Ein wirklich gutes Jahr (Pretty Good Year)
von Mary Borsellino, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 8
Geschichtenerzähler

Rosie liebte es, Kindern beim Spielen zuzusehen. Sie spielten genau die selben, altvertrauten Spiele, mit denen sie und ihre Brüder aufgewachsen waren, Verstecken und Fangen und Mann aus Stein. Die Kindheit ging so schnell vorüber, und doch blieb sie für immer, denn es gab ständig neue, kleine Füße, die Spuren im Gras hinterließen und ebenso kleine Hände, die die frischen Blumen pflückten.
Im Moment spielte allerdings niemand; ein Dutzend kleiner Gesichter war voll verzückter Aufmerksamkeit von Frodos Worten gefesselt, der Geschichten erzählte, die phantastischer waren, als alles, was Rosie je in ihren Mädchenjahren gehört hatte. In dieser Fassung klangen seine Abenteuer um einiges fröhlicher und um vieles weniger schmerzhaft, und die Kinder jubelten ihm bei fast jeder Pause zu. Frodo hatte Elanor auf seinen Knien. Er ließ sie hüpfen, während er sprach und brachte sie dazu, in die Hände zu klatschen, während sie ihn breit anstrahlte.
„Es tut gut, ihn wieder lachen zu hören.“ sagte Sam neben ihr und Rosie nickte. Das tat es wirklich. Es war so gut, wie irgend etwas nur sein konnte, besser als frische Sahne zum Frühstück oder ein neu erlerntes Lied. Frodos Lachen war wunderbar, und obwohl er es lange nicht gebraucht hatte, war es kein bisschen eingerostet.
Sams Hand glitt um ihre Taille, und er zog sie in einer halben Umarmung an seine Seite, während sie dastanden und zuhörten. Sie fühlte seinen Arm gut und warm und fest um sich, und Rosie glaubte, sie müsse vor lauter Lebenslust bersten.
„Komm,“ sie lächelte verschwörerisch und zog ihn hinüber zu einem kleinen Kreis aus Bäumen, in dem sie früher oft Verstecken gespielt hatte. „Es ist eine lange Geschichte, keiner wird merken, dass wir weg sind.“
Er presste ihren Rücken gegen die raue Rinde eines alten Baumes. Sie hatte keine Ahnung, was für einer es war, aber obwohl sie sicher sein konnte, dass Sam die Antwort wusste, fragte sie nicht. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihren Mund hungrig auf den seinen zu drücken, und dann schlang sie ihren Knöchel um sein Knie. Sie konnten immer noch die gedämpfte Melodie von Frodos Stimme hören und den fließenden, freudigen Klang seines Gelächters. Rosie wünschte sich, die Fahrt wäre genauso gewesen wie er sie jetzt erzählte. Geschichten mussten einfach ein glückliches Ende haben, das hatte sie schon ihr ganzes Leben lang gewusst.
Sie brachten ihre Kleider in Ordnung und tauchten zwischen den Bäumen auf, als das Ende der Geschichte erreicht war. Die Kinder rannten davon, um Zwerge und Elben und verborgener König zu spielen. Elanor in seinen Armen zurechtrückend, trat Frodo zu Sam und Rosie.
„Bitte sehr, ich habe mein Versprechen gehalten.“ lächelte Frodo. „Obwohl ich bezweifle, dass ihr genug mitbekommen habt, um euch davon zu überzeugen.“ Er langte herüber und pflückte einen Zweig mitsamt einem kleinen, grünen Blatt aus Sams Haaren. „Ich bin schockiert. Was, wenn die Kinder euch gesehen hätten?“
„Die waren viel zu beschäftigt damit, etwas über Feuer und Blut zu hören, als sich für irdische Liebe zu interessieren.“ schoss Rosie mit einem Grinsen zurück und zupfte sich das wenig schmückende Laub vom Kopf. „Denk bloß nicht, das hätte dir gefallen, Herr Frodo. Wir können ganz schön ungemütlich werden, wenn wir in Stimmung sind.“
„Ich bin nicht aus Glas, weißt du.“ Frodos Lächeln wurde zu einem Feixen, während er Elanor seiner Mutter zurückgab. Sam schaute verdattert drein bei dieser Bemerkung, worauf Rosie sein ohnehin zerzaustes Haar liebevoll noch mehr durcheinander brachte.
