Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Sechzehn
Schatten auf dem Mond

Am nächsten Morgen kam Canohando im Vorhof an Joram vorbei und blieb stehen, um mit ihm zu reden.

„Weiß dein Enkelsohn, wie man seine eigenen Pfeile macht, Mann?“

Joram schüttelte den Kopf. „Sogar ich habe nicht einmal meine eigenen gemacht, als ich noch im Heer war. Ich habe ein paar für den Jungen geschnitzt, zum Üben, aber ich bin kein Pfeilmacher.“ Der Ork grunzte; er hatte Mikos Pfeile untersucht, als der Junge auf das Übungsfeld kam.

„Für sein Alter ist er kein schlechter Schütze, aber mit besseren Waffen könnte er sehr gut sein. Er ist vor ein paar Tagen gekommen und hat mir gezeigt, was er kann. Wenn du ihn zur Abendessenszeit in der Küche hast, dann werde ich hier essen und nicht in der Messe. Das gibt mir die Gelegenheit, ihm zu zeigen, wie man Pfeile macht.“

„Ich werde darauf sehen, dass er hier ist, und mir kannst du es auch zeigen, wenn du magst. Die Geschichte hat die Runde gemacht, wie du die Pfeile der Bogenschützen zurückgewiesen und statt dessen lieber deine eigenen geschnitzt hast... und jedermann hat von dem Vogel gehört, den du aus dem Himmel geschossen hast. Ich würde mich freuen, zu sehen, wie du das machst.“

Canohando ging davon und verbrachte den Tag damit, mit seinen Männern zu arbeiten. Er hatte sie ganz für sich, denn Elladan befand sich in geschlossener Sitzung mit dem neuen König; er gab Eldarion so viel Anleitung, wie er konnte, ehe er die Stadt verließ. Die Kompanie hatte sich nun zu einer geschlossenen Gruppe zusammen gefügt, obwohl Aragorn sie aus einer ganzen Anzahl unterschiedlicher Einheiten ausgewählt hatte; auch schienen sie ihren ausländischen Kommandanten akzeptiert zu haben.

Bei Sonnenuntergang kehrte der Ork in den Palast zurück. Er trug seine Waffen und hatte einen zweiten Bogen bei sich. Miko saß auf einer Bank an der Wand und baumelte mit den Beinen, aber er sprang auf und rannte ihm entgegen.

„Canohando! Opa sagt, du wirst mir zeigen, wie man Pfeile macht! Hast du immer deine eigenen gemacht, auch, als du noch in der Orkarmee gewesen bist?“

Der Ork strich Miko über das Haar, sorgsam darauf bedacht, mit seinen Krallen nicht die empfindliche Kopfhaut zu zerkratzen. Es war ein Zeichen für die Unschuld des Kindes, dass es so leichthin von der „Orkarmee“ sprach. Nenn es besser die Horde, dachte Canohando. Wir hatten keinerlei Treue, keine Disziplin; wir waren an Schrecken und Blutdurst gebunden, wir haben es genossen, zu quälen...

Er zwang seine Gedanken in die Gegenwart zurück. „Immer, Jüngling – Pfeil und Bogen sollten zum Schützen passen, nicht anders herum. Deswegen schnitze ich meine eigenen, wenn ich kann. Aber diese Elbenbögen sind gut gemacht; schau, ich habe dir einen aus der Waffenkammer mitgebracht. Er ist zu lang, aber wir werden ihn zurecht stutzen.“

Miko nahm den Bogen, die Augen rund vor Ehrfurcht. „Ein richtiger Elbenbogen!Der Waffenmeister hat dir wirklich erlaubt, ihn für mich zu nehmen?“ 

Canohando schnaubte. „Ich habe ihm nicht gesagt, für wen er ist; ich habe ihm gesagt, dass ich ihn brauche, und er hat nicht mit mir gestritten. Steh jetzt still, und ich werde sehen, wie weit wir ihn kürzen müssen.“ 

Joram brachte Fleisch und Bier zu ihnen herüber, und Canohando nahm gelegentlich einen Bissen und einen Schluck, während er arbeitete. Er veränderte Mikos Bogen stärker als seinen eigenen, denn er musste weit kürzer sein, und dann war er zu dick und musste ausgedünnt werden. Er arbeitete geduldig, und als Mikos Aufmerksamkeit auf Wanderschaft ging, rief er den Jungen scharf zur Ordnung. „Du wirst in einem oder zwei Jahren aus diesem heraus gewachsen sein, Jüngling, und ich werde nicht hier sein, um dir einen anderen zu machen. Du solltest besser beobachten, was ich tue, damit du weißt, wie du es selbst machen musst.“ Joram jedoch hing über ihm und sah aufmerksam zu, und er passte auch genau auf, als Canohando ein paar ungeschnittene Schäfte hervor zog und damit anfing, Pfeile zu schnitzen

„Du fiederst sie ein bisschen anders als unsere,“ stellte der Mann fest.

