Winterfeuer
von Cúthalion
Kapitel 8
Stadt in Flammen
Die Belagerung begann gegen Morgen; eine Dämmerung gab es nicht. Der Himmel erhellte sich nur schwach zu einem dunklen Grau. Deshalb erwachte ich auch nicht von Tageslicht, sondern von einem seltsamen Geräusch, das ich nicht gleich identifizieren konnte; ein dumpfes Donnergrollen, ein tiefes Dröhnen, das klang, als käme es aus den Eingeweiden der Erde. Ich setzte mich langsam auf und starrte aus dem Fenster. Jetzt kommen sie. dachte ich. Jetzt beginnt es.
Das Frühstück war diesmal eine hastige, freudlose Angelegenheit in völliger Stille; ich denke, dass alle die in den Häusern der Heilung dienten, mehr als froh waren über die tägliche Routine, die ihre Hände beschäftigt hielt. Vor der Stadt strömten die Feinde zusammen und der verwüstete Pelennor wimmelte von Orkheeren, aber Fieber musste trotzdem gemessen werden... ein Netz aus tiefen Gräben entstand in Sichtweite der Stadtmauern und Belagerungstürme wurden herangefahren, ohne dass die Verteidiger etwas dagegen unternehmen konnten, aber anstatt die Hände zu ringen, während die Katastrophe näher rückte, wechselten wir Verbände und ich rettete zwei Gläser mit Kamillenblüten, bevor sie Mardil aus den Händen gleiten konnten, während er mir die Vorzüge von Frauenmantel erklärte.
Der Tag verstrich langsam und quälend; immer wieder kamen Leute in die Häuser der Heilung, um uns zu erzählen, was vorging; dass die tiefen Gräben vor der Stadt jetzt brannten, obwohl niemand erklären konnte, wie genau das Feuer entfacht worden war. Sie sprachen von den schwarzen Zeltlagern der Feinde, die in angsterregender Zahl aus dem Boden schossen. Der Aufenthalt in den Gärten war keine wirkliche Erholung mehr. Zwar lagen sie hoch genug, dass die Luft noch halbwegs rein war, aber der ölige Rauchgestank war jetzt überall, setzte sich in den Kleidern fest und ließ sich auch mit geschlossenen Fenstern nicht dauerhaft aussperren. Und am späten Nachmittag beobachtete ich Oroher, der mit einem Mann im Schwarz und Silber der Veste sprach; ich sah, dass er zornig war und in heftiger Erregung auf sein Gegenüber einredete. Dann holte er sich einen Mantel und verschwand für etwa eine Stunde. Als er zurückkam, war er sehr blass und still. Er zog sich in sein Studierzimmer zurück und war eine Weile für niemanden zu sprechen, bevor er wieder herauskam und weitermachte wie bisher. Später erzählte mir Ioreth flüsternd, dass er versucht habe, den Truchsess zu überreden, seinen Sohn in die Obhut der Heiler zu geben. Denethor hatte ihn kaum angehört und ihn dann schroff abgewiesen.
Jetzt wurden auch die ersten Toten herangetragen. Die meisten waren von den Trümmern der Häuser erschlagen worden, die unter den Geschossen der Belagerungstürme reihenweise einstürzten. Die Heiler richteten die Leichen einigermaßen anständig her, hüllten sie in Decken und brachten sie in einen tiefen, ausgeräumten Keller. Oroher schickte, wen immer er entbehren konnte, in den ersten Ring der Stadt hinunter, wo immer mehr Feuer ausbrachen; die Belagerungstürme schickten seltsame, flammende Bälle hinter die Stadtmauer, die vermutlich so etwas wie Phosphor enthielten und verheerende Schäden anrichteten.
Und den ganzen Tag kreisten die Nazgûl über Minas Tirith, meist unsichtbar, so dass nur ihre grauenhaften Stimmen zu hören waren. Von Zeit zu Zeit stieß einer von ihnen aus dem schwarzen Himmel herab, ohne wirklich anzugreifen, aber das war auch nicht nötig. Wo die Stimmen der Ringgeister ertönten, verloren die Menschen von Minas Tirith ihren Mut, starrten die erschöpften Helfer hoffnungslos auf die aufspringenden Brände un gestandene Krieger, die Dutzende von Schlachten überlebt hatten, ließen die Waffen fallen, wandten sich zur Flucht und weinten wie die Kinder.
Gandalf tat, was der Truchseß nicht einmal mehr versuchen wollte; er ritt unermüdlich von Ring zu Ring und versuchte, die verzweifelten Menschen zu ermutigen. Ich sah ihn ein einziges Mal, als er drei Männer mit schweren Brandverletzungen in die Häuser der Heilung brachte. Er stieg kurz ab, wechselte ein paar Worte mit Oroher und schwang sich wieder auf den Rücken von Schattenfell. Ich ergriff einen Krug mit Wasser und einen Becher und rief seinen Namen.
