Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Fünfzehn
Das Zeitalter der Herrschaft der Menschen

Mitternacht war vorüber, ehe Eldarion das Haus der Könige verließ. Die weiße Krone des Königs saß auf seinem Kopf, und er schien gewachsen zu sein und gemeinsam mit der Krone königliche Würde zu tragen, aber das Fackellicht fing das Glänzen von Tränen auf seinen Wangen ein. Seine Schwestern kam nach ihm; sie hatten sich gegenseitig die Arme um die Mitte gelegt und weinten offen, und ihre Ehemänner folgten mit den Brüdern der Königin. Aber Arwen kam als letztes; sie fiel zurück, als käme sie nur unter Zögern. Sie vergoss keine Tränen, und ihr Gesicht war so weiß und still, als wäre es in Stein gehauen. Sie machte keinerlei Anstrengung, auf ihr Pferd zu steigen, sondern ging und legte sich in die verschlossene Sänfte, die leer nach Rath Dínen getragen worden war. 

Canohando stand über ihr, entsetzt von ihrem Aussehen. Er versuchte, sich etwas zu überlegen, das er tun konnte. 

„Schließ die Vorhänge“, sagte sie. Sie schloss die Augen und kreuzte die Hände über der Brust, als wäre sie bereit für ihren eigenen Leichenzug, und einen Moment später gehorchte er; er zog die Damastvorhänge zu und verbarg sie den Blicken. Er fiel zurück, damit er neben Gimli und Legolas gehen konnte. Es gab keine Musik, während sie sich auf den Weg die gewundene Straße entlang machten, zurück zu der Stillen Tür.

Am Morgen kleidete sich Arwen in schwarzen Samt und bedeckte ihr Gesicht mit einem schlichten, schwarzen Schleier, der bis fast zu ihren Knien hinab hing. In langsamer Prozession schritt sie mit Eldarion zur Halle der Könige; Musiker gingen ihnen voraus, und ihre Brüder, ihre Töchter, deren Ehemänner und Kinder folgten nach, dahinter die höchsten Würdenträger des Königreiches. Eine Kompanie Wachen marschierte vor und hinter ihnen.

Niemand hatte Canohando gesagt, wo er an diesem Tag hin gehörte, und er nahm ungefragt seinen Platz unter den Wachleuten ein. Die Männer wichen  widerspruchslos für ihn zur Seite, und während sie auf beiden Seiten der Tür Habacht standen, setzte Canohando seinen Weg die Halle hinunter fort, hinter der Königlichen Familie und ihrem Hofstaat. Er stand mit den Fürsten des Königreiches auf der rechten Seite des Podestes, und wenn es denn viele gab, die seine Anwesenheit unter ihnen scheel ansahen, dann bemerkte er es nicht. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt seiner Herrin.

Der Thronraum war gerammelt voll... Höflinge in reichen Gewändern aus Samt und Seide, zusammen gedrängt  mit normalem Volk aus der Stadt, Händlern und Soldaten, Hausfrauen und Arbeitern, alle und jedermann, der sich den Weg in das Gebäude hinein hatte erkämpfen können. Draußen war der Vorhof des Weißen Baumes ebenfalls eine brodelnde Masse von Menschen, aber man hörte nur wenige Stimmen. Die Bürger von Gondor warteten hoffnungsvoll und beklommen darauf, dass der neue König sie begrüßte.

Eldarion stand oben auf den Stufen und ließ seinen Blick von Gesicht zu Gesicht wandern; er blieb an dem einen oder anderen hängen, das ihm besonders auffiel. Eine alte Frau ziemlich weit vorn; die groß gewachsenen Männer, die schützend zu ihren Seiten standen, sahen aus wie Brüder, und sie mussten ihre Ellbogen wirkungsvoll eingesetzt haben, um ihre ältere Mutter an einen Platz zu bringen, von dem aus sie alles deutlich erkennen konnte. Ein mutwillig aussehender  Junge, der auf dem Sockel einer der Säulen balancierte, einen Köcher und einen Bogen auf den Rücken geschnallt. Ein Liebespaar, die Arme umeinander gelegt, doch ihre Augen betrachteten ihn voller Hoffnung.

Es ist an mir, Gondor stark zu halten, dachte er, dass dieses Kind zu einem guten Mann aufwächst; dass diese Liebenden in Frieden eine glückliche Familie heranziehen können. Die Krone fühlte sich sehr schwer an auf seiner Stirn, und er fragte sich, ob der Kopf seines Vaters zuweilen unter ihrem Gewicht geschmerzt hatte.

