Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Siebzehn
Der Weg nach Lothlórien

Am Tag ihrer Abreise brachen sie nicht so früh auf, wie sie es geplant hatten, denn Arwen zögerte noch drinnen, bei Eldarion und ihren Brüdern, entschlossen, zu gehen und doch unwillig, endgültig Abschied zu nehmen. Canohando wartete im Vorhof, und ein Reitknecht hielt das Pferd der Königin draußen vor dem Eingang der Veste; sie würden selbstverständlich beritten reisen, und der Rest der Kompanie war an den Toren der Stadt versammelt.

„Nun, Ork, wir sind gekommen, um dir eine sichere Reise zu wünschen.“ Bei Klang von Gimlis Stimme drehte Canohando sich um.

„Ich wäre froh gewesen, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten, uns kennen zu lernen,“ sagte Legolas. „Es wird eine merkwürdige Geschichte sein, die ich in die Unsterblichenlande mitnehme; von einem Ork, der das Schwarz und Silber trägt und bis zum Ende über Arwen Undómiel wacht. Da werden einige sein, die mit nicht glauben, und selbst jetzt noch bin ich nicht sicher, ob ich verstehe, wie so etwas geschehen konnte.“ 

Canohando befingerte den Juwel an seiner Kehle. „Neunfinger,“ sagte er.

„Das ist die Antwort, und doch bleibt es seltsam,“ sagte Gimli. „Frodo Beutlin – als ich ihn zuerst in Elronds Haus gesehen habe, sogar, als er vor trat, um dem Ring zu nehmen.., ich dachte, er sei zu unschuldig, zu weich für die Aufgabe, die er sich gesucht hatte - “

„Das war er,“ sagte Legolas. „Er war sanft bis zur Schwäche, aber er wusste, was auf dem Spiel stand, und er wollte nicht aufgeben. Ich dachte, die Sache hätte ihn über alle Heilung hinaus zerbrochen; als ich ihn das letzte Mal sah, fürchtete ich, ich würde als nächstes hören, dass er tot sei, oder wahnsinnig.“ Der Elb betrachtete Canohando neugierig. „Was hat Radagast für ihn getan, weißt du das? Nach dem, was du sagst, war Frodo heil und stark, als du ihm begegnet bist.“

„Als ich ihn traf, hatte er seine Schlacht schon geschlagen, und er hatte gewonnen. Ich weiß nicht, ob der alte Mann ihn befreit hat oder er sich selbst, aber er wollte nicht zurückweichen – selbst Yarga konnte ihn nicht brechen; am Ende ist Yarga lieber geflohen, als Neunfinger entgegen zu treten...“ Der Ork seufzte. „Es gibt niemanden wie ihn, aber ich würde gern sein Land sehen, wenn ich könnte.“

Legolas lächelte. „Das Auenland? Aragorn hat vor vielen Jahren einen Bann darauf gelegt; Menschen sind dort nicht zugelassen, aber ich nehme nicht an, dass er daran gedacht hat, Orks zu verbieten. Vielleicht wirst du Frodos Land eines Tages sehen, Canohando. Ich glaube, das würde ihm gefallen.“

Canohando antwortete nicht, aber nach einer Weile wandte er sich an Gimli. „Und was wirst du jetzt tun? Die Herrin sagt, der Elb geht nach Valinor; wirst du dann in dein eigenes Land zurückkehren? Hast du den gleichen Weg wie wir? Es täte mir nicht Leid, deine Axt auf unserer Seite zu wissen, wenn wir Feinden begegnen.“

Legolas lachte. „Nein,Ork, ihn kannst du nicht haben! Gimli geht mit mir; unsere Freundschaft besteht zu lange, um jetzt zerbrochen zu werden!“ Er blickte mit sanfter Belustigung auf den Zwerg hinunter. „Er hat sich auf dem Pferderücken an mir fest geklammert, und jetzt wird er an meiner Seite der See trotzen und sein Leben meiner Bootsbaukunst anvertrauen.“ 

