Winterfeuer
von Cúthalion

Kapitel 6
Von Kräutern und Knochenbrüchen

Ich erwachte am nächsten Morgen steif und zerschlagen; graues, viel zu schwaches Licht sickerte durch den steinernen Spitzbogen des hohen, schmalen Fensters. Ich stand auf und machte den höchst unzulänglichen Versuch, mir die Haare mit den Fingern zu kämmen, dann lehnte ich mich gegen die Brüstung, stieß die Fensterflügel mit den unebenen Glasscheiben auf und atmete tief ein. Die Luft war kühl; es roch nach Holzrauch und nach den Kräutern aus dem Garten.

Es klopfte. Ich fuhr herum, strich das zerknitterte Nachthemd glatt und wünschte mir verzweifelt, ein bisschen präsentabler auszusehen.

„Ja, bitte?“

Die Tür wurde schwungvoll aufgestoßen und herein wirbelte eine alte Frau mit einem Bündel über dem Arm. Sie schloss die Tür mit einem Knall hinter sich und musterte mich aus kleinen Vogelaugen eingehend von oben bis unten.

„So... Ich seid also das Fräulein, das der Herr Faramir und seine Männer auf dem Weg nach Minas Tirith aufgelesen haben? Armes Ding! Aber hübsch seid Ihr – vielleicht ein bisschen mager, nicht? Und so schönes Haar! Ist es wahr, dass Ihr nicht mehr wisst, wer ihr seid, und wo Ihr herkommt?“

Ich öffnete den Mund, um zu antworten, aber ich hätte mir die Mühe sparen können.

„Ich habe Euch Seife und saubere Tücher gebracht, Kindchen. Ihr könnt schließlich nicht in Männerkleidung herumlaufen, meine Güte! Hier ist ein Unterkleid und eine Kutte, wie wir sie hier in den Häusern tragen. Außerdem habe ich hier Sandalen für Euch – die stammen von meiner Nichte und Ihr habt genauso kleine Füße, also passen sie sicherlich – und einen Kamm. Wenn Ihr mögt, kann ich Euer Bett machen, während Ihr euch ein wenig herrichtet, ja?“

Nicht doch. „Ich... ich könnte ein bisschen Wasser brauchen.“ wagte ich schwach einzuwerfen.

„Wasser. Ja, gewiss doch, Wasser! Wo habe ich bloß meinen Kopf heute morgen! Ich hole Euch sofort einen Krug und eine Schüssel. Bin gleich wieder da, Kindchen!“

Die Tür schlug zu und weg war sie. Ich zog eine halb belustigte, halb verzweifelte Grimasse und inspizierte die Kleidungsstücke, die sie als sauber gefalteten Stapel auf dem Tisch zurück gelassen hatte, neben einem Tontöpfchen mit weicher, bräunlicher Kräuterseife (jede Menge Rosmarin, dem Geruch nach zu urteilen) und dicken grünen Tüchern in verschiedenen Größen. Die Kutte, die sie mitgebracht hatte, war aus hellgrauem, glatt gewebten Leinen und fühlte sich angenehm an unter meiner Handfläche. Bevor ich das Unterkleid näher betrachten konnte, war die alte Frau schon wieder da, einen großen Krug unter dem Arm, aus dem es verlockend dampfte, und eine flache Schüssel in der freien Hand.

„Bitte sehr, Kind. Macht Euch schnell fertig, ich hole Euch gleich ab, dann schauen wir, wo wir etwas für Euch zum Frühstück bekommen. Der Vorsteher meint, Herr Gandalf käme demnächst, um noch einmal mit Euch zu reden.“

„Das weiß ich.“ sagte ich und lächelte sie strahlend an. „Vielen Dank für Eure Hilfe. Wir sehen uns ja dann gleich, nicht?“

Enttäuscht klappte sie den Mund wieder zu (ich war dem nächsten Wortschwall offenbar nur um Haaresbreite entgangen) und zog sich zurück. Ich seufzte erleichtert, schlüpfte aus dem Nachthemd und fing an, mich zu waschen.

