Winterfeuer
von Cúthalion

Kapitel 7
Denn welcher heut' sein Blut mit mir vergießt...

Ich war sehr froh, dass ich eine Aufgabe gefunden hatte, auch wenn die Häuser der Heilung im Moment noch wenige Patienten hatten. Nichtsdestoweniger machte man sich bereit; Verbände wurden hergerichtet, und zusätzliche Betten aufgestellt. Den ganzen 12. März hatte ich Mardils Vorratslager auf Vordermann gebracht, und als ich mich am Abend schlafen legte, war meine Kutte mit einem intensiven Geruch nach Kräutern durchtränkt.

Als ich am nächsten Morgen im Refektorium saß und einen Becher Milch trank, blickte ich in wachsame beunruhigte Gesichter; die meisten aßen schweigend, und wenn irgendwo doch ein Gespräch geführt wurde, dann zögerlich und sehr gedämpft.

Im Laufe des Vormittags wurden die ersten Verwundeten vom Dammwall zu uns gebracht. Gandalf hatte die Wagenkolonne nach Minas Tirith hinein eskortiert, und ich bekam ihn einmal sehr kurz zu sehen, wie er sich von Schattenfells Rücken zu Oroher hinunterbeugte und mit ihm sprach. Flüsternd verbreitete sich, was ich längst wusste... dem Feind war der Übergang über den Fluss gelungen, und er trieb die Verteidiger der Stadt vor sich her. Ich dachte an Faramir, und dann an Damrod, und erneut schnürte mir die Angst die Kehle zu. Dass Faramir letztendlich überleben würde, wie angeschlagen auch immer, davon ging ich hoffnungsvoll aus, aber das Buch sagte nichts oder nur sehr wenig über seine Gefolgsleute. Dass ich eine große Zuneigung für jemanden empfand, der bei Tolkien nur auf einer einzigen Buchseite auftauchte, war ein bisschen zu verstörend für meinen Seelenfrieden... aber innerhalb kürzester Zeit hatte ich glücklicherweise mehr als genug zu tun.

Ich war entsetzt über die Wunden, die ich zu sehen bekam... tiefe Schnitte und böse zerrissenes Fleisch, in dem Splitter steckten. Gemeinsam mit der alten Frau, die mich am ersten Morgen in den Häusern der Heilung geweckt hatte, versorgte ich einen jungen Mann, der glücklicherweise vom Schock halb betäubt war. Die alte Frau – sie hieß Ioreth – saß neben dem Bett, hielt seine Hand fest und sprach leise und beruhigend auf ihn ein, während ich mit einer Pinzette rostige Metallteilchen aus der Wunde an seiner Schulter zog. Danach legte ich einen Kräuterverband an und verordnete ihm Weidenrindentee gegen die Schmerzen und das Fieber, die ihm sicherlich bevorstanden... es gab keine Antibiotika, die das hätten verhindern können.

Mehr Zeit, mich um ihn zu kümmern, hatte ich nicht; im Nebenzimmer war ein Arm in Ordnung zu bringen, den ein grausamer Hieb dicht oberhalb des Ellenbogens getroffen hatte. Dieser Krieger – ein dunkelhaariger Riese – hatte weniger Glück als mein letzter Patient. Er war hellwach und brüllte vor Schmerz. Zwei kräftige Männer mussten ihn festhalten, während Oroher ihn untersuchte. Als er die hässliche Verletzung gesäubert hatte und eben zu Nadel und Faden greifen wollte, wurde er ins Nebenzimmer gerufen.

„Könnt Ihr Wunden nähen, Ioreth?“ fragte ich und beobachtete besorgt den Mann, der sich unter dem Griff der beiden Helfer aufbäumte und laut stöhnte. „Ich fürchte, wir dürfen nicht warten...“

Sie schüttelte den Kopf und sah mich an. „Vor zehn Jahren vielleicht, Kindchen, aber jetzt nicht mehr... meine Augen sind nicht, was sie einmal waren. Macht Ihr es doch – ich bin sicher, Ihr könnt das besser als ich.“

Sie hatte recht; ich hatte während meiner kurzen Zeit als Ärztin im Praktikum gelernt, Wunden zu nähen. Ich ergab mich in mein Schicksal, flößte dem Riesen eine ordentliche Portion Mohnsaft ein und wartete, bis er wenigstens still lag. Dann wusch ich mir noch einmal die Hände, rieb sie mit dem starken Branntwein ab, der hier zum Desinfizieren benutzt wurde und machte mich ans Werk.