„Um der Herrin Galadriel Willen, wohlgemerkt,“ sagte Gimli mürrisch. „Sonst könntest du genauso gut mit mir zu den Glitzernden Höhlen zurück kommen und dein Seefieber noch eine Weile länger ertragen! Aber ich werde mit dir nach Elbenheim gehen, wenn du sicher bist, dass das Schiff nicht auf den Grund sinkt, weil einer von Durins Rasse mit an Bord ist.“ 

„Es wird nicht sinken,“ sagte Legolas voller Gewissheit. „Die Erlaubnis ist erteilt worden, und Galadriel selbst wird sich daran erfreuen, dich an den weißen Ufern zu sehen. Wir sind an das Ende mancher Dinge gelangt, meine Freunde, und dieses Mittelerde wird in dem Zeitalter, das da kommt, ein ganz anderes sein.“ 

Gimli nickte. Sein Gesicht war traurig, und er langte für einen Moment nach oben und legte dem Elb eine Hand auf die Schulter. Doch Canohando schaute sich auf dem Vorhof um; er betrachtete den Brunnen und den Weißen Baum und dachte, dass er weit mehr gewonnen als verloren hatte, als die Welt sich wandelte. Er trauerte um seine Herrin und um den guten König, dem er nur so kurze Zeit gedient hatte, und in seinem Herzen würde es Frodos wegen immer einen leeren Raum geben. Aber er hatte die Freiheit zu trauern, zu lieben...

Endlich kam die Königin heraus. Sie umarmte ihren Sohn und Elrohir, küsste beide und strich Eldarion das Haar aus der Stirn. 

„Du wirst ein würdiger König von Gondor sein, mein Sohn. Betrübe dich nicht allzu sehr meinetwegen, sondern lebe die Jahre, die dir zugewiesen sind, mit Freuden. Sie sind flüchtig, die Jahre, die vergehen; lass sie nicht durch deine Finger rinnen!“ 

„Das werde ich nicht,“ sagte er. Er half ihr, aufs Pferd zu steigen, und dann ging er neben ihr durch die gewundenen Straßen von Minas Tirith, den ganzen Weg zu den großen Toren mit ihren Mithril-Bildern des Baumes, der das Emblem seines Hauses war, und er stand da, während die Kompanie Soldaten sie umringte, als Vorhut und Nachhut, zur Ehrenwache und zum Schutz. 

Endlich war alles bereit; Elladan stieß einen Ruf aus und gab ein Handzeichen, und die Kompanie bewegte sich hinaus. Arwen Undómiel ritt mit hoch erhobenem Kopf; sie schaute nicht zurück auf die Stadt, wo sie ihren bittersten Schmerz und ihre größte Freude gekannt hatte. Sie folgte der selben Straße, die sie mehr als hundert Jahre zuvor hergebracht hatte. Ihr Gesicht war ruhig, und nur Canohando, der sich dicht an ihrer Seite hielt, sah die Tränen, die ihr die Wangen hinunter liefen und auf ihre behandschuhten Hände hinab fielen, die die Zügel des Pferdes hielten. 

Canohando wollte nicht reiten. Statt dessen rannte er neben der Königin her, Meile für Meile, unermüdlich und gut imstande, ein Gespräch aufrecht zu erhalten, während er lief. Die Männer waren verblüfft über sein Durchhaltevermögen, aber er winkte ab. „Es ist das einzig Gute an Orks: unsere Ausdauer.“ 

Arwen sprach wenig; jedoch schloss sie Canohando nicht so vollständig aus wie die anderen. Zu ihm konnte sie über ihre Gedanken reden, ohne etwas zurück zu halten; seine Seele war so widerstandsfähig wie sein Leib, und nichts, was sie sagte, brachte ihn jemals aus der Fassung. 

„Deine Kinder hätten es gern gehabt, dass du bei ihnen geblieben wärst, Herrin“, sagte er eines Tages, als sie schon fast eine Woche unterwegs waren. 