Gandalf!
Er wandte sich in meine Richtung. Ich ging zu ihm vor das Tor und reichte ihm den gefüllten Becher. Er trank durstig, und als er ihn zurückgab, berührten sich unsere Hände. Für einen kurzen Augenblick schaute ich ihm in die Augen. Ich sah die ungeheure Müdigkeit darin und meine Lippen formten mühsam ein Lächeln. Er erwiderte es sehr schwach, dann beugte er sich plötzlich zu mir herunter und der weiße Bart strich mir leicht über die Schulter, während er seinen Mund dicht an mein Ohr brachte.
Wenn unsere Verbündeten nicht bald kommen, sind wir verloren. sagte er leise. Ohne Rohan hält diese Stadt keinen Tag mehr stand. Ich weiß, Ihr habt gesagt, Sauron wird fallen... aber wird Minas Tirith noch stehen, um den Sieg zu erleben?
Ich nickte, und die lähmende Erschöpfung hob sich für einen kostbaren Augenblick von meinen Schultern. Diesmal hatte mein Lächeln mehr Kraft, und es spiegelte sich in den tiefdunklen Augen dicht vor mir.
Morgen bei Sonnenaufgang. flüsterte ich. Ich spürte den festen Druck seiner Hand auf der Schulter, dann wendete er Schattenfell und stob wie ein Sturmwind die leere Straße hinunter.
In dieser Nacht schlief kaum jemand in den Häusern der Heilung. Die Verletzten mit Brandwunden mussten versorgt werden, und das dumpfe Gewummer der einschlagenden Geschosse machte es unmöglich, sich auszuruhen. Noch hatte keines den sechsten Kreis der Stadt erreicht, aber überall standen Wassereimer bereit, um beizeiten löschen zu können. Gegen Mitternacht wagte Alandel sich hinaus zur vorderen Stadtmauer. Als er zurückkam, erzählte er entsetzt etwas von einem riesigen Rammbock, den die Streitmacht des Feindes gegen das große Tor führte, und von Mûmakil, die immer noch mehr Belagerungstürme vor die Stadt zogen. Ich wagte nicht, mir auszumalen, wie es am Stadttor aussah, wo die wenigen Verteidiger sich einer furchtbaren Übermacht gegenüber sahen.
Kurz vor Tagesanbruch - jedenfalls annähernd, denn auch diesmal gab es keine Dämmerung, die den Namen verdiente - erschütterte ein kurzes, heftiges Beben die Stadt. Das Tor! Sie haben das Tor durchbrochen! schrieen draußen verzweifelte Stimmen. Ich stürzte ins Freie. Schwarzer Rauch stieg in dichten Wolken vom ersten Ring der Stadt auf, wo überall Flammen loderten. Er versperrte die Sicht auf das, was unten am Tor vorging, und bis zu einem gewissen Grad war ich erleichtert darüber. Ich rannte bis zur Mauer, and der schon mehrere Menschen standen, hauptsächlich alte Frauen, die in großer Angst die Hände rangen. Plötzlich kam ein kräftiger, kalter Wind auf: er zerfetzte die Rauchwolken und trieb sie auseinander. Und dann sah ich, dass am Horizont ein silbriger Streifen die trostlose Schwärze unterbrach. Ich starrte in atemloser Spannung hinaus auf die Ebene, über die Heere von Mordor hinweg und dann erschallten vielstimmige Hörner, tief und heiser wie die Luren der alten Wikinger. Es war das schönste Geräusch, das ich je gehört hatte.
Die Sonne ging auf. Und Rohan war endlich gekommen.
Keine Stunde später sah ich, wie ein Mann auf einer Trage zum Haupteingang gebracht wurde. Ein Mann in der Uniform der Wache stand daneben, das Gesicht düster und besorgt, und noch jemand, viel kleiner als sein Begleiter.
Pippin.
Das bedeutete, dass Denethor tot war, und dass dies Faramir sein musste, im letzten Moment vor dem Wahnwitz seines eigenes Vaters gerettet. Ich wäre gern zu Pippin hinübergegangen, aber Faramir hatte Vorrang. Kräftige Helfer hoben die Trage hoch und brachten ihn in eines der Krankenzimmer. Als ich hereinkam, kniete Oroher bereits neben ihm und legte ihm eine Hand auf die Stirn.
Er hat hohes Fieber. sagte er. Es wird das Beste sein, ihn aus diesen Kleidern herauszuholen und kühlende Umschläge zu machen. Noerwen, geht bitte zu Mardil hinunter und lasst Euch seine besten fiebersenkenden Tränke geben.
