Ein wirklich gutes Jahr (Pretty Good Year)
von Mary Borsellino, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 15
Der Riss

Fast eine Woche lang war ihr das Frühstück wieder hochgekommen, und sie spürte dieses träge schwere Gefühl des Wissens in sich – das gleiche, das sie empfand, als Elanor zu wachsen begann. Doch dann hatte sie angefangen zu bluten, und sie fiel im Garten vornüber, und in ihrem Leib tobte ein Schmerz wie von Messerstichen und Peitschenhieben.
Sie sagte nichts zu Frodo, den die Zeit immer mehr verfallen ließ anstatt ihn zu heilen, und sie sagte nichts zu Sam, der schon genug auf seinen starken Schultern zu tragen hatte. Sie braute sich einen Tee aus Poleiminze und legte sich still aufs Bett, bis der Schmerz verging. Dann wusch sie die Spuren so sorgfältig aus den Bettlaken, wie man es von einer guten Hausfrau erwarten konnte.
Als nächstes spülte sie das Geschirr ab. Das Wasser besänftigte ihre wunde Haut; im Gegensatz zu ihren heißen Handgelenken wirkte es eisig. Die Essenreste auf den Tellern drehten ihr den Magen um, aber es war nichts mehr übrig, das sie hätte hochwürgen können. Sie war ausgehöhlt und leer.
Als die Tränen einmal anfingen zu fließen, konnte sie sie nicht mehr zurückhalten. Sie hatte seit Jahren nicht mehr so lange und so heftig geweint; seit dem Tag, als ein Pony sie abwarf und sie sich einen halben Backenzahn ausgeschlagen hatte. Der Zahn brauchte fast einen Monat, um ganz herauszufallen, und während dieser Zeit hatten die freiliegenden Nerven ihr das Gefühl gegeben, ihr gesamter Mund würde absterben.
Rosie rollte sich auf dem Boden zusammen. Sie schluchzte und schluchzte, bis sie keine Kraft mehr hatte. Wirklich – sie wusste nicht einmal genau, um was sie eigentlich weinte. Es war ja nicht so, dass sie gerade jetzt noch ein weiteres Kind wollte, und Frodo würde es sicherlich eines Tages besser gehen. Sam würde endlich die Zeit haben, zu bemerken, was ihr fehlte, und er würde ihr den Rücken reiben, genauso wie er es für Frodo tat, wenn der sich elend fühlte.
Rosie stand auf und richtete sich sorgfältig das Haar, und sie wusch sich das Gesicht und war umsichtig genug, ein Lächeln aufzusetzen – ganz wie man es von einer guten Hausfrau erwarten konnte.