 „Auf diese Weise habe ich eine bessere Kontrolle,“ sagte Canohando. „Schau jetzt her.. wenn du die Feder auf diese Weise einsetzt, dann kannst du ihn im Flug ein wenig in Drehung versetzen. Komm her, Miko, lass mich sehen, wie du einen machst.“ 

Mikos Pfeil war eine schludrige Imitation von Canohandos Werk, aber der Ork nickte. „Du wirst üben müssen, aber die Grundidee hast du. Leg einen von meinen beiseite und benutze ihn nicht, dann hast du ihn als Modell.“ Er stand auf und streckte sich. 

„Zeit zum Schlafen. Bring deinen neuen Bogen morgen auf das Feld, dann kannst du schießen, während die Männer beim Drill sind.“ Er wandte sich zum Gehen, aber er wurde von Mikos kleinem Körper aufgehalten, der sich auf ihn stürzte und ihm die Arme um die Mitte schlang. 

„Dankeschön! Ich werde üben, ich versprech's, und ich werde immer meine eigenen Pfeile schnitzen, genauso wie du. Irgendwann bin ich auch ein Bogenschütze im Heer des Königs!“

Canohando lachte, aber die Zuneigung des Kindes erwärmte ihn, und er ging mit einem leichteren Gemüt hinauf in die Gemächer der Königin, als er es gekannt hatte, seit er erfuhr, dass Elessar bald sterben würde. Er grüßte die Wachen, die außerhalb des Vorraumes im Dienst waren und ging hinein, aber statt der Dunkelheit, die er erwartet hatte, stellte er fest, dass der Raum von Mondlicht überspült wurde. Er ging zum Fenster hinüber, um hinaus zu schauen, und die Schönheit der Nacht traf ihn mitten ins Herz.

Der Mond war beinahe voll, riesig und weiß, und dunkelblaue Wolken ballten sich rings herum zusammen; vereinzelte Fetzen trieben über das helle Gesicht. Er war müde, aber er hielt es nicht aus, diesem glanzvollen Anblick den Rücken zu zu drehen und sich in seinem stickigen Gelass nieder zu legen. Er stand lange Zeit da und betrachtete die Himmel, die wechselnden Schatten auf dem Mond und die Sterne, die Löcher in das dunkle Firmament brannten. Endlich wickelte er sich in seine Decke und legte sich auf den Boden unterhalb des Fensters, wo er seine Augen weiden konnte, bis sie ihm zufielen, trotz seiner Mühe, wach zu bleiben.

Hinterher dachte er, dass der Mond ihm vielleicht das Leben gerettet hatte.

Als er einige Stunden später aufwachte, war das Mondlicht fort und der Raum  sehr dunkel, und etwas regte sich nahe der Tür der Königin. Er erhob sich langsam auf die Knie und zog sein Messer unter dem Bündel hervor, das er als Kissen benutzte. 

Da war ein schwaches Geflüster und eine weitere Bewegung bei der Tür zu seinem Gelass – dann waren es also zwei, wenn nicht mehr – schauten sie nach, ob er schlief, bevor sie in die Gemächer der Königin einbrachen? Er kam auf die Füße und ertastete sich leise seinen Weg um die Ecke des Raumes; er strengte seine Augen an, um zu sehen, wie viele Eindringlinge es gab. Wenn eine Gefahr besteht, dann wird sie wohl eher in der Dunkelheit zuschlagen, hatte Legolas gesagt; der Elb war ein scharfsinniger Hauptmann. 