*****

Eine halbe Stunde später hatte ich mich umgezogen, meine Haare gekämmt und zu einem dicken Zopf geflochten und endlich etwas zu essen bekommen. Es gab Milch, frisches Brot, Honig und Obst, und ich saß in einem stillen, langgestreckten Raum mit einer breiten Fensterfront, während ich frühstückte. Offenbar war das eine Art Refektorium, wo normalerweise alle Heiler und Pfleger gemeinsam aßen, aber an diesem Morgen war ich allein. Der Himmel draußen war so düster, dass vor mir auf dem Tisch Kerzen in einem Leuchter brannten.

Als ich fertig war, gesellte sich der Mann zu mir, der mich am Abend zuvor untersucht hatte. Er stellte sich als Oroher vor und jetzt erfuhr ich, dass er der Vorsteher der Heilenden Häuser war. Er wollte wissen, ob ich mich ein wenig umschauen wollte, bis Gandalf kam.

In der nächsten Stunde führte er mich durch zahlreiche Behandlungsräume. Alles war gepflegt, sehr zweckmäßig und peinlich sauber. In einem Zimmer wurden Dutzende verschiedener Kräuter, Salben und Öle aufbewahrt; Gläser, Flaschen und Tiegel reihten sich an den Wänden auf, in Regalen, die vom Boden bis zur Decke reichten. Die dunklen Kräutergläser waren mit feinen Buchstaben beschriftet; außerdem befand neben jeden Namen eine sehr naturgetreue Zeichnung der entsprechenden Pflanze. Oroher wartete geduldig, während ich fasziniert die Regale entlangwanderte und erfolglos versuchte, das System herauszufinden, nach dem sie angeordnet waren. Als ich mich gerade zu ihm umdrehte, kam plötzlich eine Gestalt zu einer schmalen Seitentür hereingeschossen.

„... verflixt noch mal, wie konnte mir das bloß wieder passieren?“ Es war ein kleiner, ziemlich alter Mann mit einem sanften, faltigen Gesicht. Seine Ärmel waren hochgekrempelt und über der grauen Kutte trug er eine ehemals weiße Schürze. Sie war voller fettiger Flecken, und er war in eine Wolke aus Pfefferminzgeruch gehüllt, die so stark war, dass ich niesen musste.

„Hattest du einen Unfall, Mardil?“ fragte der Vorsteher milde, seine Stimme eine Mischung aus Humor und leichter Resignation.

Der Alte stutzte und nahm uns endlich zur Kenntnis. „Ach, Oroher...“ sagte er zerstreut, „...weißt du, draußen hat jemand ein Bettlaken fallen lassen und irgendwie haben sich meine Füße wohl darin verwickelt, und die Flasche rutschte mir aus den Händen.“ Er warf einen verwirrten Blick in meine Richtung. „Und Ihr, Fräulein...? Braucht Ihr etwas? Habt Ihr Fieber? Eine Erkältung? Eukalyptus habe ich keinen mehr, die Versorgungswege nach Süden sind bedauerlicherweise abgeschnitten. Und das Pfefferminzöl... ach ja...“ Seine Augen waren himmelblau wie die eines Kindes, und er lächelte mich schüchtern an, als sei ihm seine Ungeschicklichkeit schrecklich peinlich. Ich mochte ihn auf Anhieb.

„Nein, ich bin nicht erkältet.“ sagte ich und lächelte zurück. „Aber wenn ich wirklich Fieber hätte, fände ich hier alles, was ich brauche. Ihr habt einen guten Vorrat an Weidenrinde und Ringelblume, sehe ich.“

Seine Augenbrauen schossen nach oben und verschwanden unter dem Ansatz seiner zerzaustem eisgrauen Haarmähne. „Oh, Ihr seid heilkundig?“ rief er entzückt, und mir fiel gerade rechtzeitig ein, dass ich offiziell keine Ahnung hatte, worin ich kundig war und worin nicht. Ich versuchte so verblüfft dreinzuschauen wie möglich.