Eine Viertelstunde später war ich fertig; die saubere Naht war von einem Verband bedeckt, der Patient döste in halber Betäubung vor sich hin und ich stand von den kleinen Hocker auf. Einen Moment lang wurde mir schwindelig; Ioreth packte meinen Arm mit erstaunlich festem Griff.

„Hoppla, Kind!“ sagte sie. „Was hattet Ihr denn zum Frühstück?“

„Ein Glas Milch.“ gestand ich kleinlaut.

„Gleich geht Ihr etwas essen!“ sagte sie resolut und schob mich zur Tür hinaus. „Ihr habt ein Händchen für die Pflege; wo immer ihr auch herkommt, man hat Euch gut geschult. Aber mit leerem Magen werden ihr nicht viel taugen... Ihr werdet zu sehr gebraucht, um vor Hunger in Ohnmacht zu fallen.“

Gehorsam trollte ich mich ins Refektorium und wurde mit kräftigem, dunklen Brot, kaltem Braten und Äpfeln versorgt. Danach ging es mir besser; ich machte mich wieder auf den Weg zu den Krankenzimmern und entdeckte dort Oroher, der meine Naht und den Verband geprüft hatte und sehr zufrieden aussah. Er lächelte mich an.

„Ich kann Euch gut gebrauchen.“ sagte er. „Ich weiss ja nicht, wann Ihr euch wirklich wieder an alles erinnern könnt, aber Eure Hände haben scheinbar ein eigenes Gedächtnis. Wenn Ihr mir bitte helfen würdet... ich habe hier einen Mann, dem hat ein Stockschlag offenbar beide Beine gebrochen.“

*****

Als ich mich ablösen ließ, war der Nachmittag fast vorbei und es wurde langsam Abend; draußen in den Kräutergärten war davon allerdings nicht viel zu sehen. Der Himmel war bereits tiefdunkel, und der balsamische Duft der Kräuterbeete wurde von Rauchgestank überlagert. Was ich den Tag hindurch ein paar Mal im Hintergrund bemerkt, aber kaum beachtet hatte, war jetzt deutlicher zu hören – Explosionen in der Ferne. Und als ich hoch über der Stadt an der Mauer stand, sah ich mit Trauer und Zorn, dass der Pelennor brannte.

Flüchtlinge rannten die kaum erkennbare Straße entlang auf die Stadttore zu; es waren Bauern von den geplünderten, geschleiften Höfen, die versuchten, sich in der letzten Festung Gondors in Sicherheit zu bringen. Und ich sah auch Krieger, die wenigsten davon in irgend einer Form von Marschordnung; das sprach Bände über das Chaos und das Entsetzen, das am Fluss und an den Rammas Echor herrschen musste.

Ich versuchte, die rauchgeschwängerte Finsternis mit den Augen zu durchdringen; irgendwo dort draußen befand sich Faramir mit seinen Männern auf einem verzweifelten Rückzug. Und Damrod auch... wenn er nicht in Osgiliath gefallen war. Der Gedanke glich einer zynischen, hoffnungslosen Stimme, die in mein Ohr flüsterte, und im selben Moment hörte ich die schrillen, tödlichen Schreie im Himmel über der Stadt.

Nazgûl!

Ich duckte mich instinktiv hinter die Mauer und legte die Arme über den Kopf; sekundenlang war mir grauenhaft übel. Dann spürte ich, wie sich die bösen Stimmen entfernten; die Ringgeister flogen in Richtung Fluss, als hätten sie eine saftigere Beute gefunden. Ich zog mich an der Mauer hoch und wagte einen Blick hinüber.

Es war tatsächlich genau so, wie ich es vor langer Zeit gelesen hatte; Tolkien hatte die Szene wie ein Kriegsberichterstatter aufgezeichnet. Da kam der halbwegs geordnete Haufen Männer zu Fuß, gefolgt von einem erschreckend kleinen Grüppchen Reiter. Sie waren bereits erstaunlich nahe an der Stadt; und dann schwärmten die Feinde hinter ihnen aus wie ein Ameisenhaufen. Fackeln flackerten und wildes Geschrei wehte schwach zu mir herüber. Und ich sah wie schon einmal zuvor die Gestalten der Nazgûl auf die Flüchtlinge herabstoßen. Ich hielt mir die Ohren zu und biss die Zähne zusammen, aber ich blieb stehen. Und dann kam die Fanfare, ein kurzes, verzweifeltes Signal; weit unter mir öffneten sich die Tore und die Schwanenritter von Dol Amroth galoppierten den bedrängten Kriegern entgegen. Weit vor ihnen aber schoss eine einzelne Gestalt auf die Feinde zu, mit hoch erhobenem Stab, und sie zerschnitt die Finsternis wie ein weißer Blitz.