„Ich mag ihn viel lieber, wenn er dich schockiert, als wenn du dich seinetwegen ärgerst oder dir Sorgen machst.“ Sie wandte sich ab, um Frodo anzusehen. „Obwohl ich sagen muss, dass du mir vorkommst, als wärst du bis auf die Knochen erschöpft… und als könntest du auf der Stelle umfallen und einschlafen.“
„Dann muss ich genauso aussehen, wie ich mich fühle.“gestand Frodo. Sam half ihm so gut er konnte, ohne ihn zu tragen, während sie nach Hause gingen.
„Und jetzt, ist es so bequemer?“ fragte Rosie, als Elanor und Frodo in ihre jeweiligen Betten bugsiert worden waren.
„Viel bequemer, danke schön. Schläfrig bin ich aber noch nicht. Kannst du mir vielleicht eines meiner Bücher zum Lesen herüberreichen?“
„Nur, wenn du uns was vorliest.“ Rosie lächelte. „Ich würde deine Stimme heute Nachmittag gern ein bisschen länger hören.“
„In Ordnung.“ Frodo nickte. „Dann komm mal an Bord, ich fange an.“
Es war fast, als wäre sie wieder eine kleine Range, dachte Rosie, sich so auf einem Kissen zusammenzurollen und am helllichten Nachmittag eine Geschichte hören zu dürfen. Sams Hand fand die ihre über Frodos eingesunkenem Bauch und sie verschränkten die Finger, als Frodo zu lesen begann.
„Hier, Sam, das wirst du mögen, es ist aus einem alten Elbentext. Wider das Recht habt ihr das Blut eures Geschlechts vergossen und das Land Aman befleckt. Für Blut werdet ihr mit Blut entgelten…“
„Oh, Blut und Blut und Blut. Ich finde Blut langweilig.“ murmelte Rosie, löste ihre Hand aus der von Sam und fing an, mit den Knöpfen an Frodos weitem Nachthemd herumzuspielen.
„… mit Blut entgelten, und jenseits der Grenzen von Aman lebt ihr im Schatten des Todes. Denn wenn auch Eru euch nicht bestimmt hat – oh Rosie, hör auf damit, ich kann mich nicht konzentrieren, wenn du das machst! – in Ea zu sterben, und keine Krankheit euch befallen kann, so könnt ihr doch erschlagen werden,“ Frodos Stimme geriet ins Schwanken, als Rosie die Hände durch den Mund ersetzte und ihren heißen Atem durch den Stoff über seiner Brust hauchte. Er schluckte und versuchte, den richtigen Absatz wieder zu finden. „Und erschlagen sollt ihr werden: durch Waffen, und durch Leid und Qual; und nach Mandos werden eure unbehausten Geister dann kommen.“
„Nicht gerade der fröhlichste Text, muss ich sagen.“ bemerkte Sam. Frodo antwortete nicht; sein Kopf fiel nach hinten, als Rosie seinen offenen Hemdkragen erreichte und mit der Zunge in seiner Halsbeuge Kreise zog. Mit einem tückischen Grinsen blickte sie zu ihm auf. „Na gut, dann mach voran mit deiner fürchterlichen Geschichte. Lies weiter.“
„Ah…“ Frodo sah nicht so aus, als sei er zu einer Anstrengung dieser Art imstande. Sie lehnte sich über ihn hinweg und pflanzte einen ausgiebigen Kuss auf Sams Mund, während Strähnen von ihrem langen, lockigem Haar über Frodos Gesicht strichen.