Ich eilte in das Vorratslager und erklärte Mardil, was ich brauchte und für wen. Diesmal zeigte er kein Anzeichen seiner üblichen Zerstreutheit; er stellte mir in Windeseile mehrere Gläser und Dosen zusammen und innerhalb weniger Minuten war ich im Refektorium, um aus der stärksten Kräutermischung einen Tee brauen zu lassen. Ein paar Minuten später stand ich mit einem Fläschchen Pfefferminzöl und einem Stapel sauberer Tücher wieder in dem Krankenzimmer.
Faramir war ausgezogen, vorsichtig gewaschen und mit einem sauberen Hemd bekleidet worden. Mehrere Schalen mit kaltem Wasser aus dem tiefsten Brunnen standen bereit. Ich träufelte vorsichtig das Öl hinein und gemeinsam wickelten Oroher und ich Faramirs Arme und Beine in die kalten, feuchten Tücher und hüllten ihn in Wolldecken. Ich holte den Tee und gemeinsam flößten wir dem besinnungslosen Heermeister von Gondor Tropfen für Tropfen das fiebersenkenden Gebräu ein. Oroher musste Faramirs Kehle behutsam massieren, damit er schlucken konnte: sein Körper glühte und er war beängstigend geschwächt.
Endlich stellte ich den Becher und den Löffel beiseite; ich blieb sitzen und blickte in das reglose, bleiche Gesicht, aus dem behutsame Hände die Überreste von Ruß entfernt hatten. Mir brannte das Herz vor Mitleid und Reue. Vielleicht wäre es besser gewesen, alle Vorsicht über Bord zu werfen und wenigstens Gandalf zu warnen.
Ich stand auf und raffte im Gehen Faramirs Kleider zusammen. Sie waren voller Asche und mit einem süßlich riechenden Öl durchtränkt; der Geruch sorgte dafür, dass sich mir der Magen umdrehte. Ich warf sie in einen Korb neben der Tür und wischte mir die Hände an der Schürze ab. Als ich den Gang hinunter ging, sah ich plötzlich Gandalf, der mir entgegen kam. Auf seinen Armen trug er jemanden, den man auf den ersten Blick für ein Kind halten mochte. Aber ich erkannte ihn sofort, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte.
Das war Merry.
Mit einem Rauschen seines weißen Gewandes verschwand der Zauberer in einem Zimmer zwei Türen weiter, und er ließ seinen Begleiter zurück; eine kleine Gestalt in der Kleidung der Veste, die sich erschöpft und mit hängendem Kopf an die Wand lehnte. Ich empfand ein plötzliches, sehr solidarisches Mitgefühl noch jemand, der sich verloren vorkam.
Herr Perian? sagte ich sanft.
Er straffte sich und schaute zu mir hoch. Ich sah in ein anziehendes Gesicht mit haselnussbraunen Augen, gekrönt von einem zerzausten Lockenschopf in der Farbe herbstlicher Eichenblätter. Er sah aus wie jemand, der normalerweise eine Menge Spaß am Leben hatte. Jetzt aber hingen seine Mundwinkel trostlos nach unten und seine Wangen waren blass und durchzogen von Tränenspuren.
Es wird gut gesorgt für Euren Freund, kleiner Herr. versicherte ich ihm. Vielleicht möchtet Ihr in der Zwischenzeit etwas zu Euch nehmen? Man kann besser Wache halten, wenn man etwas im Magen hat.
Seine Augen leuchteten kurz auf, als ich das Essen erwähnte ein Hobbit, in der Tat. Dann warf er einen zweifelnden Blick auf die geschlossene Tür.
Ich weiß nicht...
Ihr könnt jetzt nichts für ihn tun. Und Ihr werdet ihm eine größere Hilfe sein, wenn Ihr euch selbst besser fühlt.
Er bedachte das Argument sorgfältig, während ich geduldig vor ihm stand und wartete. Dann kräuselte ein schwaches Lächeln seine Mundwinkel und er verbeugte sich mit erstaunlicher Grazie.
Ihr seid sehr gütig. Mit wem habe ich die Ehre?
Noerwen, Pflegerin in den Häusern der Heilung. Ich erwiderte die Verbeugung (sicherlich nicht halb so gekonnt), worauf sich das schwache Lächeln sekundenlang zu einem spitzbübischen Grinsen vertiefte. Es verblasste rasch, und wieder schaute er zur Tür.
Peregrin Tuk aus dem Auenland, zu Euren Diensten. sagte er abwesend, dann warf er mir einen unsicheren Blick zu. Ihr werdet nicht wissen, wo das ist.
