![]() Über das Wasser (Across the waters)
Wasser. Frodo hörte das Wasser, bevor er es sehen konnte. Sie waren seit einer Woche geritten und hatten die Fernen Höhen und die Weißen Türme erreicht, die am westlichsten Rand des Auenlandes standen und aufs Meer hinaussahen. Es war eine Stunde über die Mittagszeit, als sie zu den Weißen Türmen kamen, und die Sonne stand hoch und schien hell. Weiße Möwen kreisten über ihren Köpfen und Frodo erkannte ihre Stimmen wieder, obwohl er sie noch nie im Leben gehört hatte jedenfalls nicht in wachem Zustand. Er erinnerte sich an den Traum, der in Krickloch zu ihm gekommen war, in der einzigen Nacht, die er dort als Besitzer geschlafen hatte. Jetzt, da er an der selben Stelle stand wie in diesem weit entfernten Traum, erschien es ihm, als hätten alle Ereignisse seines Lebens ihn geradewegs hierher geführt, zu diesen Ort, an diesen lichten Septembertag nahe am Rand des Meeres. Obwohl er wusste, dass sie die Anfurten gegen Abend erreichen würden, beschloss er plötzlich, dass er gleich jetzt einen Blick aufs Meer werfen wollte, so wie in seinem Traum. Er brachte sein Pony zum Stehen, beschattete die Augen mit einer Hand und schaute zu den Türmen hinauf. Sam kam an Frodos Seite und hielt ebenfalls an. Was ist denn, Herr Frodo? Willst du eine Pause machen und dich ausruhen? Ich würde gern eine Pause machen. antwortete Frodo, ohne seinen Blick von den Türmen abzuwenden. Aber nicht, um mich auszuruhen. Ich würde gern auf einen der Türme steigen und auf das Meer hinausschauen. Frodo hörte, wie Sam unruhig in seinem Sattel hin- und herrutschte. Scheint mir nicht das Beste zu sein, dass du tun könntest, Herr Frodo. In ein paar Stunden sind wir sowieso an der See; ich sehe nicht ein, warum du dich kaputtmachen willst. Und dann, in einem Murmeln zu sich selbst, das Frodo hörte: Eigentlich sehe das alles hier nicht ein, nie und nimmer. Frodo sah Sam an und lächelte. Es wird nicht lange dauern, Sam, und selbst, wenn es ermüdend ist... ich habe auf dem Schiff eine Menge Zeit zum Ausruhen. Er bemerkte Sams bestürzten Gesichtsausdruck bei der Erwähnung des Schiffes und legte ihm die Hand auf den Arm. Komm mit mir. Sam seufzte schicksalsergeben. Er ritt zu den anderen hinüber, um ihnen zu sagen, dass er und Frodo vorhatten, auf den Turm zu steigen, und anscheinend stieß er auf keinerlei Widerstand. Er ritt zu Frodo zurück, der schon abgestiegen war. In seinem Traum hatte sich Frodo über einen riesigen Berggrat gekämpft, um den Turm zu erreichen; er war erfreut, dass das Land hier ziemlich eben und leicht zu durchqueren war. Er und Sam hatten wenig Mühe, den Fuß des Turmes zu erreichen, wo eine Tür in eine Öffnung der Steinmauer eingelassen war. Die Innenseite des Turmes war genauso weiß wie die Außenseite, und durch die Öffnung an der Spitze wurde sie vom Sonnenschein hell erleuchtet.Die dicken Mauern sorgten für Kühle und es war sehr still. Frodo konnte nur einen Widerhall des weit entfernten Meeres hören, und fragte sich, ob der Turm auf eine Weise gebaut worden war, die diesen Klang einfangen und verstärken sollte. Der Turm roch nach Jahrhunderten voller Sonnenschein und Regen und nach salziger Luft, und er erschien Frodo unermesslich alt. Er bedachte die längst vergangene Rasse, die die Türme gebaut hatte zu einer Zeit, als die Welt immer noch jung war. Und er fragte sich, was sie wohl über diese beiden kleinen Hobbits denken würden und über