Ich wandte mich von der Mauer ab und rannte; mit geraffter Kutte stürmte ich aus dem Kräutergarten auf die Straße, an leerstehenden Häusern und Höfen vorbei, einen Ring der Stadt nach dem anderen durchquerend. Je weiter ich hinunter kam, desto dicker und rauchiger wurde die Luft. Im untersten Ring hatten sich viele Menschen versammelt. Ich lehnte mich ein wenig abseits an eine Mauer, rang nach Atem und musste husten, und dann hörte ich auch schon, wie sich die riesigen Tore erneut in den Angeln drehten.

Zuerst kamen die Männer zu Fuß. Sie gingen langsam und stolpernd, ihre Gesichter waren aschgrau, und das nicht nur wegen der bleiernen Finsternis. Ich drängte mich, so gut es ging, durch die schweigende Menge und versuchte zu erkennen, wie viele von Faramirs Gefolgsleuten noch dabei waren. Ich sah Mablung, der weit vorne ging, eine hässliche Schmarre quer über der Stirn. Dann folgten zwei Schwanenritter mit schwer mitgenommenen Harnischen, von denen einer ein lahmendes Pferd am Zügel führte, und dann...

...dann kam Damrod an mir vorbei, den Kopf gesenkt. Ein Arm stand in einem merkwürdigen Winkel vom Körper ab.

„Damrod!“

Sein Name kam aus meinem Mund in einer Mischung aus schierer Erleichterung und Schrecken, und in der lähmenden Stille klang er wie eine scharfe Explosion. Damrods Kopf fuhr herum, sein Blick suchte einen Moment, und dann trafen sich unsere Augen. Ich sah, wie er einem Kameraden, der neben ihm ging, etwas zuflüsterte, dann scherte er aus der Reihe aus und kam langsam zu mir herüber. Ich streckte ihm die Hand entgegen, und er ergriff sie mit der gesunden Rechten, und dann plötzlich zog er mich an sich und hielt mich in einer halben Umarmung. Seine Stirn sank für ein paar Sekunden auf meine Schulter und ich spürte das krampfhafte Zittern, das durch seinen ganzen Körper ging. Dann trat er zurück, aber er ließ meine Hand nicht los.

Jetzt kamen die Reiter, ein paar von ihnen trugen hohe Banner in den Händen, deren Farben in der Düsternis nicht zu erkennen waren. Ich hörte das Klappern der Hufe auf den Steinen, das Klirren der Pferdegeschirre und das Knarren der ledernen Sättel, aber kein Willkommensgeschrei, keinen Jubel. Die Menge war immer noch still. Damrod und ich, wir standen nebeneinander, und wir sahen den Fürsten von Dol Amroth als letztes in die Stadt einziehen, eine hohe, schöne Gestalt im Sattel seines Pferdes, und wir sahen, wen er in seinen Armen trug.

Und dann schrie eine hohe, klagende Stimme auf.

„Faramir!“

Ich drückte Damrods heile Hand mit aller Kraft und fühlte, wie er zusammenzuckte. Dann löste er behutsam meine Finger und zog mich ein zweites Mal an sich, und diesmal erwiderte ich die Umarmung und lehnte die Stirn gegen seinen kühlen Harnisch. Ich biss die Zähne zusammen und hörte, wie die Leute von Minas Tirith um mich her in Tränen ausbrachen, wie sie laut weinten und wieder und wieder seinen Namen ausriefen. Damrod stand ganz still. Dann schob er mich sanft von sich und schaute dem Fürsten hinterher. Die Menschenmenge löste sich auf; die Leute zerstreuten sich, jetzt wieder schweigend, mit gesenkten Köpfen und müden, verzweifelten Gesichtern.

„Ich sollte mit hinauf zur Veste gehen.“ sagte Damrod langsam.