Im Gegenteil, Herr Peregrin Tuk, sagte ich, und zum ersten Mal an diesem finsteren Tag wurde mir das Herz ein wenig leichter, ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon. Aber ich würde mich freuen, noch mehr zu hören, wenn es Euch nichts ausmacht.
Ich geleitete ihn zum Refektorium hinunter; im Vorraum gab es mehrere große Becken, Schalen mit Kräuterseife und saubere Tücher. Pippin wusch sich gründlich Gesicht und Hände. Zu meiner Überraschung (und meinem heimlichen Entzücken) vollendete er seine Reinigungsprozedur, in dem er sich fast einen halben Krug Wasser über den Kopf goss. Er prustete und schüttelte sich, so dass die Tropfen in alle Richtungen stoben.
Das hat gut getan. sagte er und holte tief Atem. Ich gebe zu, jetzt würde ich ziemlich gern etwas essen.
Ich suchte uns einen Platz an der breiten Fensterfront, die auf die grünen Anhänge des Mindolluin hinaussah. Hier konnte man den Rauch nicht sehen und die Schlacht, die vor der Stadt tobte, wenigstens für ein paar segensreiche Augenblicke ignorieren. Ich brachte Pippin mit Wasser verdünnten Wein, ein Schälchen mit Walnüssen und vier kleine Fleischpasteten von einem Tablett, das noch fast voll war; kaum jemand hatte heute schon die Zeit gehabt, etwas zu essen.
Bei uns würde man sagen: Es füllt den hohlen Zahn. meinte er lächelnd, als er die Ausbeute auf dem Tablett inspizierte. Und Ihr esst Ihr nichts? Ich habe gern Gesellschaft, wenn ich frühstücke.
Also holte ich mir Obstsaft, zwei Äpfel und ebenfalls eine Fleischpastete. Als ich wieder an den Tisch zurückkam, war von seinen Pasteten nichts mehr übrig und er knackte Nüsse. Jetzt gefiel er mir viel besser. Er war nicht mehr so blass; der verdünnte Wein hatte seine Wangen leicht gerötet. Wir aßen eine Weile schweigend, und ich überließ ihm meinen zweiten Apfel. Das Gesicht auf beide Hände gestützt, sah ich zu, wie er krachend hineinbiss; ich fühlte mich erstaunlich entspannt, obwohl die Situation mir sehr unwirklich vorkam. Mit den Menschen von Mittelerde vertraut umzugehen, war irgendwie etwas anderes. Aber jetzt saß mir, die Beine hoch über dem Boden baumelnd, Pippin gegenüber. Pippin, der Hobbit. Wunderbarerweise gab es ihn wirklich.
Ich wandte den Blick ab, bevor ihm auffiel, dass ich ihn unverhohlen anstarrte. Mittlerweile hatte er sein Tablett bis zum letzten Krümel geleert, und da das Essen ihn nicht länger ablenken konnte, verdüsterte sich sein offenes, freundliches Gesicht zusehends. Endlich rang er sich durch, schluckte hörbar und sah mir in die Augen.
Ich habe Angst, dass Merry stirbt. sagte er leise.
Euer Freund? Wieder einmal machte mir der Zwang, mich ständig unwissend zu stellen, schwer zu schaffen.
Er ist mein Vetter. sagte er. Ich kannte ihn schon, als ich laufen lernte. Wir waren der Schrecken unserer Tanten.
Das glaube ich sofort. bemerkte ich trocken und wurde mit einem schwachen Grinsen belohnt.
Ich habe schon jemanden sterben sehen. erklärte er. In Moria als Gandalf abstürzte. Na ja... er warf mir einen scheuen Blick zu, das zählt vielleicht nicht wirklich, immerhin ist er wiedergekommen. Aber Boromir wurde wirklich getötet. Er versuchte, meinen Vetter und mich zu verteidigen, und die Uruk-Hai haben ihn vor meinen Augen umgebracht.
Das tut mir sehr leid. sagte ich behutsam.
Und jetzt... fuhr er fort, als hätte er mich gar nicht gehört, jetzt liegt Merry da oben, und er erkennt mich nicht mehr, und als ich ihn hierher zu den Häusern geschleppt habe, da hat er mich gefragt, ob ich... ob ich ihn begraben will. Und...
Er stockte und rang um Fassung. Seine Lippen zitterten.
... und Herr Denethor wurde vor meinen Augen langsam wahnsinnig, und dann hat er versucht, sich selbst zu verbrennen, und er wollte Faramir mit sich in den Tod nehmen, dabei lebt der doch noch, was für ein Vater macht so etwas? Lieber Himmel, ich möchte bloß noch nach Hause.