Ein Mann kauerte direkt vor der Tür der Königin, und Canohando nahm ihn sich zuerst vor; er warf ihm einen Arm um den Hals und stieß ihm rasch das Messer aufwärts zwischen die Rippen. Der Mann keuchte auf, sein Schrei abgeschnitten vom Druck des Orkarmes auf seine Luftröhre. Doch selbst dieser kleine Laut reichte aus, um den anderen Eindringling aufzuschrecken, und er rannte zur äußeren Tür, ohne sich die Mühe zu machen, leise zu sein. Canohando stieß den Körper, den er festhielt, beiseite und hechtete hinter ihm her, aber der Mann erreichte die Tür und warf sich aus dem Zimmer, ehe der Ork ihn einholen konnte.

„Haltet diesen Mann auf!" brüllte Canohando; er stürzte hinaus und sah sich den Wachen gegenüber. Sie wichen zurück und starrten ihn offenen Mundes an – mit Verspätung nahmen sie den Schrei auf und hetzten hinter dem flüchtenden Eindringling her. Sie warfen ihn zu Boden, bevor er die Treppen erreichte. Doch Canohando war der Ausdruck von Verblüffung und Furcht auf ihren Gesichtern nicht entgangen; sie haben nicht erwartet, dass ich am Leben bin, begriff er. Was für eine Teufelei das auch immer sein mag, diese beiden sind ein Teil davon.

Er schlüpfte zurück in den Vorraum und verrammelte ihn von innen, rasch, ehe die Wachen zurückkehren konnten. Dann rannte er zum offenen Fenster und lehnte sich hinaus; er warf den Kopf zurück und gab ein Heulen von sich, das die Nacht erschütterte, Es stieg und fiel, geisterhaft und bebend, bis es sich anhörte, als wäre ein Wolfsrudel in die Veste eingedrungen und würde den Vorhof des Weißen Baumes durchstreifen. Lichter flammten in der Finsternis auf, als Fackeln und Laternen angezündet wurden; Stimmen schrien und Füße stampften durch die Flure, und die Tür zu den Gemächern der Königin wurde aufgerissen. Arwen stand in ihrem Morgenmantel im Türrahmen; ein verängstigtes Kammermädchen kauerte hinter ihr. 

„Im Namen von Elbereth, Canohando, was ist das für ein Wahnwitz?“

Männer schrien und schlugen gegen die äußeren Türen. „Lass sie ein!“ sagte Arwen scharf.

„Warte, Herrin!“ Er stellte sich vor sie und beschirmte sie mit seinem Körper. „Sei dir erst sicher, dass sie dir treu sind; ich habe vor einem Augenblick einen Mann vor deiner Tür erschlagen, und ein weiterer ist davon gekommen. Schließ nicht auf, bis wir die Stimme des Königs hören, oder deine Brüder...“

Sie trug eine Laterne bei sich; in ihrem Licht waren ihre Augen verschattet, und sie schüttelte betäubt den Kopf. „Du hast jemanden erschlagen – vor meiner Tür? Wo?“ Sie hielt die Laterne hoch, und ihre Helligkeit verbreitete sich im Raum. Der Mann, den Canohando getötet hatte, lag mit dem Gesicht nach unten, sein Blut ein dunkler Fleck auf dem Teppich um ihn herum. „Wer ist es?“ flüsterte sie. 

Canohando rollte ihn herum. „Du!“ rief er aus; es war der blonde Soldat, der über seine Bogenschießkünste gespottet hatte, am ersten Tag, als er auf das Übungsfeld kam. Der Mann, der Miko bedroht hatte, der Rüpel, den Canohando aus seiner Kompanie geworfen haben würde, wenn der König ihn dafür eingeteilt hätte. 

„Du kennst ihn?“ fragte Arwen.

„Ich bin ihm begegnet; seinen Namen kenne ich nicht,“ sagte Canohando, aber in diesem Moment wurde an der Tür gerüttelt, und die Stimme des Königs war zu hören.

„Mutter! Kannst du mich hören? Ihr Männer – brecht mir diese Tür nieder!“

„Nein!“ rief Arwen und stürzte vor. „Warte, Eldarion, ich will sie aufschließen.“ Aber der Ork war ihr voraus und schob sie sanft mit der Schulter beiseite.

„Stell dich dort drüben hin, Herrin, bis wir wissen, dass es sicher ist. Ich werde die Türen öffnen, aber wenn unter den Verrätern ein Bogenschütze ist – bleib beiseite, außer Schussweite.“

Er öffnete die Tür weit, wich rasch zurück und schob sich vor die Königin, aber Eldarion stieß ihn aus dem Weg und nahm seine Mutter in die Arme.