ihre unwahrscheinlichen Geschichte. Ein steinerne Treppe wand sich an der Innenmauer nach oben, und er und Sam fingen an, hinauf zu klettern. Es war kein leichter Aufstieg, und Frodo war zweimal gezwungen, sich hinzusetzen und auszuruhen. Beide Male fühlte er, wie Sam ihn aus den Augenwinkeln anstarrte. Ich bin in Ordnung, Sam sagte er. Mach dir keine Sorgen. Endlich kamen sie zu einer Plattform an der Spitze des Turmes. Sie war nach allen Seiten hin offen, wie ein runder Steinbalkon. Eine Mauer zog sich um die Einfassung, etwa hüfthoch für einen Menschen. Frodo und Sam konnten gerade so eben über die Kante sehen. Sam schnappte bei dem Anblick nach Luft, aber Frodo blieb still. In weiter Entfernung, jenseits der Höhen, endete die Welt in einer riesigen Ausdehnung von sonnenglitzerndem Blau. Er dachte an die gemütliche Beengtheit von Beutelsend und die vertrauten Nebenstraßen des Auenlandes und spürte ein scharfes Gefühl der Einsamkeit beim Gedanken daran, dass er seine Tage auf der anderen Seite einer solch verlassenen Leere beschließen sollte, so weit weg von daheim. Er seufzte und Sam blickte ihn an. Bist du sicher, Herr Frodo? fragte er. Musst du das tun? Frodo wandte sich vom Meer ab und sah seinen Freund an. Ich fürchte, das muss ich, Sam. Ich weiß, was du in Waldende zu mir gesagt hast, aber irgendwie macht es immer noch keinen Sinn für mich, dass du auf diese Weise weggehst. Nicht nach allen, was passiert ist. Gerade, weil dies alles passiert ist, muss ich es tun. Ich würde dich auch dann verlassen, wenn ich bliebe, und zwar für immer. Ich würde bald an meinen Verletzungen sterben, und du würdest dich dadurch verbrauchen, mich zu umsorgen und mich sterben zu sehen, anstatt das Leben wieder aufzunehmen, das du haben solltest... das ich vielleicht gehabt hätte. Ich werde im Westen heil werden. Und die Zeit mag kommen, wenn wir uns wiedersehen. Sam stand mit gesenktem Kopf und Frodo konnte sehen, dass seine Schultern bebten. Sam. sagte er. Sam schaute auf, Tränen in den Augen. Nach allem, was du für mich getan hast, habe ich kein Recht, dich um irgend etwas zu bitten. Aber willst du mir diese letzten Wünsche erfüllen? Oh, Herr Frodo, natürlich will ich das. Frodo nahm Sams Hände in seine eigenen. Versprich mir, dass du glücklich sein wirst, und dass du ein erfülltes Leben hast, und dass du Rosie liebst und deine Kinder und Enkel und Urenkel, denn ich weiß, dass du die haben wirst. Versprich mir, dass du dich nicht so an mich erinnerst, wie ich in diesen letzten Jahren gewesen bin, sondern so, wie ich war, als ich früher im Garten saß und mich mit dir unterhielt, während du gearbeitet hast, und als wir gemeinsam unseren Tee getrunken haben. Und selbst dann... versprich mir, dass du nur wenig an mich denkst, und nie so oft, dass es dich traurig macht. Ich weiß nicht, Herr Frodo. Das erste und das zweite will ich dir versprechen, aber das letzte... ich werde nie nur ein wenig an dich denken. Aber ich werds versuchen, Herr Frodo. Ich werds versuchen. Ich danke dir Sam. Mein liebster Freund. Frodo umarmte ihn und legte seinen Kopf auf Sams Schulter. Er schloß die Augen und der Wind umwehte sie beide, zerzauste ihnen das Haar, ließ ihre Mäntel flattern und erfüllte den Turm mit dem Geräusch des Meeres. So blieben sie lange beisammen, bevor sie wieder vom Turm herabstiegen und die Reise zu den Anfurten fortsetzten.
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