Über das Wasser (Across the waters)
von oselle, übersetzt von Cúthalion


8. Kapitel
Das Meer

Frodo spürte Wasser auf seinem Gesicht. Meeresgischt, dachte er schläfrig, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, warum. Er war Frodo Beutlin, der fast sein gesamtes Leben im Auenland verbracht und das Meer nie gesehen hatte. Er leckte sich die Lippen, und das Wasser war frisch, beinahe süß. Es regnete.

Jemand berührte ihn am Arm und schüttelte ihn. Er öffnete seine Augen und sah Bilbo, der neben ihm kauerte und eine Decke wie ein Zelt über seinen Kopf spannte, um den Regen abzuhalten. „Wach auf, Frodo. Komm hinein. Du kannst nicht die ganze Nacht draußen im Regen sitzen.“

Warum sollte ich die ganze Nacht draußen im Regen sitzen? fragte sich Frodo. Dann spürte er die Bewegung unter sich, und Gegenwart und Vergangenheit kamen auf der Stelle zu ihm zurück. Er war Frodo Beutlin, er war der Ringträger gewesen, und er fuhr über die Hohe See in den Westen.

Frodo wickelte die Decke um Frodos Schultern. „Auf geht’s. Jetzt komm mit, bevor du dir eine Erkältung holst.“

„Ich bin in Ordnung, Onkel.“ erwiderte Frodo. Er war überrascht, sich dabei zu ertappen, dass er Bilbo unwillkürlich wieder bei dem Namen nannte, den er seit seiner Jugend nicht mehr benutzt hatte. Frodos Kindheit schien nun schmerzhaft weit zurück zu liegen, verloren am anderen Ende der Welt. Plötzlich fühlte er sich sehr alt und unermesslich müde. Seine Schultern hingen herab und er zog Bilbos Decke eng um sich zusammen.

Bilbo half Frodo auf und er stellte fest, dass er zitterte. Sein Haar und sein Mantel waren nass. Frodo schaute auf das Wasser hinaus, aber es war so dunkel geworden, dass er jenseits der kleinen Lichter des Schffes nur dicke Schwärze sah. Wolken verbargen die Sterne und ein stetiger, grauer Regen fiel leise auf das Deck und ins Meer.

Er ließ sich von Bilbo nach unten in seine kleine Kabine bringen. Er zog Mantel und Jacke aus und saß auf der Bettkante, um sich ganz zu entkleiden. Aber obwohl die Kabine warm war, fror er so sehr, dass er die Knöpfe seines Hemdes nicht aufbekam, und der Gedanke, noch weniger anzuhaben, ließ ihn sogar noch mehr frieren. Er ließ seine Hände seufzend in den Schoß fallen.

Bilbo betrachtete ihn besorgt. „Mach dir nichts draus, Junge.“ sagte er leise. „Mach dir nichts draus.“ Er legte Frodo die Decke über den Kopf und trocknete sein Haar, und Frodo stellte fest, dass er fast im Sitzen einschlief. Er gähnte und schloß die Augen.

Bilbo löste Frodos Hosenträger und legte sie auf den Stuhl, oben auf die Jacke. Dann legte er Frodo sanft hin und stopfte die Decken rings um ihn fest. Frodo spürte Bilbos Hand an seiner Wange, genau so tröstlich wie während seiner Krankheiten als Junge. Er umfasste sie mit seiner eigenen und hob die schweren Augenlider.

„Ich bin froh, dass du hier bist, Bilbo.“

„Ich bin auch froh, dass ich hier bei dir bin.“ sagte Bilbo. Der alte Hobbit lächelte auf Frodo hinunter. So zerbrechlich und so schön. „Ich erinnerte mich, wie ich dich das erste Mal gesehen habe. Du kannst nicht älter als sechs Monate gewesen sein, und ich dachte, du wärest das allerschönste Baby, das ich je zu Gesicht bekommen habe. Du kamst mir vor wie ein Feenkind!“

Frodo lächelte und blinzelte benommen zu Bilbo auf. Er fühlte sich wieder warm und hatte beinahe aufgehört, zu zittern.

„Jeder sagte, du kämst vom Aussehen nach deiner Mutter, aber mir war klar, dass da mehr war. Du warst anders, und nicht nur dein Aussehen. Es war mir immer eine Freude, zu kommen und dich zu sehen. Du warst wie... wie ein Glühwürmchen in einer Sommernacht. Ein helles, kleines Licht, immer in Bewegung.“

„Ich erinnere mich an deine Besuche. All diese Geschichten...“ Frodo seufzte. „Das waren glückliche Zeiten.“

Bilbo saß eine kleine Weile still an Frodos Seite, während sie auf den schwachen Klang des Wassers um das Schiff lauschten.

