Traumkind
von Cúthalion


Rating: PG-13

Prolog
Schlafwandlerin

Hobbingen im Auenland, Februar 1431

Das Schlimmste am Schwangersein, dachte Rosie Gamdschie, ist, dass man dauernd mitten in der Nacht aus dem warmen Bett steigen darf, weil man auf das stille Örtchen muss.

Dies würde ihr Sechstes sein, und nach fünf Schwangerschaften hatte sie gewisse Strategien entwickelt, um mit den ungewöhnlichen Gelüsten und Unbequemlichkeiten klarzukommen, die damit einhergingen, dass ein Sohn oder einer Tochter in ihrem Bauch heranwuchs. Manchmal hatte sie einen gierigen Hunger auf Butterbrot oder frische Äpfel entwickelt; als Klein-Frodo unterwegs war, hatte sie es nicht geschafft, dicht an der Scheune vorbeizugehen, wo ihr Vater seine berühmten, hausgemachten Würste stopfte, ohne dass ihr schrecklich übel wurde. Und während jeder einzelnen Schwangerschaft verfärbte sie sich regelrecht grün, wenn jemand eine Schüssel Himbeeren auch nur in ihre Reichweite stellte.

Sie schlüpfte unter den dicken Bettdecken hervor und verließ das Schlafzimmer; das einzige Geräusch abgesehen vom leisen Platschen ihrer bloßen Fußsohlen war Sams sanftes Schnarchen; es verklang allmählich, während sie um die Ecke in den Gang abbog, der zum hinteren Garten und zum Örtchen führte. Und plötzlich merkte sie, dass sie nicht allein war.

Das Licht einer einzelnen Kerze tanzte vor ihr auf und ab, und sie erkannte Lily, in ihrer Schwangerschaft fünf Monate weiter als sie und offenbar in die selbe Richtung unterwegs. Rosie spürte, wie sich ihre Lippen zu einem mitfühlenden Lächeln verzogen, aber die humorvolle Bemerkung erstarb ihr auf den Lippen, ehe sie sie auch nur in Worte fassen konnte… denn Lily verschwand um eine andere Biegung des langen Korridors.

„Lily…?“

Keine Reaktion. Das Örtchen war vergessen, der Drang, sich zu erleichtern, wurde ersetzt von einer plötzlichen, brennenden Neugier. Wo ging Lily hin, ganz allein und mitten in der Nacht? Sie hatte ihr Amt als Hebamme an Aster Straffgürtel und Tulpe Brockhaus übergeben (denn nach den dramatischen Begebenheiten am Jul-Vorabend hatte Tulpe darauf bestanden, ihre Runden für eine ganze Weile nicht mehr allein zu machen).* Sie hatte die Möbel für den kleinen, hellen Raum ausgesucht, der das Reich ihres Babys sein würde, und sie hatte es ehrlich genossen, dass ihr Mann sie sanft umsorgte.

Rosie folgte ihrer Freundin und fand bald heraus, dass sie dorthin ging, wo die alte Wiege wartete. Der legendäre Verrückte Bilbo hatte bereits darin geschlafen, und Elanor, und jedes einzelne von Rosies Kleinen seither, aber dies würde seit fast hundert Jahren der erste Beutlin-Nachwuchs sein, der darin geschaukelt wurde. Sam hatte ihr eine letzte, gründliche Politur mit Leinöl verpasst, Rosie hatte ein neues, flaches Kissen und eine weichen Deckenbezug genäht, und die junge, werdende Mutter hatte beides mit einem fröhlichen Durcheinander aus Tulpen, Gänseblümchen und Rosenknospen bestickt. Als Rosie das Zimmer kurz nach Lily betrat, sah sie, dass sie vor der Wiege stand.

Wieder öffnete sie den Mund, um etwas zu sagen… und wieder schluckte sie die Worte hinunter. Irgendetwas an der ganzen Szene war ganz entschieden merkwürdig.

Lily stand sehr aufrecht da, ein entrücktes Lächeln auf dem Gesicht. Ihre Augen waren weit geöffnet, und mit einem Ruck begriff Rosie, dass ihre Freundin sie überhaupt nicht wahrnahm. Sie hielt beide Arme so, als würde sie die winzige Gestalt eines schlafenden Babys halten, und sie sang.