 „Mutter!“ Bist du unverletzt? Was ist geschehen, ist der Ork wahnsinnig geworden? Haltet ihn!“ sagte er über seine Schulter hinweg, und ein halbes Dutzend Wachen umringten Canohando, zerrten ihm die Hände hinter den Rücken und fesselten sie rasch. Der Ork duldete es ohne Widerstand und betrachtete prüfend die Gesichter der Männer, als sie ihn von der Königin fort zogen. Wer von diesen Männer war Teil des Plans gewesen, fragte er sich, und was für ein Übel hatten sie im Sinn gehabt? 

„Lasst ihn los!“ Arwens Stimme war leise und heftig, und sie winkte Canohando zu sich. „In dieser Nacht war ein Eindringling hier, und Dank an die Mächte, das mein Schatten die Tür bewacht hat! Eldarion, schick nach deinen Onkeln....“

Aber das erwies sich als unnötig; Elladan und Elrohir waren schon da, und Elladan hatte bereits die Schnüre zerschnitten, die Canohandos Handgelenke banden. „Komm in dein Gemach, Arwen, du wirst dich verkühlen. Eure Majestät,“ sagte er leise zum König, „an Eurer Stelle würde ich nach der Kompanie der Königin schicken, um die Türen zu bewachen. Wenn ein Eindringling in diesen Raum gelangen konnte, dann ist Eure Wache kompromittiert, denn wie konnte irgend jemand ohne ihr Einverständnis an den Männern im Dienst vorbei?“

Eldarion nickte grimmig. Er trat hinaus in die große, offene Kammer vor den Türen des Vorraumes; seine Augen streiften wenigstens zwanzig Wachleute, bis sie einen jungen Pagen fanden, der sich nach vorn gedrängelt hatte, begierig zu sehen, was vor sich ging.

„Du, Junge! Mach, dass du zum Offizier im Dienst in den Quartieren kommst; sag ihm, ich rufe die Kompanie der Königin hier in den Palast, so schnell, wie sie herkommen kann!“ Dann blickte sich der König unter den schweigenden Wachen um. „Wer hat heute Nacht an diesen Türen Wache gestanden?“ fragte er. Zwei Männer traten vor; sie hielten noch immer die Ellbogen des Mannes gepackt, den sie an den Treppen eingefangen hatten. 

„Wir haben diesen hier erwischt, als er hinaus rannte, Majestät,“ sagte einer von ihnen.    

„Ach, tatsächlich?“ sagte der König. „Bindet seine Hände und Füße; wir werden ihn bald befragen. Welcher von euch Männern war heute Nacht nicht im Dienst?“

Ein halbes Dutzend Wachen hob die Hand. „Ihr Männer und die, die an der Tür gestanden haben, kommt herein und bringt den Gefangenen mit. Der Rest von euch ist entlassen.“ Aber als sie im Vorraum versammelt waren, sagte er: „Ihr beiden, die ihr an der Tür wart, seid ebenfalls unter Arrest; händigt eure Waffen aus.“ 

Ihr fassungsloser Gesichtsausdruck hätte komisch sein können, wäre Eldarions Blick nicht so ausdruckslos gewesen. Nur wenige Tage König, und schon sah er sich einem Verrat in der Wache gegenüber, einer Bedrohung gegen seine eigene Mutter! In all den Jahren von Elessars Herrschaft hatte es so etwas nicht gegeben – aber Aragorn war als Sieger auf dem Schlachtfeld nach Minas Tirith gekommen, erprobt und als würdig erwiesen. Dies war Eldarions erste Prüfung, und seine Herrschaft mochte kurz sein, wenn er sie nicht bestand.

„Bringt ihn herein.“ Der König deutete auf den Mann, der an der Treppe überwältigt worden war, und ein paar Wachen hielten ihn an den Armen, während er in das Gemach der Königin schlurfte, seine Schritte behindert durch das Stück Seil, das seine Knöchel verband.

Doch die Befragung war kurz.