Die letzten Worte kamen als halbes Stöhnen heraus und er vergrub das Gesicht in den Händen. Ich hätte ihn gerne berührt, um ihn zu trösten, aber ich wagte es nicht. Er mochte klein sein wie ein Kind, aber er war kein Kind. Er war ein Mann, der vor mir nicht weinen wollte, und das einzige, was ich für ihn tun konnte, war, ihm seine Würde zu lassen.
Ihr kommt wieder nach Hause. sagte ich. Und Euer Vetter auch. Er wird nicht sterben.
Er hob den Kopf und sah mich an.
Ihr seid sehr freundlich. Seine Stimme klang müde und stockend. Ich danke Euch. Aber jetzt gehe ich am besten wieder nach oben. Ich will Merry nicht allein lassen.
Ich brachte ihn in die Krankenabteilung zurück, ohne dass wir auf dem Weg miteinander sprachen. Ich sah zu, wie er im Merrys Zimmer verschwand; er drehte er sich noch einmal zu mir um, hob grüßend die Hand und lächelte schwach. Dann schloss sich die Tür hinter ihm.
Die Viertelstunde mit Pippin blieb das einzige, was mir an diesem Tag das Herz wärmte. Aber die Wirkung verflog schnell, denn jetzt bekamen wir in den Häusern der Heilung die Schlacht voll zu spüren. Immer mehr Verletzte wurden gebracht. Wir taten unser Möglichstes, die Wunden anständig zu versorgen; bald mussten wir die Männer mit leichteren Blessuren wieder fortschicken, nachdem wir sie verbunden hatten. Wir brauchten ganz einfach den Platz für diejenigen, die nicht mehr stehen konnten oder ständig überwacht werden mussten.
Und ich sah den Tod vieler Menschen. Zuerst war es für mich am schlimmsten, wenn sie schrieen, und wenn ihre Stimmen dann immer leiser wurden, bis sie ganz verstummten. Aber im Laufe des Tages kamen immer mehr Verwundete, die nicht schrieen, und wir lernten sie zu fürchten. Es waren die Opfer des Schwarzen Atems; wenn sie eingeliefert wurden, waren sie meist noch bei Bewusstsein und nicht wirklich tödlich verletzt, aber dann verfielen sie in einen unruhigen Fieberschlaf, mit eisig kalten Gliedern und brennender Stirn, und sie versanken immer tiefer darin, bis sie in den Tod hinüber glitten. Diesen Männern konnten wir überhaupt nicht helfen, wir konnten ihnen nur zusehen, wie sie starben.
Ich sah Männer sterben, die aus den südlichen Gebieten von Gondor an der Küste kamen , sehr junge Männer, fast halbwüchsig noch. Niemand hatte sie auf den Schrecken vorbereitet, den es bedeutete, gegen Saurons Kreaturen kämpfen zu müssen. Binnen weniger Stunden lernte ich, mich wenigstens notdürftig gegen den Schmerz und die Trauer zu panzern, damit ich die dringend nötige Distanz wahren konnte und nicht vor Mitleid zu weinen anfing; mein einziger Trost war, dass es den anderen Heilern nicht anders erging. Ich sah, wie Èowyn an mir vorbeigetragen wurde, eine stille, schöne Gestalt, bis zum Kinn mit einer Decke verhüllt. Ich sah, wie Faramir immer tiefer in seinen tödlichen Träumen versank. Ich nähte Stiche und klaffende Hiebe, und einmal musste ich einem Schwanenritter die Kopfhaut wieder zusammen flicken... ein Schlag mit der Axt hatte ihn fast skalpiert. Je länger der Tag andauerte, desto mühseliger schleppte ich mich voran, mit hoch gekrempelten Armen und blutbespritzter Schürze. Mein einziger Trost war, dass es den anderen Heilern nicht anders ging. Als plötzlich Glocken läuteten und Boten von der Unterstadt heraufgerannt kamen, um uns zu sagen, dass Piratenschiffe gekommen waren und nicht noch mehr Feinde, sondern ein frisches, verbündetes Heer und einen Krieger mit einem schwarzen, sternbestickten Banner gebracht hatten, war mir das nur ein müdes Lächeln wert.
Das, was mir von diesen schweren Stunden am klarsten im Gedächtnis blieb, war der Rohan-Reiter, nach dem ich gegen Abend sah. Ich konnte ihm nicht mehr helfen; keiner von uns hätte es gekonnt. Arme und Beine waren verbunden, und über eine furchtbare Bauchwunde hatten die Heiler nur leichte Gazetücher gelegt; sie war zu tief, um sie zu verbinden und zu schwer, um sie zu nähen. Wir wussten alle, dass seine Zeit fast abgelaufen war. Ich ging in sein Zimmer, um ihn in seinen letzten Augenblicken nicht allein zu lassen, aber auch, um mich wenigstens einmal zurückziehen zu können.
