Ein wirklich gutes Jahr (Pretty Good Year)
von Mary Borsellino, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 20
Nachmittagslicht

Sam erklärte Rosie oft, sie käme ihm mehr wie ein Elb vor als wie ein Hobbit. Sie schrieb das seinem seltsamen Geschmack zu und tat es als Schmeichelei ab. Frodo allerdings war offensichtlich nicht immer ganz von dieser Welt.
Jedenfalls war es nicht noch so einer von diesen trägen Tagen, die man mit allerlei Sinnlosigkeiten vertun konnte. Merry und Pippin hatten sich zum Abendessen in einer halben Stunde angesagt und waren bereits überfällig, und es gab noch etwa eine Million Dinge zu erledigen. Elanor war den ganzen Tag unruhig und gereizt gewesen. Und ausgerechnet diese Szenerie musste sich Frodo natürlich aussuchen, um zu malen.
„Versuch, so zu schauen, als wärst du völlig überwältigt vor Liebe, Sam.“
„Ich bin völlig irgendwas, das ist mal sicher. Möglicherweise genervt von diesem Hut, aber bestimmt nicht verliebt.“
Der fragliche Hut war ein schlappes, dunkelblaues Ding; von seinem Rand hing eine lange Pfauenfeder herunter, die jedes Mal Sams Gesicht streifte, wenn er sich auch nur ein paar Zentimeter bewegte. Rosie hatte die allergrößte Mühe, einen Ausdruck ätherischer Ruhe beizubehalten, angesichts der Tatsache, dass er sie andauernd annieste.
Frodo hatte sie im Vorderraum postiert; Sam hielt ein Knie gebeugt und blickte zu Rosie auf, die auf einem Stuhl stand. Sie sollten Beren und Lúthien darstellen. Umgeben vom Geruch kochenden Kohls und von den Geräuschen, die ein launisches Baby von sich gab, und obendrein noch dekoriert mit einem lächerlichen Hut, war es schwierig, die rechte Stimmung zu bewahren.
„Kann das nicht warten?“ fragte Rosie zum ungefähr tausendsten Mal.
„Das Nachmittagslicht ist am besten zum Arbeiten, und wenn ich jetzt anfange, kann ich später leichter weitermachen.“
„Warum fängst du dann nicht an einem anderen Tag an, bitteschön?“
„Sei still, Lúthien, und schau schön heiter und gelassen.“
Rosie seufzte und versuchte, ihre Pose zu halten. Sam nieste schon wieder. Lúthien – was für ein blödsinniger Name war das überhaupt? Da konnte man sein Kind genauso gut Aschenputtel oder Schneewittchen nennen! Niemand konnte Spaß haben mit so einem Namen… höchstens herumsitzen und seufzen und darauf warten, dass der Prinz endlich auftauchte. Rosie überlegte, dass es viel vernünftiger war, wenn Kinder Däumelinchen, Goldlöckchen oder Rosenrot hießen. So ein Mädchen konnte alle Abenteuer erleben, zu denen sie Lust hatte, und wenn ein Prinz vorbei kam, war das schön und gut, aber keinesfalls besser als irgendein anderer Ehemann.
Elanor gab in ihrer Wiege im Nebenraum noch einen Schrei von sich, und Rosie stieg vom Stuhl herunter.
„Ich kann sie nicht länger liegenlassen, das hier muss warten.“ Sie schnipste mit Daumen und Zeigefinger gegen die Pfauenfeder und verließ das Zimmer.
„Sollen wir lieber aufhören?“ fragte Sam und stand auf.
„Nein, ich kann mit den Einzelheiten von deinem Gesicht weitermachen. Setz dich hier zu mir.“ Frodo mischte sorgfältig zwei der Farbschattierungen und versuchte, Sams Hautton zu treffen.
„Warum diese Geschichte, Herr Frodo? Wieso musst du gerade die malen?“
Frodo lächelte und verrührte ein Klümpchen helles Blau für den Hut.
„Die Liebe der beiden war so mächtig, dass sie bereit waren, alles dafür aufzugeben. Sie bedeutete ihnen mehr als alles andere auf der Welt.“
„Ich will ja nichts Schlechtes über die Geschichte sagen – sie ist ja wirklich so schön wie nur irgendwas – ich denke bloß, es ist besser, wenn du eine gewöhnliche Art von Leben hast, und wenn du eine Frau liebst, die Kohl kocht und sich auch mal aufregt, und die sich jede Nacht neben dir im Bett zusammenrollt. Das ist eine viel bessere Art von Liebe als die, die in traurigen, schönen Bildern endet.“ sinnierte Sam und versuchte, das Gesicht ruhig zu halten, während Frodo seine Züge auf die Leinwand übertrug.
„Du hast recht. Und diese Art ist womöglich noch kostbarer und sie ist es mehr als zweimal wert, alles dafür aufzugeben.“ stimmte Frodo zu, dann seufzte er. „Ich glaube, es ist sowieso nicht mehr genug Licht da, um weiterzumachen.“
„Vielleicht haben wir noch ein Weilchen, bevor Merry und Pippin aufkreuzen.“ Sam lächelte und küsste Frodo auf die Wange.
„Pass mit dieser Feder auf!“ Frodo lachte, als sie in der blauen Farbe landete. „Jetzt kommt das Zeug überallhin. Schau, du hast schon etwas davon im Gesicht.“ Er rieb mit seinem Daumen an dem Schmutzfleck herum, aber dadurch wurde es nur noch schlimmer.
„Du könntest sie ja ab jetzt als Pinsel benutzen.“ schlug Sam vor. „Wie kommst du überhaupt zu so einem Hut?“
„Ich habe keine Ahnung. Er gehörte Bilbo, aber ich habe ihn das Ding nie tragen sehen.“
„Ich kann mir gar nicht vorstellen, wieso.“ Sam bewegte den Kopf und die schwankende Feder zog einen Streifen Farbe quer über seine Nase.
„Ich kann euch da drinnen hören! Wenn ihr nicht mehr an dem Bild arbeitet, dann könnt ihr auch kommen und mir helfen!“ rief Rosie. „Aber lasst den Hut liegen, denn wenn ich den noch mal sehe, hacke ich ihn wahrscheinlich in Stücke und verfüttere ihn an die Krähen!“
Nach einem weiteren, schnellen Kuss machten die beiden sich daran, ihr behilflich zu sein, und sie stülpten ihr den Hut auf den Kopf, als sie beide Hände voll und deshalb keine Möglichkeit hatte, ihn loszuwerden.
Merry und Pippin brachten Flaschen mit leichtem, süßen Wein mit und außerdem einen Laib Kräuterbrot. Sie zogen Sam und Frodo gewaltig mit der blauen Farbe auf, die sie überall im Gesicht hatten. Rosies Gesicht war sorgfältig gewaschen, aber sie hatte immer noch helle Flocken aus getrockneter Farbe im Haar, und sie schwor Rache.
Frodo sah zu, wie alle die, die er auf der Welt am meisten liebte, gemeinsam lachten, sangen und tranken. Er entschied, dass Nachmittagslicht zwar gut zum Malen taugte, dass kerzenerhellte Nächte aber mindestens ebenso wundervoll waren, aus ihren ganz eigenen Gründen.

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