„Offensichtlich kennt das Fräulein sich gut aus.“ bemerkte Oroher heiter und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Das macht mir Hoffnung, Kind... offenbar wird sich Euer Gedächtnis doch noch irgendwann erholen. Vielleicht möchtet Ihr dem Kräutermeister ein wenig zur Hand gehen – vorausgesetzt, Ihr seid dazu bereit und Herr Gandalf hat nichts dagegen einzuwenden.“ Er warf Mardil einen Seitenblick zu. „Ich denke, er kann ein wenig Hilfe gut gebrauchen.“

„Vielleicht kann sie gleich hierbleiben?“ erkundigte sich Mardil hoffnungsvoll.

Oroher versprach, mich sofort zu holen, wenn Gandalf eintraf und verabschiedete sich freundlich. Ich holte eine Kehrschaufel und einen Besen aus einer Ecke und fegte die Scherben vor der Tür zusammen; dann wischte ich mit einem Tuch das Öl auf, während Mardil mir einen Vortrag über die Vorzüge von Eisenhut und Thymian hielt.

*****

Gandalf kam am späten Vormittag; er sah müde und besorgt aus und hatte nicht viel Zeit. Ich holte ihm einen Becher gekühlten Wein aus dem Refektorium und wir gingen hinaus in die Kräutergärten.

„Habt Ihr mit Denethor über mich gesprochen?“ fragte ich. Er nahm einen Schluck und schüttelte den Kopf.

„Ich habe es vermieden.“ sagte er. „Bei seiner augenblicklichen Verfassung bin ich nicht sicher, wie er reagieren würde.“

„Danke.“ sagte ich ehrlich.„Das Vernünftigste wird wahrscheinlich sein, dass ich hier bleibe. Ich habe angefangen, mich ein wenig nützlich zu machen.“

„Wie das?“ Gandalf betrachtete mich neugierig, dann runzelte er die Stirn und schnupperte. „Ihr riecht nach Pfefferminze.“

Ich grinste. „Der Kräutermeister hatte ein Problem mit einer Ölflasche.“

„Mardil?“ Gandalf schnaubte vernehmlich und schüttelte den Kopf. „Er ist ein Born des Wissens, aber er hat leider auch zwei linke Hände. Er braucht alle Hilfe, die er bekommen kann.“

Er stellte den Becher ab und sah mich an. „Ich möchte etwas von Euch wissen. Wie viel hat der Pengolodh aufgeschrieben? Euren Worten gestern Abend habe ich entnommen, dass er den Einen kannte. Aber ich verstehe nicht, wie das sein kann... er ist seit zehn Jahren nicht mehr hier gewesen und ich weiß erst seit knapp einem Jahr mit Bestimmtheit, welchen Ring Frodo die ganze Zeit in Beutelsend aufbewahrt hat. Ich nehme an, Ihr wisst, wer Frodo Beutlin ist... und wohin er geht?“

Ich nickte stumm.

„Wie kommt das?“

Ich betrachtete meine Hände.

„Ich nehme an,“ sagte ich langsam, „dass es daran liegt, dass wir aus zwei verschiedenen Zeiten kommen. In der Zeit, aus der... aus der ich stamme, ist der Pengolodh schon fast dreißig Jahre tot.“

Ich hörte, wie er kurz und scharf Atem holte.

„Tot? Ich gestehe, das hätte ich nicht erwartet.“ sagte er leise und betroffen. „Er war ein Gelehrter, kein Krieger, aber als ich ihn zuletzt sah, kam er mir gesund vor und auf der Höhe seiner Kraft.“

„Gandalf.“ Ich hielt seinen Blick fest. „Als er vor 30 Jahren starb, war er über achtzig Jahre alt und in unserer Welt ein sehr betagter Mann.“

Er stutzte, dann nahm er noch einen Schluck Wein und dachte nach.

„Aber das heißt...“

Ich konnte sehen, wie die plötzliche Erkenntnis in seinen Augen aufblitzte.

„... das heißt, er wird noch einmal kommen. Nach dem Ringkrieg... wie immer es auch endet. Stimmt das?“

Ich nickte wieder; ich wagte nicht, etwas zu sagen. Ich wusste nur zu gut, was er mich als nächstes fragen würde.

„Wisst Ihr, wie es endet?“

Ich seufzte. „Ja, das weiß ich.“

„Sagt es mir.“

Ich schwieg.

