Ein wirklich gutes Jahr (Pretty Good Year)
von Mary Borsellino, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 16
Winters Weg

„Wie hältst du das bloß aus, den ganzen Tag herumzuliegen?“ Rosie warf die Nadeln entnervt beiseite; die Fäden waren schon wieder zu einem Wirrwarr verknotet.
„Nun ja, es ist nicht zum Aushalten. Das ist ja gerade der Punkt beim Herumliegen.“ Frodo hob die weggeworfene Stickerei vom Boden auf.
„Oh, sehr komisch! Ich werde hier noch verrückt!“
„Gut! Das heißt, das es dir besser geht. Vor drei Tagen noch warst du so süß wie Honig und doppelt so fügsam, und ich habe mir ziemliche Sorgen gemacht. Möchtest du einen Schluck Wasser?“
„Nein. Und bevor du fragst, ich will auch keinen Tee und keine Milch.“
„Also gut. Dann eine von deinen Geschichten?“
Rosie seufzte. „Die habe ich jetzt schon hundert mal gehört. Kann ich nicht ein bisschen hinaus in den Garten gehen? Ich bin sicher, Sam würde sagen, dass das in Ordnung ist.“
„Ich habe strengste Anweisung, darauf zu achten, dass du im Bett bleibst, bis er heimkommt. Und deine Wünsche abzuschlagen ist viel weniger furchterregend als seine.“ Frodo setzte sich lachend ans Bett. „Ich könnte für dich singen, wenn du möchtest.“
„Ich hab schon genug Probleme am Hals, ich brauche nicht auch noch wehe Ohren.“ hänselte Rosie. „Obwohl, ich könnte mir auch eine Geschichte für dich ausdenken, dann bin ich wenigstens beschäftigt.“
„Ja, erzähl mir ein Märchen.“ Frodo schüttelte ihre Kissen auf, rutschte neben sie und legte sich hin, während sie mit klarer, ruhiger Stimme zu sprechen begann.

„Winters Weg.

Es waren einmal vier Geschöpfe, die lebten zusammen in einem Wald. Da war Sommer; sie hatte ein Lachen wie der helle Morgen und ein Lächeln wie der Nachmittag, und ihr Haar war wie Sand im Sonnenlicht. Dann gab es Frühling, mit seinen Händen voller Erde und mit festen, starken Beinen. Herbst hatte eine goldbraune Haut, und sie schüttelte die Blätter von den Bäumen, um sie mit dem Wind tanzen zu sehen.
Zuletzt war da noch Winter. Er war so sanft und kalt wie frisch gefallener Schnee, und um den Hals trug er eine silberne Kette mit einem glitzernden Eiszapfen.
Sie lebten alle vier an einer Weggabelung der Straße, die durch den Wald führte. Der bisherige Weg entlang dieser Straße war sehr schwer gewesen, und sie fürchteten so sehr, einander zu verlieren, dass sie ihre Zehen zusammenbanden, mit silbrigem Garn aus Herbst’s Nähkasten. Jeder Haltefaden hatte eine andere Farbe, obwohl sie alle vom selben Strang stammten.
Frühling und Winter verband ein tiefes Blau der Treue und Hingabe. Herbst und Frühling gehörte das Rot, die Farbe von Herzblut, als Zeichen für Liebe und Leidenschaft. Die Schnur zwischen Herbst und Winter war vom Gelb der Gänseblümchen. Denn beide waren wagemutige Träumer gewesen, bis sie herausfanden, dass wilde Aufregungen ihrem Wesen nicht so sehr entsprachen wie der Frieden sonniger Nachmittage.
Die kleine Sommer war mit Frühling verbunden durch das strahlende Grün väterlicher Liebe, und ihr Bogen zu Herbst war vom sanften Pfirsichrot der Mutterschaft. Und zuletzt war Sommer an Winter festgemacht mit einem Knoten von strahlendstem Purpur. Das war die Farbe der Beeren, mit denen er sie gefüttert hatte, wenn ihre Mutter und ihr Vater scheinbar nicht hinsahen, denn er verwöhnte sie, als guter Onkel, der er war.
Jedermann, der die vier an dieser Weggabelung leben sah, war überzeugt davon, dass sich ihre Fäden irgendwann verwirren würden, und dass alles in schrecklichem Durcheinander enden müsse. Aber die vier wussten es besser, und niemals mehr, als wenn sie ihre Schnüre so eng wie möglich ineinanderdrehten.
Doch war da eine Last auf Winters Seele, denn er wusste, dass sie eines Tages die Reise auf der Straße würden fortsetzen müssen. Es gab zwei Wege, die man nehmen konnte. Der rechte war sonnig und voller Leben und führte in ein liebliches Land, der linke aber war nebelverhangen und es war kaum zu erkennen, wohin er führte. Winter wusste, dass Sommer, Frühling und Herbst auf den sonnigen Weg gehörten. Und er hasste es, mit anzusehen, dass sie an der Weggabelung warten mussten, ohne ein glückliches Ende zu erreichen.
Denn außer dem purpurnen, dem blauen und dem gelben Band trug Winter noch eine weitere Schnur. Sie war von mitternächtlichem Schwarz und begann weit hinten auf der Straße, die sie bereits hinter sich gelassen hatten. Und sie zog sich weiter, den linken Weg hinab in die Schatten, und sie lag so fest um Winters Hals, dass er wusste, er würde niemals frei davon.
Sommer war noch ein Baby, und Frühling hatte so lange sein Bestes getan, Winter vor der schwarzen Schnur zu beschützen, dass Winter es nicht übers Herz brachte, ihm zu sagen, dass sie immer noch da war. Da wusste Herbst, dass es nun an ihr war, etwas zu unternehmen.
Sie hatte ein Paar kleiner Silberscheren in ihrem Nähkasten. Manchmal nahm Winter sie heraus und versuchte, die purpurne, die gelbe und die blaue Schnur durchzuschneiden, damit Sommer, Frühling und Herbst auf dem hellen Weg davoneilen konnten und sich nicht mehr um Winter sorgen mussten. Die Fäden lösten sich aber niemals auf, sie waren zu stark.
Herbst ihrerseits begann nun, die schwarze Schnur zu bearbeiten und Tag für Tag verschliss sie ein wenig mehr. Manchmal war die Arbeit schrecklich hart, denn die schwarze Schnur war mindestens so stark wie die farbigen, und sie schlang sich so eng um Winters Nacken. Manchmal wurde Herbst derartig müde, dass sie ihre Blätter nicht mehr tanzen lassen konnte, aber sie schnitt immer weiter.
Denn sie wusste, eines Tages würde die schwarze Schnur reißen, und Winter wäre frei, und alle vier würden gemeinsam den hellen Weg hinunterwandern
.

Als Rosie verstummte, weinte Frodo. Aber sein Mund zeigte das breiteste Lächeln, das sie je an ihm gesehen hatte, und das allein war tausend Tränen wert.


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