Also saß ich neben seinem Bett, hielt seine Rechte in beiden Händen und kämpfte mit dem Schlaf, während er langsam innerlich verblutete. Ein- oder zweimal fielen mir die Augen zu, und irgendwann nickte ich wirklich ein.
Ich schreckte hoch, als der sterbende Mann auf dem Bett unruhig wurde. Er drehte den Kopf hjn und her und murmelte stimmlos etwas vor sich hin. Die Strahlen der untergehenden Sonne fiel durch die halboffenen Fensterflügel und tauchten den Raum in rubinrotes Licht. Ich beugte mich zu ihm hinunter und lauschte, aber zuerst verstand ich nicht, was er zu sagen versuchte. Ich streichelte behutsam über seine Wange und das zerzauste, strohblonde Haar, das sich aus seinen langen Zöpfen gelöst hatte. Das beruhigte ihn zuerst, aber dann begann er wieder, rastlos zu flüstern, und diesmal legte ich mein Ohr dicht an seinen Mund. Jetzt hörte ich etwas.
Moder... sagte er leise und erstickt. Moder... Moder...
Ich merkte zuerst nicht, das jemand hinter mir den Raum betreten hatte. Dann sah ich aus den Augenwinkeln einen bestickten Ärmel und weißes Haar und sprach, ohne mich umzudrehen.
Er stirbt, Gandalf. Ich verstehe nicht genau, was er sagt. Könnt Ihr mir helfen?
Der Zauberer trat näher und lauschte. Dann seufzte er.
Er ruft nach seiner Mutter. sagte er. Das tun viele, wenn sie sterben.
Ich weiß. Meine Stimme klang unnötig schroff in dem stillen Zimmer. Er ist beileibe nicht der erste heute. Ich merkte, wie er mich ansah und schlug beschämt die Augen nieder. Es tut mir leid, Herr. Es ist nur, dass ich...
Ich weiß. Er lächelte traurig. Ihr seid beileibe nicht die einzige heute.
Ich wünschte, ich könnte ihm helfen. sagte ich. Aber ich spreche seine Sprache nicht. Es tut mir so leid für ihn. Allein sterben zu müssen, ohne Beistand...
Er ist nicht allein. erwiderte Gandalf. Ihr seid doch bei ihm.
Moder... Wieder kam die Stimme des sterbenden Kriegers. Er rang mühsam nach Atem, und wieder streichelte ich seine Wange.
Sprecht mir nach. sagte Gandalf plötzlich. Er sagte ein paar Worte, harte, helle Silben, deren Klang gleichzeitig fremd und vertraut war. Ich wiederholte sie flüsternd, bis ich sicher war, dass ich sie richtig wiedergeben konnte. Dann beugte ich mich wieder über den Sterbenden.
Eagan ðine beluctu, sunu min, ond on sibbe sweftu... flüsterte ich. Die Wirkung war erstaunlich. Der Mann lag still und legte den Kopf leicht zur Seite, als würde er eifrig einer vertrauten und geliebten Stimme lauschen. Dann entspannte sich sein gequältes Gesicht zu einem erlösten Lächeln.
Moder... murmelte er noch einmal; ich küsste ihn auf die Stirn und spürte seinen letzten, schweren Atemzug über mein Gesicht streichen. Ich richtete mich langsam auf und drehte mich zu Gandalf um, während ich die Hand des Toten immer noch in meiner hielt.
Was habe ich zu ihm gesagt? fragte ich.
Gandalf senkte den Kopf. Ihr habt in Rohirric zu ihm gesprochen, seiner Muttersprache. Ihr habt gesagt: Schließ die Augen, mein Sohn, und schlaf in Frieden.
Ich verließ das Zimmer ein paar Minuten nach Gandalf. Der tote Rohan-Krieger wurde hinausgetragen, und ich ging zu Faramir hinüber. Er lag völlig reglos und still, und als ich ihn betrachtete, hatte ich das Gefühl, dass auch seine Zeit ablief. Ioreth stand neben seinem Bett; ihr altes Gesicht war kummervoll und ängstlich.
Herr Gandalf war eben hier. Ich habe zu ihm gesagt, ich wünschte, es gäbe noch einen König, denn alle Könige von Gondor haben heilende Hände... Und da hat er mich ganz scharf angeschaut und gemeint: Die Menschen sollen sich an Eure Worte erinnern, Frau Ioreth, und irgendwas über seltsame Gerüchte, von denen ich nichts weiß. Und dann war er weg.
Natürlich. Gandalf wusste, dass Aragorn gekommen war.