Er legte seine Hand auf meinen Arm. Es war kein fester Griff, aber ich spürte sekundenlang die ungeheuerliche Macht, die sich – mittlerweile sehr dicht unter der Oberfläche - im Körper des alten Zauberers verbarg.

„Ich will nicht, dass Ihr mir jede Einzelheit sagt. Ich würde nicht alles wissen wollen und ich verstehe, dass Ihr zögert. Vielleicht würde ich das auch, wenn ich Ihr wäre. Aber eines muss ich von Euch verlangen: Gebt uns Hoffnung.“

Ich sah ihn an; sein Gesicht strahlte Schmerz und Autorität aus, und seine Augen flammten.

„Gebt uns Hoffnung.“ wiederholte er.

Ich legte meine Hand zaudernd über seine; normalerweise würde ich das nicht gewagt haben, aber ich sah, wie groß seine Not war und wie bitter und scheinbar aussichtslos der Kampf, der dem geschundenen Reich bevorstand.

„Der König wird kommen.“ sagte ich, und ich konnte hören, dass meine Stimme zitterte. Der Zauberer ließ mein Gesicht nicht aus den Augen. „Und der Auftrag des Ringträgers ist nicht vergebens. Sauron wird fallen.“

Die kraftvollen alten Finger drehten sich und umschlossen meine so fest, dass ich mir auf die Lippen biss.

„Schwört Ihr das?“

„Ich schwöre es bei meinem Leben.“ sagte ich, und jetzt zitterte meine Stimme nicht mehr. „Sauron wird fallen.“

Gandalf ließ meine Hand los; plötzlich und völlig unerwartet beugte er sich vor, nahm mein Gesicht in beide Hände und küsste mich auf die Stirn. Ich wagte nicht, mich zu rühren – ich war erschüttert und bewegt. Dann stand er auf und ging mit raschem Schritt über den Gartenweg davon. Er hielt sich sehr gerade, und seine Bewegungen hatten einen neuen, frischen Schwung. Die hohe weiße Gestalt verschwamm vor meinen Augen und ich begriff ohne große Überraschung, dass ich weinte.

*****

Bis zum frühen Nachmittag hatte ich die Kräutergläser und Ölflaschen in Mardils Vorratsraum zumindestens oberflächlich sortiert; danach ging ich mit dem Kräutermeister ins Refektorium... das heißt, ich fand den Weg dorthin für uns beide, nachdem Mardil uns in die Irre führte und wir in einem riesigen Lager landeten, in dem sich saubere Bettlaken bis zur Decke stapelten. Er war aufrichtig bestürzt, verlor aber seine gute Laune nicht und aß den schlichten Eintopf, der im Speisesaal serviert wurde, mit gutem Appetit (Später erfuhr ich, dass schon seit 40 Jahren in den Häusern der Heilung in Diensten stand, dass er sich aber nichtsdestotrotz immer noch jeden zweiten Tag verlief).

Nach der schnellen Mahlzeit entschuldigte ich mich bei Mardil und machte mich auf die Suche nach Oroher. Er befand sich in einem der Krankenzimmer und war damit beschäftigt, die tiefe Beinwunde eines jungen Mannes zu verbinden. Das Ganze sah aus wie ein offener Bruch, aber soweit ich das erkennen konnte, waren die Knochen bereits sauber gerichtet worden. Vor dem Vorsteher auf einem Tablett lagen weiße Leinenbinden, daneben stand eine Schüssel mit einem dunkelgrünen Kräuterbrei. Es duftete intensiv nach Ringelblume, und ich witterte auch noch ein anderes Aroma, das ich nicht gleich identifizieren konnte, bitter und ein wenig scharf.

„Ist das Ackerschachtelhalm?“ fragte ich. Oroher lächelte anerkennend und nickte mir zu, und ich segnete einmal mehr meine Großmutter, der ich mein Wissen zu verdanken hatte. Ich sah zu, wie Oroher einen Teil der Binden durch den Kräuterbrei zog und behutsam auf die tiefe, gründlich gereinigte Wunde legte. Er merkte, dass ich ihn beobachtete.

„Habt Ihr schon einmal einen Verband angelegt?“ fragte er.