„Ja.“ Sie seufzte. „Ich konnte nicht bleiben und sie sehen lassen, wie viel weniger sie mir sind, als er es war,“ sagte sie, und Canohando wusste, dass sie vom König sprach.

„Herrin, das wissen sie doch sicher? Für ihn hast du dein Geburtsrecht aufgegeben, den Ruf nach Valinor...“ Er rannte eine Weile, ohne zu sprechen, dann fügte er hinzu: „Ich würde viel darum geben, einen leiblichen Sohn zu haben.“ Es war, als würden ihm die Worte entrissen; er hatte sie oft gedacht, aber nie laut ausgesprochen. 

Er sah sie an und fürchtete halb, was sie sagen würde; er entstammte einer verfluchten Rasse... wie konnte er den Wunsch wagen, seine Art zu mehren? Aber sie lächelte auf ihn hinunter. „Dann musst du eine Frau finden. Ich wäre froh, zu wissen, dass du eine Familie hast. Du würdest einen guten Vater abgeben, und einen hingebungsvollen Gefährten.“ 

Er schnaubte und blickte wieder nach vorn. „Wer würde mich haben wollen, hässlich, wie ich bin?“ 

Arwens ausgestreckte Hand streifte seine Schulter. „Du bist nicht hässlich, Lieber, nicht für jemanden mit klarem Blick.“ Sie murmelte etwas auf Quenya

Einen Moment später fragte Canohando: „Willst du mir erzählen, was du gesagt hast, Herrin? Ich verstehe die Elbensprache nicht.“ 

„Dann ist es Zeit, dass du es lernst. Ich habe gesagt: ,Mögen die Valar geben, dass du deine Gefährtin findest, um deiner selbst willen und zum Wohle der Welt.' Das Vierte Zeitalter wird deine Kinder nötig haben.“

Danach machte sich Arwen an jedem Tag ihrer Reise die Mühe, ihm ein paar Worte beizubringen. Es war allerdings nicht Quenya, was sie ihn lehrte, sondern das Sindarin der Waldelben. „Bald wirst du nirgendwo in Mittelerde mehr Quenya hören,“ sagte sie traurig. „Die, die es noch sprechen können, werden sich allesamt jenseits des Meeres befinden.“ Tatsächlich ließ ihre Trauer nicht mehr nach, und es schien kein Licht mehr in ihren lieblichen Augen; doch freundlich waren sie immer noch.

Sie folgten der Straße bis nach Edoras und hielten sich dort eine Woche auf, um zu rasten und sich mit Proviant für die zweite Hälfte der Reise zu versorgen. Arwen zeigte sich gnädig und sanftmütig und akzeptierte die angebotene Gastfreundschaft des Königs der Mark – obwohl es Éomers Enkelsohn war, der nun in Rohan herrschte, und er war ein Mann in mittleren Jahren, graubärtig und ein wenig überwältigt von der Tatsache, dass er Gondors Königin beherbergte. Er gab ein Festessen für sie; Arwen saß trockenen Auges an der Tafel und versuchte, dem König und der Königin ihre Nervosität zu nehmen, indem sie ein angenehmes Gespräch in Gang hielt. Aber sie war bleich wie der Tod, aß fast nichts und zerdrückte ihr Brot zwischen den Fingern zu Krümeln, die in einem weißen Hügel auf ihrem goldenen Teller landeten.

Canohando stand hinter ihrem Stuhl und hielt Wache, und die Leute des Hofes betrachteten ihn ebenso wachsam, klammheimlich und aus den Augenwinkeln. Niemand wollte Arwen Abendstern das Recht absprechen, die Diener zu wählen, die sie wünschte, und doch ging es über das Verständnis des Volkes von Rohan hinaus, das sie sich einen Ork im Hofstaat hielt. Als jedoch das Abendessen vorüber war und sie in die Gemächer gegangen war, die man für sie vorbereitet hatte, da schickte Canohando einen der jungen Soldaten der Kompanie in die Küche.