***

Frodo hörte ein Geräusch wie von einem gedämpften Aufprall, während er versuchte, sich auf die Bücher vor ihm zu konzentrieren. Es war schwierig, an eine ganze Welt von Geschichten zu denken, wenn er nicht einmal mit der Geschichte in den Zimmern um sich her zurechtkam.
Erleichtert, eine Entschuldigung zum Verlassen seiner Bücher zu haben, schlenderte Frodo durch die Diele hinunter in die Küche. Rosie war direkt neben dem Spülstein voller Seifenwasser auf dem Boden zusammengesackt, einen dunklen Fleck auf ihrem Rock.
„Rose?“ Alle Farbe wich aus Frodos Gesicht. „Rosie?!“ Er stürzte an ihre Seite. Sie atmete, aber ihre Augen hatten dunkle Ränder wie von Schlägen, und sie waren umschattet von Krankheit und Erschöpfung. Er wiegte sie auf seinem Schoß und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.
„Sam! Sam!“ Frodos Stimme brach vor Panik, während er schrie. Bei dem plötzlichen Lärm begann Elanor zu brüllen. Frodo blickte hinüber zu ihren fuchtelnden Ärmchen, die über dem Rand des Korbes auf dem Tisch zum Vorschein kamen. „Still, Elanorelle, still.“ sagte er, so sanft er konnte, bevor er erneut nach Sam schrie.
Sam kam ins Zimmer gerannt, schwer atmend von seinem Spurt durch den Garten.
„Meine Rosie, Rosiemädchen, was fehlt dir denn?“ Er berührte ihr Gesicht, ihre Schulter und ihren Bauch so leicht, als fürchte er, sie allein schon dadurch zu verletzen. „Was ist passiert?“
„Ich weiß nicht.“ Frodo schüttelte den Kopf und versuchte, ruhig zu bleiben. „Ich hörte einen Aufprall, und dann kam ich und sah, dass sie gefallen war. Ich glaube nicht, dass es ihr heute sehr gut ging; heute morgen habe ich gehört, wie sie sich eine Weile hingelegt hat.“
„Sam?“ sagte Rosie verwirrt, den Kopf von einer Seite zur anderen drehend. „Was ist passiert?“
„Ich bin nicht sicher. Du hast geblutet, mein liebes Herz. Fühlst du dich wohl?“ Sam hob sie sanft aus Frodos Armen. Blutflecken blieben auf seinen Beinen zurück, wo sie gelegen hatte.
„Ich wollte nicht, dass du es weißt.“ Rosies Stimme war leise und traurig. „Ich nehme an, ich war nicht stark genug, schon wieder eins zu bekommen, so bald nach Elanor.“
Sam trug sie ins Schlafzimmer und wusch sie, dann legte er sie so vorsichtig ins Bett, als sei sie selbst ein neugeborenes Kind.
„Es tut mir leid, Samweis,“ Sie begann wieder zu weinen. „Du lässt die Gärten so wunderbar wachsen, und ich kann den Samen, den du in mir pflanzt, nicht einmal bei mir behalten.“
„Oh, Rosiemädchen!“ Sam küsste sie auf die Stirn und umarmte sie so fest, dass sie sich nicht sicher war, ob er sie jemals wieder loslassen würde. „Es ist alles gut. Das Schlimmste ist vorbei, und morgen früh wirst du dich besser fühlen.“
Er blieb bei ihr, während sie schlief und sah die Träume unruhig über ihr Gesicht flackern. Frodo machte die Küche sauber und spielte so lange mit Elanor draußen im Garten, wie er den strahlenden Sonnenschein ertrug. Sam kam heraus und gesellte sich zu ihnen; er sah so traurig und müde aus, wie Frodo ihn kaum jemals erlebt hatte.
„Sie wollte ein Weilchen alleine sein.“ erklärte er mit einer Stimme, der die übliche Heiterkeit fehlte. Er nahm Elanor in die Arme und küsste sie federleicht auf die Schläfe.
„Es tut mir leid, Sam.“ flüsterte Frodo und wusste, dass Worte niemals ausreichen würden.
„Das passiert vielen der Mädels, nachdem sie ihr erstes hatten. Es scheint, als wäre sie vergleichsweise noch ganz gut davongekommen, zum Glück.“ Sam versuchte zu lächeln, seine Tochter immer noch fest an sich drückend. Sie saßen schweigend, bis Frodo endlich die Worte nicht mehr zurückhalten konnte, die ihm auf der Zunge lagen.
„Denkst du, dass ich das war? Vielleicht bin ich stärker verändert, als wir dachten, und das hat sie irgendwie… vergiftet.“
„Nein, Herr Frodo, nein.“ Sam blinzelte noch mehr Tränen weg, dann drehte er sich so, dass er beide, Frodo und Elanor, gleichzeitig umarmen konnte. „So was ist es nicht gewesen. Fang nicht an mit solchen Ideen.“
„Das fällt mir schwer.“ Frodo blickte ins Leere, einen bestimmten Anblick vor seinem inneren Auge. „Als ich hereinkam, und sie da liegen sah… Ich dachte, wir hätten sie verloren. Ich dachte, du hättest deine Rosie verloren, und das hat mir das Herz gebrochen. Da war nur ein kleines bisschen Blut, aber sie war so still…“
„Allen geht es gut, fang nicht an, über Sachen nachzudenken, die hätten passieren können. Du kannst dich um sie kümmern, wie sie sich um dich gekümmert hat. Lies ihr die Märchen vor, die sie so mag, bis sie sich erholt hat. Und dann sind wir alle wieder eine Familie.“ versprach Sam.


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