„Ich bin nicht sicher.“ log ich und dachte an die drei Monate Praktikum im Krankenhaus meiner Stadt, während des ersten Studienjahres. Die Oberschwester, die damals ein halbes Dutzend verschreckter Studenten unter ihrer Fuchtel gehabt hatte, hatte mehr über Patientenbetreuung und Wundpflege vergessen, als ich je lernen würde, und sie wusste es. Unter ihren Augen mit Verbandsmaterial herumzupfuschen, wäre Selbstmord gewesen.

„Ich kann es ja einmal versuchen.“ schlug ich mit angemessener Zurückhaltung vor. Also wickelte ich säuberlich eine blütenweiße Bandage über den kräutergetränkten Verband, während Oroher mir auf die Finger sah, und ich hatte beinahe Schwester Irmingards schnarrenden Alt in den Ohren: Glatt, fest und ordentlich, oder versuchst du einen Zopf zu flechten, Mädel? Als ich fertig war, nickte der Vorsteher wieder zufrieden und erlaubte, dass ich ihn weiter auf seiner Visite begleitete. An diesem Nachmittag schiente ich noch einen gebrochenen Arm, versorgte die verbrannte Hand einer alten Frau und legte weitere fünf Verbände an. Von da an gehörte ich stillschweigend zum Personal.

*****

Gegen Abend schrieb ich in Mardils Lagerraum gerade eine neue Liste der Vorräte, als plötzlich die alte Frau hereinwieselte, die mir morgens meine frische Kleidung gebracht hatte.

„Besuch für Euch, Kindchen.“ sagte sie fröhlich und warf dem Kräutermeister, der vor sich hinsummte und getrocknete Kamillenblüten in ein dunkles Glas abfüllte, einen niederschmetternden Blick zu. „Lasst diesen Zausel hier allein und kommt. Er wartet im Garten.“

Neugierig folgte ich ihr die lange Treppe hinauf und trat ins Freie. Sie führte mich zur Westseite der Häuser; eine hohe, mit eleganten Steinmetzarbeiten verzierte Mauer schloss das Gelände dort ab und bot einen Blick auf den Mindolluin. Hinter seinem dunklen Gipfel senkte sich die Sonne tiefrot dem Horizont entgegen. Dicht an der Mauer stand ein Mann, reglos und schwarz wie ein Schattenriss. Ich erkannte ihn nicht sofort.

„Hallo?“ fragte ich unsicher. Beim Klang meiner Stimme drehte sich den Mann um und ich sah, dass es Damrod war.

„Guten Abend!“ Ich ging lächelnd auf ihn zu, aber als ich sein Gesicht sah, erstarb die Freude in meinem Herzen und ich erschrak. Er war entsetzlich blass und seine Augen sahen aus, als sei alles Leben aus ihnen gewichen.

„Ich wollte mich nur verabschieden.“ sagte er kurz. „Der Truchsess schickt den Herrn Faramir nach Osgiliath, und ich werde mit ihm gehen.“

Mir wurde eiskalt.

„Osgiliath?“ sagte ich leise. „Ich... man hat mir hier erzählt, dass dieser Ort von einer feindlichen Übermacht eingenommen worden ist. Und dass es kaum Aussicht gäbe, ihn zurückzuerobern... es sei denn, mit einem sehr großen Heer, und das hat diese Stadt nicht. Das ist doch Selbstmord.“

„Ich weiß.“ sagte er und wandte sich ab. Ich trat neben ihn und schaute ihn an. Alles, was ich sah, war ein regloses Profil.

„Könnt Ihr... könnt Ihr nicht bleiben? Ihr müsst wissen, ich mache mir wirklich Sorgen um Euch, Damrod.“ Ich versuchte so unbeschwert zu klingen wie möglich, aber ich scheiterte kläglich.

„Das kann ich nicht.“ Die dunkle Stimme klang müde, aber entschieden. „Ich bin mit dem Sohn des Truchsessen mehr oder weniger aufgewachsen. Wir haben gemeinsam Schwertfechten und Bogenschießen gelernt. Das einzige Mal, als Faramir sich betrank, war ich dabei.“ Er lächelte freudlos. „Ich hielt seinen Kopf, als er sich hinterher bei den Ställen in die Pferdetränke übergab.“

Er löste sich von der Mauer.