„Mir ist deinetwegen das Herz gebrochen, als deine Eltern starben.“ fuhr er fort. „Ich hätte dich gleich an Ort und Stelle adoptiert, aber deine Verwandten machten sich Sorgen, ich hätte keinen guten Einfluss auf einen Jungen. Ich würde dir den Kopf mit Unsinn voll stopfen und dich dann auf irgend ein tollkühnes Abenteuer mitschleppen.“ Er hielt einen Moment inne und Frodo sah den Schimmer von Tränen, die ihm in die Augen traten. „Sie haben zuletzt so ziemlich recht behalten.“ sagte er, und seine Stimme zitterte.

„Nein, Bilbo.“ sagte Frodo sanft. „Es war nicht dein Fehler.“

„Wenn ich es gewusst hätte, Frodo... wenn ich es nur gewusst hätte, ich hätte dich nie verlassen. Oder ich hätte dich mit mir nach Bruchtal genommen. Ich hätte dich nicht alleingelassen mit diesem Ding.“

„Bilbo, ich weiß, dass du es nicht wusstest. Und selbst wenn, was hättest du tun können? Was hätte ich tun können, wenn ich meinen ganzen Weg vor mir gesehen hätte? Manchmal frage ich mich, ob ich die Aufgabe zurückgewiesen und es jemand anderem überlassen hätte, sie zu tragen.“

„Ich bin sicher, du hättest sie nicht zurückgewiesen, selbst wenn du von allem gewusst hättest, was auf dich zukommt. Nicht mein Frodo.“ Bilbo strich ihm mit der Hand durch das Haar. „Das hast du nicht in dir, Junge.“

Frodo lächelte, und der Ausdruck in seinem Gesicht war bittersüß. „Vermutlich nicht.“ Er schloß die Augen und hielt Bilbos Hand fest. „Geh nicht weg, Onkel.“

„Nein.“ sagte Bilbo. „Ich lasse dich nicht mehr allein, mein Sohn.“

Bilbo schlug die Decken zurück und legte sich hinter Frodo nieder; er nahm ihn in die Arme, dann zog er die Decken über sie beide.

Frodo lag in Bilbos tröstlicher Umarmung. Er wurde von den sanften Bewegungen des Schiffes gewiegt und lauschte auf das Wasser, das sich am Bug brach. Die Erinnerung an seine Träume kam zu ihm zurück, aber sie beunruhigten ihn nicht. Ein gesegnetes Gefühl des Friedens stahl sich in ihn hinein.

Bevor er einschlief, hörte er Bilbos Worte in seinem Geist nachklingen. Du hättest sie nicht zurückgewiesen, selbst wenn du von allem gewusst hättest, was auf dich zukommt. Und er dachte einmal mehr an Sam... Sam der seine Hand zum Abschied erhob an den Ufern von Mittelerde. Sam, wie ist all dies passiert? fragte er erneut. Und wie wird es enden? Halb im Schlaf fand Frodo Antwort auf die eigenen Fragen. Dies war mein Schicksal, erwiderte er zum ersten Mal. Ich habe es willig angenommen und es getragen, so gut ich konnte.

Über die zweite Frage dachte er nicht lange nach. Es schien, als läge die Antwort darauf weit entfernt, jenseits vieler Jahre, die erfüllt waren von Freude, von Wärme und Ruhe. Der Friede in seinem Herzen vertiefte sich, und er wurde zugleich von einer Traurigkeit berührt, die nicht bitter war, und von einer Freude ohne jede Achtlosigkeit. Und nun komme ich zu guter Letzt ans Ende meiner Wanderungen. Leb wohl, lieber Sam. Und Frodo fiel in tiefen Schlaf, davongetragen über das Wasser der Zeit und der Welt.

Während Frodo schlief, wurde der graue Vorhang des Regens dünner und rollte bald vor dem Bug des Schiffes zur Seite. Die Wolken verschwanden und Eärendil fuhr hoch über den Nachthimmel, den Silmaril funkelnd auf der Stirn. Unter ihm glühte Frodos kleiner Geist, schwankend, aber immer noch strahlend hell, und er leuchtete über der Wasseroberfläche wie ein Stern.

ENDE


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