„Ich werde der Herrin an diesem fremden Ort nicht von der Seite weichen, und die könnten mich unter Umständen mit ihren Fleischmessern Willkommen heißen, wenn ich die Küche betreten würde,“ sagte er ironisch. „Aber sie hat heute Abend nicht genügend gegessen, um einen Vogel am Leben zu halten, und sie wird am Straßenrand in Ohnmacht fallen, wenn das so weiter geht. Bitte die Köche um ein Tablett für sie; sag ihnen, dass sie nur sehr wenig zu sich nimmt, also sollen sie Essen schicken, das leicht ist, aber trotzdem kräftigt. Und frag den Quartiermeister nach einem Schlauch von unserem eigenen Wein.“

Und als das Essen und der Wein gebracht wurden, ging der Ork selbst in Arwens Gemach, ohne auf ihre Erlaubnis zu warten, und kniete sich neben ihren Sessel; sie lehnte sich darin zurück, die Augen geschlossen, als wäre es schon  zu viel Anstrengung, ihrer Kammerfrau auch nur zu gestatten, sie auszukleiden und ins Bett zu bringen. 

„Herrin, du musst essen. Du musst,“ sagte er.

Sie öffnete die Augen nicht. „Wieso muss ich das? Geh und ruh dich aus, Canohando. Es gibt keine Gefahr in Meduseld, wo die goldhaarigen Riesen von Rohan auf jeder Türschwelle Wache stehen.“

„Sie sind draußen vor der Tür, Herrin, und die Gefahr liegt  hier im Raum. Du wirst Lothlórien nicht erreichen, wenn du nicht isst; wir werden dein Grab am Rand der Straße schaufeln und ich werde mich darauf selbst erschlagen, denn ich habe geschworen, dich nach Hause zu bringen.“ 

Als sie das hörte, setzte sie sich auf. „Sie würden mich nicht am Wegesrand begraben; sie würden mich in vollem Staat zurück tragen, damit ich in Rath Dínen liege, neben meinem Herrn. Und du sollst dich nirgendwo selbst erschlagen, Ork, sondern leben und weiter reisen, um das Auenland zu sehen, die Heimat deines Bruders!“

„Nicht, während ich dir noch dienen kann, Herrin. Mein Kümmerling hat mir vom Goldenen Wald erzählt, und ich würde mich freuen, ihn zu sehen. Wirst du ihn mir zeigen?“

Er goss Wein ein, während er sprach, und hielt ihr das Glas hin. Sie nahm es und er reichte ihr das Tablett mit kleinen Leckereien aus der Küche: kleine Pasteten mit Mohnfüllung, gekräutertes Rindfleisch, in dünne Scheiben geschnitten und zusammengerollt, dazu ein geriffeltes Schälchen mit zart gebräuntem Pudding. Arwen nippte an ihrem Wein und nahm eine der Pasteten; sie biss hinein und blickte mit sanfter Verzweiflung auf ihn hinunter.

„Ich habe die Sterblichkeit gewählt, Lieber. Du kannst den Tod nicht daran hindern, mich zu finden, und ich will nicht, dass du es tust.“

Und einmal mehr sah sie den Ringträger in seinen Augen; die Hinnahme von jeglichem Schmerz, der da kommen musste, und doch die sture Entschlossenheit, sein Versprechen zu halten. 

„Herrin, du sagtest, du würdest unter den Mallorns das Schicksal der Menschen auf dich nehmen. Ich glaube, der König würde froh sein, wenn er wüsste, dass du sicher dort hin gekommen bist, was immer auch danach geschieht.“

Sie seufzte. „Hast du da einen Löffel? Ich werde den Pudding essen, aber das Fleisch wirst du selbst essen müssen.“   

Er lächelte, großmütig in seinem Triumph. „Das werde ich, wenn du die Pasteten auf isst, Herrin.“


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