Schlaf, mein Lieb, in ew’ger Ruh
Tief im Boden, kühl und feucht
Mama baut ein Nest dazu
Und sie macht den Schlaf dir leicht

Es hatte den weichen, beruhigenden Klang eines Wiegenliedes, die Art Melodie, die Rosie selbst sang, wenn sie ihre Kleinen zum Schlafen bringen wollte. Lily machte langsame, wiegende Bewegungen, und in den stillen Schatten des leeren Babyzimmers dachte Rosie beinahe, sie könnte die Gestalt des Kindes wirklich sehen, wie sie mit den weißen Falten des langen Nachthemdes der jungen Frau verschmolz.

Schlaf mein Lieb und ruh dich aus
Kindchen, sollst nicht traurig sein,
Mama trägt dich sanft hinaus
Weiche Erde hüllt dich ein…

Eine lange Pause. Rosie wagte kaum zu atmen. Sie sah, wie ein heftiger Schauder durch den Körper ihrer Freundin rieselte… dann öffneten sich die Arme in hilflosem Verlust und die uralte Geste mütterlicher Fürsorge war verschwunden.

Schlaf, mein Lieb, in ew’ger Ruh
Über dir die Blumen blüh’n
Sonne sinkt dem Westen zu
Und die Regenwolken zieh’n

Rosie machte unwillkürlich einen Schritt vorwärts, von einer plötzlichen Furcht gepackt, die sie nicht ganz und gar verstand. Aber noch immer sang die leise Stimme – vertraut und doch beängstigend fremd – dieses schwermütige Lied mit dem zutiefst verstörenden Text.

Schlaf, mein Lieb, ich wieg dich leis
Hast dich auf den Weg gemacht
Blumen säumen kalt und weiß
Deine Straße durch die Nacht

Unfähig, sich noch länger zurückzuhalten, streckte Rosie die Hand aus und berührte Lily am Arm. Was ein sanftes Streifen hätte sein sollen, wurde zu einem kräftigen Griff starker Finger, und er zeigte augenblicklich Wirkung. Lily erstarrte, holte tief und bebend Atem und öffnete die Augen. Sie blinzelte ungläubig.

“Rosie…? Was machst du denn hier?”

Sie schaute an sich hinunter, nahm die üppige Rundung ihres Körpers unter dem Nachthemd, die leere Wiege und das Mondlicht, das durch das Fenster hereinströmte, in sich auf. Sie runzelte in müder Verwirrung die Stirn.

“Und wie um Himmels Willen bin ich… ich verstehe das nicht…”

Rosie tätschelte ihr beruhigend die Hand.

“Du bist bestimmt schlafgewandelt, Liebes,” besänftigte sie und schob entschieden die furchterregende Umruhe beiseite, die sie nur Augenblicke zuvor empfunden hatte. „In einer Minute bring ich dich ins Bett, und morgen finden wir heraus, was passiert ist, bei einer guten Tasse Tee.“

Sie führte Lily in das große Schlafzimmer zurück. Die junge Frau legte sich widerspruchslos hin und schloss die Augen. Für einen Sekundenbruchteil war Rosie dankbar, dass Frodo ein paar Tage in Bockland verbrachte, bevor er mit seiner Frau die letzten paar Wochen ihrer Schwangerschaft abwartete. Aber dann dachte sie, dass sie die erste mögliche Gelegenheit nutzen würde, die merkwürdigen Begebenheiten dieser Nacht mit ihm zu besprechen… nachdem sie herausgefunden hatte, woran Lily sich im Licht des Tages noch erinnerte.

Aber jetzt… sie hastete aus dem Zimmer, schloss die Tür so leise, wie sie konnte und jagte den Korridor hinunter, das Nachthemd geschürzt, damit sie nicht über den Saum stolperte. Sie erreichte das Örtchen gerade noch rechtzeitig, um ein Unglück zu vermeiden, kehrte ein paar Minuten später in ihr eigenes Bett zurück und legte sich neben Sam (der sich im Schlaf kaum rührte).

Sie starrte zur Decke; die Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum und das Lied klang wie ein geisterhaftes Echo in ihren Ohren wider.

Mama trägt dich sanft hinaus
Weiche Erde hüllt dich ein…

Sie spürte, dass sie zitterte.

Was ging hier eigentlich vor?

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*siehe Ein Kind im Mittwinter


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