Ich gehe ihm entgegen. sagte ich kurz entschlossen. Plötzlich konnte ich die enge Begrenzung der Häuser nicht mehr ertragen. Ioreth versuchte nach einem Blick in mein Gesicht gar nicht erst, mir zu widersprechen.
Nehmt Euch in acht. sagte sie nur. Und verlasst die Stadt nicht. Das Schlachtfeld ist sicher immer noch gefährlich.
Ich holte mir einen Mantel, packte hastig ein wenig Verbandszeug zusammen (möglicherweise konnte es jemand brauchen), und dann eilte ich durch die Gärten und, so schnell ich konnte, die Straße hinunter.
Zum ersten Mal seit zwei Tagen sah ich mehr von der Stadt als den sechsten Ring. Weiter oben waren Häuser und Gärten noch relativ unberührt, aber je weiter ich ging, desto schlimmer wurden die Verwüstungen. Der zweite Ring war in weiten Teilen ein Trümmerfeld, und das Bild, das sich ganz unten bot, dicht am Tor, war schrecklich. Überall lagen Leichen, Krieger von Gondor, Schwanenritter, Orks und Südländer in einem grausigen Durcheinander. Niemand hatte bis jetzt die Zeit gefunden, sie zu bergen und Ordnung zu schaffen; die Schlacht war gerade erst vorbei.
Ich bahnte mir einen Weg zwischen den Toten hindurch und durchschritt das Tor oder das, was davon noch übrig war. Die Überreste der Torflügel hingen schief in die Angeln. Hier hatte sich der Hexenkönig mit schwarzer Zaubermacht Zutritt verschafft und war von Gandalf aufgehalten worden, gerade, als die Hörner von Rohan ertönten.
Vor mir war jetzt die Straße, die auf den Pelennor hinausführte. Man hatte sie halbwegs freigeräumt (vermutlich, um die Verwundeten besser transportieren zu können), aber überall jenseits, auf den Feldern und Wiesen, lagen die Opfer der Schlacht, und es waren Tausende, Freunde wie Feinde. Ein faulig-süßer Gestank stieg wie eine Wolke vom Boden auf und ich bereute bitter, dass ich kein Tuch mit Pfefferminz- oder Arnikaöl mitgebracht hatte, um es mir vor das Gesicht zu halten. Ich spähte durch die Dämmerung, die allmählich einsetzte, aber weder von Gandalf noch von Aragorn war irgendetwas zu sehen.
Besser, ich ging zurück. Es war alles andere als eine gute Idee, allein zwischen all den Leichen umherzuwandern. Ich wandte dem Pelennor den Rücken und betrachtete noch einmal das zerschmetterte Tor Minas Tirith war wirklich nur um Haaresbreite der Vernichtung entgangen.
Plötzlich hörte ich hinter mir ein schleifendes Geräusch, und dann ein Aufkeuchen. Bevor ich noch Zeit hatte, mich umzudrehen, traf etwas mit entsetzlicher Gewalt meinen rechten Oberarm.
Der Schmerz war unerträglich. Ich schrie auf und ging in die Knie; dann sah ich, wie mir der zerwühlte Erdboden entgegen kam, und mir wurde schwarz vor Augen. Allerdings nur sekundenlang... und diese Tatsache rettete mir das Leben.
Ich stützte mich auf dem unverletzten Arm und stemmte mich hoch, Erde und Gras spuckend, und ich sah aus den Augenwinkeln das Aufblitzen der Messerklinge. Ich warf mich schwerfällig herum, ließ mich auf den Rücken fallen und das Messer fuhr neben meinem Kopf in den Boden. Jetzt erst sah ich, wer mich angegriffen hatte.
Es musste einer der Südlinge sein; für einen Ork war er zu groß und irgendwie zu ... menschlich. Ich hatte keine Ahnung, wo er so plötzlich herkam. Möglicherweise war er niedergeschlagen und schlichtweg übersehen worden. Ich hatte keine Zeit, mein Pech zu verfluchen. Mit einem angestrengten Grunzen zog er das Messer wieder aus der Erde und stürzte sich mit seinem vollen Gewicht auf mich. Eine eisenharte Hand in einem metallbeschlagenen Handschuh presste sich gegen meinen Oberarm, genau dort, wo mich der Schlag getroffen hatte. Brennende Qual überspülte mich und ich spürte, wie die Welt erneut vor meinen Augen verschwamm.
Ich wusste, dass ich unter gar keinen Umständen wieder bewusstlos werden durfte, wenn ich überleben wollte. Dicht vor meinem Gesicht sah ich seinen stachelbewehrten Helm; mit einem verzweifelten Ruck befreite ich den gesunden Arm, bäumte mich auf und krallte die Finger in die schmalen Augenöffnungen. Sein Kopf zuckte reflexartig zurück und ich rang nach Atem und versuchte, mich unter ihm hervorzuwinden.