„Was hast du vor der Tür der Königin getan, Soldat?“ fragte Eldarion streng. „König Elessar hat sich kaum zur Ruhe gelegt, und schon erhebt die Verräterei ihr Haupt gegen die Herrin Arwen?“ 

„ Nein!“ platzte der Mann entsetzt heraus. „Es war kein Verrat, wir wollten der Königin kein Leid zufügen! Niemals der Königin! Dem Ork – nur dem Ork - “

Arwen hob den Kopf; ihr Blick bohrte sich in sein Gesicht. „Was ist mit dem Ork? Was hattet ihr mit ihm zu schaffen?“

„Nichts, Eure Majestät; wir kamen, um ihn von hier fort zu bringen! Euer Gnaden, er hat Euch und den König verhext! Er ist ein Monstrum, das die wahren Söhne Gondors befehligt, das sich selbst unseren ,Kommandanten' nennt...“ Ihm versagte die Stimme, während er von Eldarion zu Elrohir blickte, zu Elladan und der Königin selbst.

„Ihr kamt, um ihn fortzuschaffen - wohin denn?“ Arwens Stimme war leise. „Oder meinst du nicht vielmehr, dass ihr hergekommen seid, um ihn zu erschlagen, obwohl er von König Elessar persönlich zu meinem Schatten und Beschützer ernannt wurde?“

Der Mann stand stumm da, und Eldarion zog die Brauen zusammen. „Du wirst der Königin Antwort geben, Kerl. Hattet ihr vor, den Ork zu erschlagen?“

„Ja,“ murmelte er. Er begegnete den Augen des Königs. „Er ist ein Ork, Eure Majestät! Wieso sieht denn niemand, dass er ein Feind ist, ein schmutziges Tier - “ Die Stimme des Mannes hob sich, während er seinen Hass hinaus spie. „Er hockt in der Messe und reißt an seinem Fleisch wie eine wilde Bestie, er saugt an den Knochen – unsere Waffen sind nicht gut genug für ihn – er hat vor dem König gemordet und vor dem ganzen Hof, und statt einer Hinrichtung wird ihm eine eigene Kompanie gegeben, und er schläft vor der Tür der Königin - “ Der Mann kreischte jetzt beinahe; Speichel flog von seinen Lippen. „Er wandelt unter den Großen von Minas Tirith, aber trotz all dem ist er ein Ork, und jeder wahre Sohn von Gondor wird ihn nieder strecken!“

Eldarion blickte drein, als sei ihm übel. „Dann ist es wohl das, was du bist? Ein wahrer Sohn von Gondor, der sich mitten in der Nacht an seinen Gegner heranschleicht, während er schläft, um ihm das Leben zu nehmen, noch eher er sich verteidigen kann! Mögen die Valar geben, das ich nicht viele dieser ,wahren Söhne von Gondor' unter meinen Soldaten habe!“

„Hast du nicht, Herr,“ sagte Canohando von dort, wo er dicht neben dem Sessel der Königin stand. „Ich habe eine Kompanie deiner Soldaten unter meinem Befehl, aber ich bin vielen anderen begegnet. Die meisten sind tapfere Männer. Vielen von ihnen gefällt es nicht, einen Ork in ihrer Mitte zu haben, aber  sie ehren das Wort des Königs, das mich mitten zwischen sie setzt und mir das Kommando gibt.“ 

Der junge König seufzte. „Ich hoffe, du hast Recht. Also schön... wir wissen, von welcher Sorte dieser Mann ist, und ich habe keinerlei Verlangen, noch mehr von ihm zu sehen. Nehmt ihn mit nach draußen – sind die Männer eurer Kompanie schon angekommen?“

Elladan öffnete die Tür zum Vorraum. „Ja, sie sind hier. Willst du als Nächstes  die Wachen verhören, die im Dienst gewesen sind?“ Eldarion nickte und nahm gegenüber der Königin Platz; Elladan wies den Gefangenen und seine Bewacher aus dem Zimmer und folgte ihnen hinaus.

„Ich bin froh, dass du einen leichten Schlaf hast, Ork,“ sagte der König, und Canohando schnaubte.

„Nicht leicht genug,“ sagte er. „Es hätte ihnen nicht möglich sein dürfen, ohne mein Wissen in das Zimmer zu kommen. Ich lebe zu gut hier in der Stadt.“

Einmal mehr öffnete sich die Tür, und ein Trupp Soldaten kam mit den beiden Wachmännern herein, Elladan hinter ihnen. Der König ließ seine Augen über die Wachen schweifen; sein Ausdruck war der eines Händlers, der ein Pferd nach seiner Gesundheit abschätzt. Er betrachtete sie von den geflügelten Helmen bis zu den polierten Stiefeln. Endlich kam sein Blick auf ihren Gesichtern zur Ruhe. 