„Ich bin einer seiner Männer.“ sagte er einfach. „Ich folge ihm, wohin er auch geht. Ich möchte diesen Krieg gern überleben, aber ich habe es nicht in der Hand. Ich werde ihn nicht im Stich lassen, so wie...“ Er brach ab.

Ich sah ihm ihn die Augen und strich mir dabei die Haare aus dem Gesicht, die sich aus dem Zopf auf meinem Rücken gelöst hatten, und die ein vorwitziger Wind wie weiche Federn an meinen Wangen kleben ließ.

„Wie sein eigener Vater?“ fragte ich leise.

Er schaute mich unverwandt an.

„Offenbar wird viel geredet in den Häusern der Heilung.“ bemerkte er. Plötzlich streckte er eine Hand aus, nahm eine von meinen langen Strähnen zwischen die Finger und schob sie sanft hinter mein Ohr.

„Wenn es irgend geht, komme ich zurück.“ Er lächelte leicht und für einen verwirrenden Augenblick glitten seine Finger von der Ohrmuschel aus tiefer und ruhten warm auf der Haut meines Halses. „Gebt auf Euch acht, Noerwen. Ich bin auch um Euch besorgt.“

Er wandte sich ab und ging, und ich blieb an der Mauer stehen, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. In mir brodelte ein Durcheinander aus Bedauern und Furcht, und ein starker Zorn.

Ich hätte so gerne irgend etwas unternommen, um diesen ganzen Wahnsinn zu verhindern. Aber was? Sollte ich in den Thronsaal der Könige stürmen und den Truchsess zur Rede stellen? Ihm dramatische Vorwürfe ins Gesicht schleudern, so etwas wie Was habt Ihr davon, Euren eigenen Sohn in den sicheren Tod zu schicken?

Ich schüttelte den Kopf und biss mir auf die Lippen. Ich würde kaum vorgelassen werden; Denethor wusste nicht einmal, dass ich existierte, und nach Lage der Dinge war das auch gut so. Es hatte keinen Zweck, eingreifen zu wollen... meine Angst, das empfindliche Gleichgewicht der Ereignisse zu stören, war schon jetzt sehr groß. Es gab nichts, was ich tun konnte.

Was war meine Aufgabe in Mittelerde? Warum war ich hier?

Ich wusch mir in einem der Gartenspringbrunnen das Gesicht, flocht meinen Zopf neu, wartete, bis ich meine Fassung wiedergewonnen hatte und kehrte zum Kräutermeister zurück. Ich ließ mich hinter dem kleinen Schreibpult nieder.

„Mardil?“ fragte ich. „Habt Ihr eine Ahnung von den verschiedenen Elbensprachen?“

Er blickte überrascht auf und hätte um ein Haar die zweite Flasche an diesem Tag fallen lassen; diesmal war es ein Flakon mit Arnikaessenz.

„Gewiss, Kind.“ antwortete er, nachdem er das Fläschchen auf einem Regal in Sicherheit gebracht hatte. „Was möchtet Ihr denn wissen?“

„Was bedeutet das Wort Noerwen?“

Er runzelte die Stirn und murmelte einen Augenblick stimmlos etwas vor sich hin, dann erhellte sich sein Gesicht.

„Das ist recht einfach.“ erwiderte er und erhob dozierend den Zeigefinger. „Noer oder auch Naur ist Sindarin und bedeutet Feuer. Und die Silbe –wen heißt Mädchen.“

Die blauen Kinderaugen musterten mich interessiert.

„Feuermädchen – wie poetisch! Hat Euch jemand so genannt? Ich finde, das passt recht gut...“

Ich lächelte bitter und steckte die Feder zurück in das Fass, bevor die Tinte anfing, auf mein säuberlich beschriebenes Pergament zu tropfen.

„Kann schon sein.“ murmelte ich und fuhr mir mit beiden Händen über das Gesicht; plötzlich war ich sehr müde. „Wenigstens habe ich jetzt wieder einen Namen.“


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