„Das ist Unsinn.“ sagte ich mit einiger Schärfe. „In Eurem Zustand seid Ihr dem Sohn des Truchsessen kaum von Nutzen. Euer Arm sieht aus, als sei er gebrochen.“

„Das glaube ich nicht.“ sagte er mit einer Grimasse. „Ich habe ihn abgetastet, und ich glaube, der Knochen ist noch heil.“

„Aha, Ihr seid also nicht nur ein Krieger, sondern auch noch ein Heiler, ja?“ Ich nahm seinen gesunden Arm und zog ihn mit sanfter Gewalt die Straße hinauf.

„Nein. Aber das ist nicht das erste Mal, dass ich in einer Schlacht verwundet worden bin. Ich weiß, wie sich ein Knochenbruch anfühlt.“

„Wunderbar.“ gab ich zurück. „Und ich weiß, wie man Knochenbrüche schient. Und weil ich das weiß, werde ich Euch jetzt in die Häuser der Heilung bringen. Es kommt mir vor, als hättet Ihr das dringend nötig.“

„Zugegeben.“ sagte er mit einem Seufzen. Danach schwieg er, und ich führte ihn langsam bis in den sechsten Kreis der Stadt hinauf, und durch die dunklen Kräutergärten zu den Häusern der Heilung. Im Vorraum kam mir Ioreth entgegen.

„Kindchen, da seid Ihr ja wieder – ich hatte schon angefangen, mir Sorgen zu machen!“

Sie betrachtete Damrod und runzelte die Stirn.

„Sind die Krieger aus Osgiliath zurück?“ rief sie plötzlich. „Sind... sind viele gefallen? Wie geht es dem Herrn Faramir?“

„Er ist verletzt worden, Ioreth.“ sagte ich leise, bevor Damrod antworten konnte. „Man hat ihn erst einmal zu seinem Vater gebracht.“

Ihr Gesicht schien noch mehr zu altern, aber dann sah sie, dass auch mein Begleiter verwundet war. Ich konnte sehen, wie sie um Fassung rang; endlich gelang es ihr, sich zusammen zu nehmen, und in diesem Moment verzieh ich ihr jeden einzelnen Fall von Schwatzhaftigkeit, mit dem sie mich in den letzten zwei Tagen in die Flucht geschlagen hatte.

Wir gingen in eines der Behandlungszimmer und es gelang uns mit vereinten Kräften, Damrod von seinem Harnisch zu befreien und ihn aus dem Lederwams zu schälen, das er darunter trug. Er konnte uns nicht viel dabei helfen, aber Ioreth fand mit großem Geschick die richtigen Schnallen und Knöpfe. Zuletzt trug er nur noch ein dünnes Leinenhemd, und da er nicht imstande war, den Arm zu heben, ließ ich mir von Ioreth eine Schere geben und schnitt vorsichtig den Stoff über der Schulter auf.

Unter der Haut zeichnete sich deutlich die herausgesprungene Gelenkkugel ab, und als ich vorsichtig die Umgebung abtastete, spürte ich die Pfanne.

„Ihr habt recht gehabt, mein Freund.“ sagte ich. „Es ist kein Knochenbruch, aber die Schulter ist ausgerenkt.“

Ioreth ging hinaus und kam einen Augenblick später mit einem Tonkrug, einem Becher und einem kräftigen Pfleger wieder... einer der beiden, die mir geholfen hatten, als ich die Wunde des riesigen Kriegers genäht hatte.

„Branntwein.“ sagte sie kurz, goss eine sehr großzügige Portion ein und drückte Damrod den Becher in die Hand. „Trinkt das aus, und dann wird Euch Alandel hier festhalten, damit Noerwen Eure Schulter anständig einrenken kann.“

Damrod starrte sie verblüfft an, dann wanderte sein Blick zu dem massigen Pfleger und hinüber zu mir. Er leerte den Becher in einem einzigen, langen Zug, rang nach Luft und hustete.

„Ich habe Euch hier hergebracht, damit man sich um Euch kümmern kann.“ sagte er, die Stimme ein wenig heiser von dem scharfen Schnaps. „Was ist denn passiert in den letzten drei Tagen? Habt Ihr den Vorsteher abgesetzt und hier das Regiment übernommen?“

Ich lachte leise.

„Nein...“ sagte ich, aber wir haben herausgefunden, dass es ein paar Dinge gibt, die ich gut kann.“

„Ganz besonders gut sogar!“ warf Ioreth eifrig ein.

Damrod betrachtete mich zweifelnd. Ich schenkte ihm ein möglichst kameradschaftliches Grinsen und krempelte die langen, grauen Ärmel hoch.