„Wie sind diese Mörder heute Nacht hier hinein gelangt, meine Herren?“

Die Männer gaben keine Antwort. Sie starrten auf den Boden zu des Königs Füßen, und das Schweigen zog sich immer mehr in die Länge.

„Wollt ihr mir nicht sagen, dass sie durch das Fenster herein geklettert sein müssen?“ fragte Eldarion. „Oder vielleicht seid ihr auf eurem Posten eingeschlafen, alle beide? Oder ihr hattet dringende Angelegenheiten unten am anderen Ende des Korridors zu erledigen und habt die Tür unbewacht gelassen - “

Arwen unterbrach ihn. „Bring sie nicht in Versuchung, zu lügen, mein Sohn. Sie haben sie herein gelassen; das ist die Wahrheit. Hier sind noch ein paar mehr ,wahre Söhne von Gondor', denen ihr ererbter Hass mehr bedeutet als das Wort des Königs.“

Eldarion nickte. „Danke, Mutter. Das ist die Wahrheit, ihr Herren? Ihr habt die anderen herein gelassen; wusstet ihr, was sie vorhatten?“

„Den Ork zu töten,“ sagte einer der Männer mit heiserer Stimme.

Canohando befingerte den Juwel an seiner Kehle. „Das ist es, was sie euch erzählt haben. Was, wenn es nicht gestimmt hätte? Was, wenn mich zu töten nur ein Schritt auf dem Weg zu ihrer wahren Absicht gewesen wäre; der Königin ein Leid zuzufügen?“ Der Mann, der gesprochen hatte, schaute entsetzt drein. „Daran habt ihr nicht gedacht,“ sagte Canohando. „Aber wenn ihr euch entschließt, eure Befehle nicht zu befolgen, dann müsst ihr an alles denken.“

Elrohir regte sich ungeduldig. „Sie hatten keine Wahl zu treffen. Was tun wir mit Wachtposten, die beiseite stehen und Eindringlinge passieren lassen, ohne sie herauszufordern? Diese Männer sind Verräter, und der andere ist wahnsinnig, denke ich.“

„Bringt sie hinaus in den Vorraum und bewacht sie gut,“ sagte Eldarion den Soldaten. Und als sie gegangen waren, sah er sich unter denen um, die bei ihm geblieben waren.

„Tatsächlich, was sollen wir mit ihnen machen? Canohando, ich weiß deine Dienste für meine Mutter ganz ehrlich zu schätzen... und doch, wenn sie jetzt beschließen würde, in Minas Tirith zu bleiben, ich wäre in Verlegenheit, was ich dir sagen soll. Du bist treuer ergeben als viele Menschen in Gondor, aber da gibt es jene, die sich weigern, es zu sehen.“

„Da gibt es keine Schwierigkeit,“ sagte Arwen. „Ich werde am Ende der Woche abreisen, wie ich es dir gesagt habe. Aber du hast wenigstens vier Männer, die der Rebellion gegen des Königs Befehl überführt sind; einer von ihnen ist bereits tot, aber über die anderen musst du richten, wenn deine Autorität nicht zunichte werden soll.“

„Die Strafe für Mord ist der Tod, und der erste Mann kam, um einen Mord zu begehen; er hat es selbst gestanden,“ sagte Elladan. „Und die Strafe für Wachleute, die ihren Pflichten untreu werden, ist ebenfalls der Tod.“

Niemand sagte etwas, aber Canohando trat von einem Fuß auf den anderen und pfiff stimmlos durch die Zähne. Nach einem langen Schweigen sagte Arwen: „Ist das das Urteil?“ 

„Kann es irgend anders sein?“ fragte der König.

„Dein Vater hat ein anderes Urteil für mich gefunden,“ sagte Canohando.