„Lies weiter.“ wiederholte sie, während ihr Mund zu seiner Kehle zurückkehrte.
„Dort sollt ihr lange wohnen – ihr zwei seid die allerschönsten Geschöpfe, die die Welt je gesehen hat – und um eure Leiber trauern.“
Frodos Stimme verlor sich, als er Atemzüge an seiner Wange spürte und sein Mund anzuschwellen schien in dem Verlangen, sich gegen den von Sam zu pressen. Er wagte nicht, sich umzuwenden, denn er wusste, wenn er innehielt, würde Rosie das auch tun, und sie war mittlerweile auf halbem Weg zu seinem Nabel und öffnete sein Hemd, als hätte sie alle Zeit der Welt übrig, um sechs Knöpfe zu lösen.
„Und wenig Erbarmen werdet ihr finden, und wenn alle – mmmmmpf!“
Sam bereitete der Vorlesung ein entschiedenes Ende, indem er Frodo küsste, während Rosie endlich die gewissenhafte Aufgabe abschloss, Frodo von seinem einzigen Kleidungsstück zu befreien.
„Gut! Dieses Gejammere und Geächze war ja kaum noch auszuhalten.“ sagte Rosie, warf das Buch vom Bett und schubste die Decken aus dem Weg. „Ich habe eine Vorliebe für deine Stimme, Herr Frodo, aber du kannst sie wirklich besser nutzen als für einen solchen Trübsinn.“ Sie ließ ihren Mund hinunterwandern und Frodo stieß einen kurzen Schrei gegen Sams Mund aus, als wollte er ihre Theorie bestätigen.
„Nicht aus Glas, was?“ schalt Rosie milde. „Du könntest mich zum Narren gehalten haben. Du brauchst Fleisch auf den Knochen, ganz ohne Zweifel. In deinem Alter so dünn zu sein, ist einfach nicht richtig.“ Sie hielt inne. „Eigentlich in jedem Alter, was das angeht. Dem müssen wir abhelfen.“
Frodos Hand tastete herum auf der Suche nach ihr, seine Augen schlossen sich, als der Kuss mit Sam fortdauerte. Er zog sie hinauf und dann dicht zu sich heran, damit ihr Mund die Münder von allen beiden berührte. Rosie entschied, dass Frodos Lachen zu hören vielleicht doch nicht besser war als alles andere – nicht, wenn man genauso gut dies hier haben konnte.
„Was bedeutet das denn eigentlich?“ fragte sie, als es vorüber war und sie scheinbar knochenlos und warm auf dem großen, weichen Bett lagen. Sam war schon eingeschlafen, und Rosie und Frodo waren kurz davor. „Dieses Stück, das du vorgelesen hast.“
„Es handelt von einem Land jenseits des Meeres, wo die Elbengeister hingehen, wenn sie sterben. Manchmal segeln sie auch dorthin.“
„Wieso tun sie das, wenn sie eines Tages sowieso dahin müssen?“
Frodo schwieg so lange, dass Rosie schon annahm, er sei eingeschlafen, bevor er endlich sprach.
„Ein Leben endet nicht immer erst in dem Augenblick, wenn das Herz stillsteht. Sie könnten am Ende ihrer Kräfte sein. Ihre Lieben und ihre Familien könnten tot sein und schon auf sie warten. Vielleicht bleibt ihnen keine Wahl.“
„Also, ich glaube nicht, dass ich gern dort hingehen möchte. Nicht, wenn ich weiß, dass ich auf jeden Fall irgendwann dort lande. Was mich betrifft, so dürften meine Lieben und meine Familie ruhig festsitzen und warten, bis ich hier fertig bin.“ erklärte sie schläfrig und versuchte, nicht zu gähnen. „Es gibt immer mehr Gründe zu bleiben als zu gehen, meine ich.“
Es kam keine Antwort; Frodo schlief bereits. Rosie rollte sich an seiner Brust zusammen und träumte von Wäldern im Sonnenlicht.

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