„Ich hoffe, es war genug Branntwein.“ sagte ich. „Denn ich fürchte, das wird jetzt weh tun.“

Ich hatte Recht; es tat weh, aber er nahm sich zusammen. Alandel hielt ihn fest, und ich sah, wie beiden der Schweiß ausbrach, als ich den ausgerenkten Arm, so stark ich konnte, in meine Richtung zog. Dann konzentrierte ich mich, biss mir auf die Unterlippe und betete, dass ich den richtigen Trick noch beherrschte. Ich drehte den Arm kurz und kraftvoll nach links uns spürte mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung, wie die Kugel in die Pfanne zurückschnappte.

Damrod holte tief Luft, wischte sich den Schweiß von der Stirn, und es gelang ihm, mir zuzulächeln. Ich musste mich setzen; meine Knie waren sicher nicht weniger weich als seine. Dann nahm ich die kläglichen Reste meiner Professionalität zusammen und räusperte mich.

„Ich gebe Euch eine Salbe mit, die ihr in das Schultergelenk einreiben solltet.“ sagte ich. „Alandel wird Euch helfen, Euch wieder anzuziehen.“

Alandel streifte ihm das Lederwams über den Kopf und schloss die seitlichen Schnallen, dann verbeugte er sich kurz und verließ den Raum. Ich nahm ein paar Binden und formte eine Schlinge daraus. „Ihr solltet Euch für die nächsten paar Tage mit diesem Arm in Acht nehmen, Damrod.“ sagte ich.

„Das ist ein wenig schwierig, wenn ein Krieg bevorsteht.“ sagte er langsam; sein Blick wich nicht von meinem Gesicht, während ich den Stoff um seinen Nacken knotete. Ich nahm seinen frisch eingerenkten Arm, lagerte ihn behutsam in der Schlinge und ließ meine Hand einen Moment lang auf seiner Haut ruhen. Sie fühlte sich warm und lebendig an unter meinen Fingern, und plötzlich wollte ich seinen Arm streicheln und meine Handfläche über die kraftvollen Muskeln gleiten lassen…

„Ich weiß, Ihr werdet nicht viel Zeit haben, Euch auszukurieren.“ sagte ich leise und ruhig. „Aber ich wäre trotzdem froh, wenn Ihr heil und ganz davonkommt, Damrod von Ithilien.“

„Und ich wäre froh, wenn ich Euch dann hier wiederfände, Noerwen.“ erwiderte er, und für einen süßen, prickelnden Moment legte er seine Hand über die meine. „Aber jetzt muss ich in das Quartier der Wachleute.“

Er ließ mich los und lächelte mich an, dann wandte er sich ab und ging zur Tür hinaus. Ich blieb mitten im Raum stehen, und fing langsam an, die restlichen Stoffstreifen wieder sauber aufzuwickeln.

„Prächtiges Mannsbild.“ kam plötzlich Ioreths muntere Stimme. Ich zuckte heftig zusammen; ich hatte keine Ahnung gehabt, dass sie noch im Zimmer war. „Und wenn mich meine alten Augen nicht täuschen, dann habt Ihr ihn mit dem Feuer auf Eurem Kopf ordentlich in Brand gesetzt...“

„Alte Klatschbase!“ schnappte ich und spürte, wie ich hochrot anlief. Dann ergriff ich die Flucht, und ihr amüsiertes Kichern folgte mir aus dem Zimmer und den halben Gang hinunter.

*****

Bevor ich mich an diesem Abend schlafen legte, ging ich noch einmal hinaus zur Stadtmauer. Der Himmel war jetzt mitternachtsschwarz, und in der Ferne flackerten Feuer auf, wo ich den inzwischen halb zerstörten Rammas Echor vermutete. Ich lehnte mich gegen die Mauer und schloss die Augen.

Jetzt war nicht die Zeit, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich hier tat. In diesem Moment wusste ich es genau; ich hatte geschickte Hände und medizinische Kenntnisse, die mich in der Zeit, die dieser geschundenen Stadt bevorstand, nützlich machten, und über alles weitere konnte ich mir immer noch nachdenken, wenn die Schlacht vorbei war.