„Das war ein ganz anderer Fall,“ sagte Eldarion. „Du bist nicht mit der Absicht gekommen, zu töten; du hast dich selbst verteidigt, aber dann hast du deine Waffe fort geworfen. Diese Männer haben eine üble Mordtat geplant, im Dunkeln, an einem schlafenden – ich hätte fast Mensch gesagt. Sie bilden sich ein, ihnen würde vergeben, weil du kein Mensch bist, aber es war trotzdem ein Mord, den sie vorhatten, und nur deine Schnelligkeit und Schläue haben dich gerettet.“

„Herr, sie sind sterblich; in ein paar Jahren werden sie sterben, ob du sie nun verdammst oder nicht... und sie haben mich nicht erschlagen, was immer sie auch vorhatten. Aber Leben ist besser als Tod, und der alte Mann hätte sie verschont, so wie Yarga...“  

„Welcher alte Mann?“ fragte Eldarion.

„Er spricht von Radagast dem Braunen, denke ich,“ sagte Elladan. „Der Vogelzähmer vom Rhosgobel: wenn wir seinem Beispiel für Gerechtigkeit folgen würden, dann wären Übeltäter von diesem Tag an frei, ihre schlimmsten Untaten zu begehen, ohne Vergeltung fürchten zu müssen.“

Canohando runzelte die Stirn. „Ist es Vergeltung, nach der es dich verlangt, Bruder der Königin? Wir haben Vergeltung gekannt, unter dem Hexenkönig. Wachtposten, die im Dienst versagt haben, so wie diese Männer es taten – sie wären wahrhaftig gestorben und hätten noch um den erlösenden Tod gebettelt! Aber ich habe bessere Dinge von dem alten Mann gelernt, und von Neunfinger.“

Arwen streckte die Hand aus und zog ihn an sich. „Das hast du, Lieber. Radagast war kein Narr, auch wenn manche ihn so genannt haben,“ sagte sie zu den anderen. „Und es war Frodos Gnade, die ihn am Ende gerettet hat. Gib acht, auf welche Weise du Gerechtigkeit übst, dass du die Weisheit nicht gleichzeitig mit deinen Übeltätern erschlägst.“

Der König rieb sich die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. „Sehr schön, Mutter, aber was soll ich mit Wachen tun, die ihre Pflichten so missbrauchen? Sollen von nun an die Wachleute Gondor regieren, im Widerspruch zum Wort des Königs? Mein Vater hat den Ork in deinen Dienst gestellt, erinnerst du dich?“

Sie neigte den Kopf. „Das ist wahr, Was hätte er wohl in diesem Fall getan, frage ich mich?“

„Du kannst ihnen nicht länger trauen,“ sagte Elrohir. „Nach dieser Sache würde ich sie überhaupt nicht in Minas Tirith haben wollen; sie sind erwiesenermaßen Verräter an ihrem Eid, denn sie haben dem König Gehorsam geschworen. Und nebenbei, es sind Feiglinge, dass sie im Dunkeln auf einen schlafenden Mann losgehen. Tod oder Verbannung muss es sein, glaube ich.“

Eldarion stand auf. „Gimli sagt, dass es in den Tiefen vom Moria noch immer Orks gibt; die Zwerge hatten einigen Ärger mit ihnen. Ich werde diese Männer unter Bewachung nach Khazad-dûm schicken, in die lebenslange Verbannung. Nachdem sie sich nicht damit aussöhnen können, einen Ork als Waffenbruder zu haben, lass sie dorthin gehen, wo alle Orks Feinde sind. Dort können sie ihren Mut und ihre Erlösung finden, wenn ihr Herz es zulässt.“ Er beugte sich hinab, um seine Mutter auf die Wange zu küssen. „Geh wieder ins Bett, Mama. Deine eigene Kompanie bewacht die Tür, und es gibt nichts mehr zu fürchten.“

Sie lächelte, nahm seine Hand und drückte sie an ihr Gesicht. „Ich fürchte mich nicht, Liebster. Mein Estel hat mir wahrhaftig einen Beschützer gegeben, und er hat heute Nacht seinen Wert bewiesen. Aber Canohando, hast du ein paar Männer in deiner Kompanie, denen du trauen kannst? Nicht um mich zu bewachen – um dir beizustehen, falls du wieder angegriffen wirst.“

Der Ork dachte einen Moment nach. „Ich würde fast jedem von ihnen zutrauen, dass sie mir den Rücken decken, Herrin,“ sagte er endlich. „Der alte König hat sie gut ausgewählt; sie sind tapfere Männer, und treu.“

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