Ein wirklich gutes Jahr (Pretty Good Year)
von Mary Borsellino, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 10
Gerede

„Das ist kein normales Kind, merk dir meine Worte.“
„Natürlich ist es nicht normal. Normale Kinder haben zwei Eltern und sie hat drei, noch dazu allesamt nicht ganz richtig im Kopf, wenn du mich fragst.“
„Sie sieht mehr wie ein Elb aus als wie ein Hobbit.“

Sam hielt den Kopf über das Obstangebot gebeugt, als würde es seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Mit einem Ohr lauschte er dem leicht missbilligenden Tonfall der beiden älteren Hobbitfrauen, die Frodo und Rosie begafften, während sie mit Elanor spielten. Die Kleine war in einem Korb verstaut und in eine weiße Decke gehüllt, um sie warm zu halten. Rosie trug ihren roten Lieblingsumhang. Sie sagte, er gäbe ihr das Gefühl, eine der Gestalten aus den Geschichten zu sein, mit denen sie aufgewachsen war. Inzwischen erzählte sie diese Geschichten stundenlang ihrem eigenen Kind, wobei es ihr überhaupt nichts ausmachte, dass Elanor noch viel zu jung war, um sie zu verstehen. Allerdings handelten sie nie von Prinzessinnen, weder von Aschenputtel noch von Dornröschen oder Schneewittchen. Die fand Rosie langweilig, und ein Märchen von einem menschlichen Edelfräulein zu erzählen, das mit so vielen Zwergen zusammenlebte, hielt sie außerdem nicht gerade für anständig. Statt dessen spann sie prächtiges Garn von dem Mädchen, das einen Korb zu seiner Großmutter trug, von Mädchen, die sich auf die Suche nach gutem Haferbrei machten, und sie erzählte von Schweinchen, die Häuser bauten, die niemand wegpusten konnte.
Frodo schüttelte eine leuchtend bunt bemalte Rassel von einer der Verkaufsbuden vor Elanors Gesicht und zog sie jedes Mal außer Reichweite, wenn die Kleine danach griff.
„Ärger sie nicht.“ schalt Rosie mit einem Lächeln in der Stimme. Eine der tuschelnden Klatschbasen neben Sam verschluckte sich beinahe und er musste sich auf die Lippen beißen, um nicht zu lachen. Er suchte ein paar Früchte aus, die in der Erde von Beutelsend nicht gediehen, bezahlte und packte sie in seinen bereits wohl gefüllten Ranzen. Sie kamen nicht sehr regelmäßig dazu, deshalb musste die Möglichkeit, alles Nötige einzukaufen, genutzt werden, wenn sie sich bot.
Der Märkte rochen für Sam immer nach Abenteuer, schon, als er noch ganz klein war. Auf allen Seiten wurden Mahlzeiten gekocht und verkauft, frittierte Kartoffelschnitze und knusprige Karottenstreifen. Und es gab Krüge mit allen möglichen blumigen Duftwässern, dem Pfirsicharoma, das Rosie gern benutzte und dem Fliederparfum, das ihn immer an seine Mutter erinnerte. Die Tiere rochen nicht ganz so einladend, aber ihre erdigen Ausdünstungen waren für Sam ein Teil seiner Heimat, also waren sie ihm ebenso willkommen.
Der Tag war hell und unerwartet heiß geworden; der Morgen hatte noch grau und feucht angefangen, gerade recht, um sich unter warmen Decken zu verkriechen und sich dicht an die schlafenden Körper seiner Lieben zu kuscheln. Nun aber schien die Sonne über ihren Köpfen, und wenn es jemals „einen Tag für Sommersprossen-Wildwuchs“ gab (wie Sams Schwester das einmal verzweifelt genannt hatte), dann war es dieser. Sam kaufte bei einem der Händler einen riesigen Sonnenschutz aus Papier, klemmte ihn sich unter den Arm und arbeitete sich durch die Menge wieder dahin zurück, wo seine Familie stand.
„Hier, das sollte uns ein bisschen Schatten bringen,“ verkündete er und hielt den Schirm hoch. „Wo wir gerade da sind – was brauchen wir denn noch?“
„Tinte.“ erklärte Frodo und hielt seine verschmierten Fingerspitzen als Beweis dafür hoch, dass ihr Vorrat für Schreibarbeiten verbraucht worden war.
„Und Garn.“ fügte Rosie hinzu. „Du zerreißt deine Sachen wie ein Junge, der ständig im Dornbusch hängen bleibt, Sam.“
„He, es ist nicht mein Fehler, dass der Boden stärker ist als meine Ärmelsäume.“ schoss er flink zurück. „Besser ein zerrissenes Hemd als ein unordentliches Blumenbeet.“
„Bei dir vielleicht.“ Das grollende Gemurmel wurde von einem sonnigen Lächeln begleitet.
„Und ein paar neue Wasserkrüge.“ erinnerte sich Frodo. „In einem von denen bei uns zuhause ist ein Leck.“
„Denkst du nicht, dass man das flicken könnte?“ fragte Rosie und schaukelte den Korb mit Elanor ein bisschen, damit sie nicht weinte. „Eigentlich ist es eine Schande, eins dieser hübschen alten Dinger wegzuwerfen, wenn es vielleicht noch eine Rettung gibt dafür.“
„Ich schau’s mir mal an, wenn wir heimkommen. Ich bin sicher, der Sprung ist nicht so schlimm, wie er aussieht.“ versprach Sam. „Ich weiß nicht, wie es euch beiden geht, aber ich bin reif fürs Mittagessen. Sollen wir nach Hause gehen und auf dem Weg alles kaufen, was wir noch brauchen, oder essen wir hier, bleiben noch ein Weilchen und kaufen später ein?“
„Lass uns bleiben.“ Rosie schaute sich um. „Die Leute starren uns an, als wären wir so ziemlich das Eigenartigste, was sie je gesehen haben, und das macht mir richtig Spaß.“
Frodo schaute sich jetzt ebenfalls um, ganz überrascht von dem, was sie gesagt hatte. Er hatte die Blicke, die er auf sich zog, überhaupt nicht bemerkt.
„Sie haben immer schon gedacht, du wärst ein wenig wunderlich, Herr Frodo, und jetzt denken sie über mich und Rose genau das gleiche. Schließlich leben wir bei dir.“
„Und was denkst du darüber, dass sie so etwas denken, Sam?“ fragte Frodo mit einem amüsierten Lächeln.
„Ich zerbrech mir nicht den Kopf darüber. Egal, was die Leute glauben wollen, uns macht das nichts aus.“
„Und du, Rose?“
„Besser seltsam als langweilig, wenn du mich fragst. Was du ja hiermit getan hast, also sage ich dir folgendes: ich bin lieber &Mac226;diese seltsame Rosie, die mit Sam Gamdschie und Frodo Beutlin zusammenlebt’ als sonst etwas auf der Welt.“
„Was ist mit dir, Herr Frodo?“ Sam schaute hinüber zu den beiden Frauen, die er zuvor hatte reden hören. Sie ließen sich nach wie vor keine ihrer Bewegungen entgehen.
„Ich kann mir nichts besseres vorstellen, als wenn die Leute uns anschauen und sich wundern. Das heißt, dass wir mehr haben, als sie jemals verstehen werden.“ Frodo lächelte, und sein Gesicht erschien voller Freude und Gesundheit im hellen Sonnenlicht.
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