Für eine gewisse Zeit gehörte ich hinein in diese Geschichte und durfte eine Rolle darin spielen. Und im Gegensatz zu den Menschen, die jetzt vielleicht schlaflos in ihren Betten lagen und nicht wussten, was die nächsten Tage bringen mochten, wusste ich ziemlich genau, was uns bevorstand. Ich dachte an den verletzten Faramir, der im Fieberschlaf in der Veste lag, während sein Vater brütend an seinem Bett saß. Ich dachte an Peregrin, der unter Fremden seinen nur halb verstandenen Dienst versah und sich unendlich einsam fühlen musste. Und ich dachte an den Ringträger, der, wenn ich mich recht an den Ablauf der Ereignisse erinnerte, jetzt gefangen und elend im Orkturm von Cirith Ungol lag.

Steh ihm bei. betete ich. Gib ihm Mut. Ich weiß, Du hast ihn auserwählt, aber Du lässt ihn einen hohen Preis zahlen dafür, dass er seine Last so demütig auf sich genommen hat.

Und plötzlich erinnerte ich mich daran, wie ich einmal in einem verdunkelten Theater gesessen hatte, während auf der Bühne ein Schauspieler klassische Zeilen sprach... Zeilen, die mit merkwürdiger Vollkommenheit hierher passten, wo ich am Vorabend einer grausamen Belagerung auf der Mauer von Minas Tirith stand. Und plötzlich kamen die Worte, die mich damals so tief berührt hatten, wie von selbst zu mir zurück, und ich sagte sie laut.

„Ruf lieber aus im Heere, Westmoreland...
Dass jeder, der nicht Lust zu fechten hat
Nur hinzieh’n mag, man stell ihm seinen Pass
Und stecke Reisegeld in seinen Beutel
Wir wollen nicht in des Gesellschaft sterben
Der die Gemeinschaft scheut mit uns im Tode.“*

„Das ist gut.“

Ich erkannte die musikalische Altmännerstimme sofort und fuhr herum. Gandalf stand hinter mit, ein weißer Schemen in der Finsternis. Der leichte Nachtwind bewegte seinen Bart.

„Danke, Herr.“ sagte ich überrascht. „Ein Dichter unserer Welt hat das geschrieben. Er kam aus dem selben Land wie der Pengolodh, und er erzählt von einem König, der so zu seinem Heer spricht, am Vorabend einer großen Schlacht.“

„Tatsächlich?“ Gandalf trat näher. „War seine Lage ähnlich verzweifelt wie unsere?“

„Ich weiß es nicht mehr ganz genau“, gestand ich, „aber das gegnerische Heer war in der Übermacht.“

„Dann war seine Lage wirklich der unseren ähnlich.“ bemerkte Gandalf trocken. „Ihr solltet ins Bett gehen, Noerwen. Oroher singt Euer Loblied in Westron, Rohirric und Sindarin gleichzeitig, aber Ihr seid nur ausgeschlafen von Nutzen, Kind.“

Das war das erste Mal, dass er den Namen verwendete, den mir Damrod gegeben hatte, und dass er mich obendrein „Kind“ nannte, rührte mich sehr.

„Ich gehe gleich wieder zurück, nur noch einen kleinen Moment.“ versprach ich. „Gute Nacht, Herr.“

„Gute Nacht.“

Ich hörte, wie sich seine Schritte langsam entfernten und fühlte einen Augenblick tiefes Mitgefühl und Bewunderung; ich konnte die Last kaum ermessen, die er schon so lange auf den Schultern trug. Dann starrte ich wieder hinaus auf den Pelennor, auf dem sich der Feind immer mehr den Stadtmauern näherte. In diesem Moment spürte ich keine Furcht, nur einen überraschenden, wenn auch zerbrechlichen Frieden und einen Mut, der mir das Rückgrat stärkte. Und ich sprach das Zitat langsam und leise zu Ende, ohne jedes Pathos, sondern erfüllt von einer stillen, unbeirrten Zuversicht:

„Und nie von heute bis zum Schluss der Welt
Wird Krispian vorübergehn,
Dass man nicht uns dabei erwähnen sollte,
Uns wen'ge, uns beglücktes Häuflein Brüder:
Denn welcher heut sein Blut mit mir vergießt,
Der wird mein Bruder, sei er noch so niedrig,
Der heutge Tag wird adeln seinen Stand
Und Edelleut in England, jetzt im Bett
Verfluchen einst, dass sie nicht hier gewesen
Und werden kleinlaut, wenn nur jemand spricht
Der mit uns focht am Krispinstag.“ *


* aus „Heinrich V.“ von William Shakespeare (Die Rede des Königs am Vorabend des St. Krispin--Tages und der Schlacht von Agincourt)


Top           Nächstes Kapitel           Stories          Home