutsam aus dem Stuhl. Ich ging langsam über den samtigen Rasen, auf dem das Sonnenlicht sich wie ein tiefgoldener Strom zwischen die immer länger werdenden Schatten ergoss, und die ganze Zeit war ich mir seiner Hand, und seines stützenden Armes überdeutlich bewusst.

Wir gingen ins Haus und er führte mich durch leere Gänge zu meiner Kammer; wir begegneten niemandem außer Alandel, der mich freundlich grüßte und Damrod einen neugierigen Blick zuwarf. Ich bat ihn, Oroher und Ioreth auszurichten, dass ich früh schlafen gegangen sei (und ich wagte nicht, Damrod dabei anzusehen). Dann brachte er mich bis vor meine Zimmertür und wir blieben davor stehen. Er legte mir die Hände auf die Schultern.

„Noerwen...“ begann er.

Ich hob die gesunde Hand und legte sie auf seinen Mund.

„Still.“ sagte ich leise. „Ich liebe dich, Damrod. Ich liebe dich.“

„Aber was, wenn ich... oder wenn du...“

Ich schüttelte leicht den Kopf, zog ihn mit mir ins Zimmer und schloss die Tür hinter uns beiden. Zum ersten Mal war ich dankbar, dass man sie verriegeln konnte. Ich tat es und wandte mich dann wieder zu dem Mann um, den ich liebte.

Er stand neben den sauber gemachten, frisch bezogenen Bett; auf dem Tisch entdeckte ich sogar einen kleinen Korb mit Obst und Gebäck und noch etwas, das mich wirklich verblüffte... eine schöne, fein geschliffene Karaffe mit dunkelrotem Wein und zwei Gläser. Zwei Gläser. Das konnte nur Ioreth gewesen sein... und plötzlich musste ich lachen.

Alte Kupplerin.“ murmelte ich kopfschüttelnd. Dann ging ich zu Damrod hinüber, bis ich dicht vor ihm stand.

„Das wird eine seltsame Liebesnacht werden...“ sagte ich, meinen Mund dicht vor seinen Lippen. „Ich kann dich nicht einmal richtig umarmen, und ausziehen kann ich mich auch nicht. Du wirst mir helfen müssen.“

Plötzlich lächelte er und ich entdeckte das Glitzern in seinen Augen wieder, das ich so liebte.

„Ich habe schon schwerere Aufgaben bewältigt.“sagte er ernsthaft.

Und er erledigte sie langsam und gründlich. Er streifte mir die weite Kutte über den Kopf und half mir auch aus dem ärmellosen Hemd. Schneller, als ich gedacht hatte, stand ich nackt vor ihm. Ich hörte, wie er scharf den Atem einsog, als sein Blick auf die verletzte Brust fiel; seine Augen wurden fast schwarz.

„Es tut mir so leid.“sagte er leise, und dann, ein wenig atemlos: „Noerwen, bist du... wirklich sicher?“

Ich lachte wieder; mein Herz raste.

„Liebster, meinst du das ernst?“ fragte ich.

Er gluckste leise, dann zog er mich an sich und küsste mich. Es war ein tiefer, hungriger Kuss, der erst ein Ende nahm, als ich ein winziges Stück von ihm abrückte und nach Luft schnappte. Das Blut sang in meinen Adern und ich spürte, wie mir die Knie weich wurden. Ich machte ein paar Schritte rückwärts und ließ mich auf das Bett sinken. Dann sah ich ihm zu, wie er sich auszog. Er legte Wams, Hemd und Hosen sorgfältig über meine Kutte auf den Stuhl. Ich sah, dass er dort, wo sein Körper normalerweise von Stoff bedeckt wurde, so weiß war wie Milch; seine Brust war glatt, mit schöner, fein definierter Muskulatur, die Hüften schmal und die Beine lang und kraftvoll wie die eines gut trainierten Läufers.

Ich wusste nicht, ob ich schön war. Aber er war es wirklich.

Jetzt kniete er vor dem Bett; er zog mich an sich und ich spürte seinen Mund, der eine warme, unwiderstehliche Spur meinen Hals hinunter zog. Ich legte die gesunde Hand auf seine Schulter und liebkoste zum ersten Mal seine nackte Haut. Sie war glatt wie Seide und wundervoll warm. Dann berührten seine Lippen behutsam die verletzte Brust, und was ich noch an Schmerz gespürt hatte, war wie von Zauberhand dahin. Sein Mund wanderte hinüber zur anderen Brust und ich hörte mich tief aufseufzen, als er sich sanft und drängend um die Brustwarze schloss.

Dann kam Damrod zu mir, und er umgab mich mit seinem Geruch und seiner Wärme, mit seiner Stärke und seiner Härte, ein Strom aus Zärtlichkeit und Begehren. Ich schloss die Augen und ließ mich hineinfallen.


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