Er löste seinen Griff um meinen Arm, hielt mich aber weiterhin fest und ich sah, dass er auf mich herunterstarrte, auf mein Gesicht und meinen Körper. Offenbar merkte er erst jetzt, dass er keinen Mann vor sich hatte. Ein dumpfes Grollen kam unter dem Helm hervor, dann packte er plötzlich den Ausschnitt meiner Robe und riss das graue Gewand mitsamt dem Unterkleid bis fast zum Nabel hinunter auf. Ich wollte schreien, aber er presste mir den Mund zu und hielt mich am Boden, in dem er die Finger der anderen Hand mit brutaler Kraft in meine linke Brust grub.
Ich stöhnte vor Schmerz und starrte zu ihm hoch. Eine leise, seltsam sachliche Stimme in meinem Hinterkopf sprach zu mir. Er wird dich nicht nur umbringen, er wird dich vorher wahrscheinlich auch noch vergewaltigen. Was tust du jetzt? Mir wurde übel vor Entsetzen. Aber bevor die Panik mich gänzlich hilflos machen konnte, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf, beinahe ebenso sachlich wie die Stimme. Er brauchte zwei freie Hände dazu. Wo war das Messer?
Er musste es fallen gelassen haben, und ich musste es finden. Plötzlich war ich klar und eiskalt. Ich ließ meinen Körper erschlaffen und den Kopf nach hinten sinken. Er war Rechtshänder, also musste das Messer irgendwo auf meiner linken Seite liegen, und mein linker Arm war unverletzt. Ich drehte die Hand und fing an, den Boden abzutasten, während mein Peiniger, ermutigt durch meine Passivität, seinen Griff um meine Brust löste und mit der anderen Hand die Robe über meinen Beinen hochschob. Er richtete sich auf und zog sich mit einer schnellen Bewegung den Helm vom Kopf.
Ich sah in ein Gesicht mit oliv getönter Haut und dunklen Augen. Er trug einen sorgfältig getrimmten Bart und hatte langes schwarzes Haar, das ihm, zu vielen kleinen Zöpfen geflochten, über die Schultern fiel. Unter anderen Umständen hätte ich ihn wahrscheinlich nicht einmal abstoßend gefunden; jetzt aber verkörperte er alles, was ich je gehasst hatte. Er starrte mich an, und sein keuchender Atem beschleunigte sich noch mehr, während seine Finger grob meine nackte Haut befingerten.
Ich schloss die Augen und betete, dass ich das Messer rechtzeitig fand, dann presste er plötzlich seinen Mund auf meinen und zwang meine Lippen auseinander. Ich bezähmte mühsam den Drang, mit aller Kraft auf seine Zunge zu beißen und hielt still. Er hob den Kopf und lachte heiser, seiner Beute sicher. Dann, die Rechte nur noch locker auf meiner Brust liegend, begann er die Verschnürungen seiner Hose zu lösen.
Ich schob mich leicht nach links und streckte die Hand so weit aus, wie es irgend ging, und in diesem Moment fanden meine Finger den Griff des Messers und schlossen sich darum. Ich stieß unwillkürlich einen kleinen Laut des Triumphes aus , aber er war abgelenkt und achtete nicht darauf. Er schob meine Beine weiter auseinander. Warte... warte... Er spannte sich an, um seine Eroberung zu vollenden, den Kopf zurückgeworfen. Jetzt.
Mein Arm schwang herum, das Messer senkrecht nach oben gerichtet. Sein Hals über dem Harnisch war ungeschützt und die rasiermesserscharfe Klinge fuhr glatt durch Haut, Fleisch und Knorpel und schnitt ihm die Kehle durch.
Er erstarrte, dann zuckten seine Hände nach oben und tastete krampfhaft nach der klaffenden Wunde. Sein Körper sackte schwer auf meinen und presste mich fest gegen den Boden. Er rang gurgelnd nach Luft, und ich spürte einen Nebel feiner Blutstropfen, der bei jedem mühseligen Atemzug über meine bloße Haut sprühte. Endlich lag er still.
Ich ließ mit einem würgenden Schrei das Messer fallen und wälzte ihn mit einer letzten, verzweifelten Kraftanstrengung von mir herunter. Dann stützte ich mich wieder auf den unverletzten Arm und kroch ein zwei Meter weit von ihm weg, bevor ich mich fallen ließ, die Augen geschlossen, am ganzen Körper zitternd, die zerfetzten Reste meiner Kutte getränkt mit dem Blut des Mannes, den ich gerade getötet hatte.
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