„Ich wünsche euch einen guten Morgen,“ sagte er endlich. „König Elessar, mein Vater, schläft bei seinen Vorvätern in Rath Dínen, und er hat mir seinen Platz hinterlassen, um dieses Reich von Gondor zu beherrschen und zu beschützen. Die Fürsten und Würdenträger des Königreiches haben mir bereits Treue geschworen, und jetzt rufe ich euch alle auf, die Männer und Frauen von Minas Tirith, mir eure Treue zu geloben, so, wie ich euch die meine gelobe. Wie ein Vater werde ich für euch sein, und ihr sollt meine Kinder sein.“

Er hatte kaum aufgehört zu reden, als der Beifall begann, und Jubel erfüllte den Raum und den Vorhof draußen, während die Leute schrien und mit den Füßen stampften, ihre Hüte in die Luft warfen, lachten und klatschten, bis der dröhnenden Klang von den Wänden widerhallte. Endlich trat der Kanzler des Königreiches vor, strahlend in mitternächtlichen Gewändern mit einer goldenen Kette um den Hals; er hob die Hände und gebot Schweigen.

„Hier steht Eldarion, der Sohn des Elessar, bestätigt und gekrönt von seinem Vater, aus der Linie Isildurs und Elendils, wahrer König von Gondor. Falls irgend jemand seinem Recht widerspricht, lasst ihn nun sprechen und seinen Fall gerecht darlegen.“

Die Stille war so tief, dass es schien, als würde niemand auch nur atmen.

„Dann kniet nieder, als Zeichen Eurer Gefolgschaft zu König Eldarion!“ sagte der Kanzler mit lauter Stimme, und mit einem gewaltigen Kleiderrascheln und Schuhescharren auf dem Boden ging jede Person in der Halle auf die Knie. Als sie sahen, was drinnen vorging, knieten die Leute auf den Stufen im Freien ebenfalls nieder, und die im Vorhof auch, und Eldarion schaute hinaus über ein Meer aus gebeugten Köpfen.

„Ihr seid mein Volk“, sagte er, die Stimme rau vor Gefühl. „Solange ich lebe, werde ich euch  in Gerechtigkeit regieren und euch mit Weisheit führen, und gnädig über euch urteilen, wenn die Valar mir die Güte erweisen, dies zu tun. Ihr dürft euch erheben.“

Er setzte sich auf seinen Thron, aber neben ihm blieb Arwen stehen, während die Leute wieder auf die Füße kamen. Trompetengeschmetter kündigte den Beginn der neuen Herrschaft an, aber als der Klang erstarb, hob Arwen die Arme und breitete sie weit aus.

„Nun kommen die Jahre der Herrschaft der Menschen,“ rief sie. „Die Zeit der Erstgeborenen ist vorüber, und mein Volk scheidet dahin. Nutzt die Zeit wohl, ihr Günstlinge Ilúvatars, bis Arda schwindet!“

Sie wandte sich um und küsste ihren Sohn auf die Stirn dann stieg sie von dem Podest herab und ging den langen Mittelgang zur Tür hinunter. Aber das Volk, das sich in der Halle der Könige drängte, beugte einmal mehr das Knie, während sie vorüber kam, und hinter ihr glitt ihr Schatten in seiner Tracht aus Schwarz und Silber.

*****

Später an diesem Tag rief die Königin ihre Brüder zu sich. Sie saßen da, nippten Wein und drängten sie, etwas zu essen, aber Canohando lehnte im Türrahmen, feilte sich mit seinem Messer die Fingernägel und schärfte sie zu scharfen Krallen.

„In einer Woche werde ich abreisen,“ sagte Arwen. „Sind eure Männer bereit?“

„Sie sind bereit, Herrin,“ sagte Canohando, ohne zu zögern, aber Elladan beugte sich vor und nahm die Hand seiner Schwester.

„Willst du nicht bis nach Neujahr warten, Arwen? Es ist weniger als ein Monat, nicht zu viel Zeit, um Elladan sicher auf seinem Thron zu sehen; und du hättest dich etwas von deinem Kummer erholt.“

Ihre Augen waren sehr dunkel hinter ihrem Schleier; selbst hier in ihrem Gemach hatte sie ihn nicht abgenommen. „Denkt ihr, ich werde mich von diesem Schmerz erholen? Es gibt nur eine Heilung für meinen Kummer, und die werde ich in Lórien finden. Nein, ich werde nicht bis zum Neujahr bleiben; Estel hätte neben mir auf der Plattform stehen sollen, und ich werde dort nicht ohne ihn stehen. Eldarion ist jetzt König, und er wird die Huldigungen seines Volkes entgegen nehmen. Eine Woche von heute aus, Bruder, früh am Morgen.“

Bald darauf gingen ihre Brüder hinaus, um sich mit dem neuen König zu treffen, und die Königin betrachtete Canohando voller Bedauern. „Ich wünschte, du hättest Minas Tirith an Neujahr sehen können,“ sagte sie. „Wir hatten für dieses Jahr eine ganz besondere Feier geplant, für den hundertzwanzigsten Jahrestag des Neuen Königtums. Ich hätte nie gedacht, dass der König nicht hier sein würde, um daran teilzunehmen.“

Der Ork kam und setzte sich ihr zu Füßen; er versuchte, ihr durch den zarten Schleier in die Augen zu schauen. „Er wäre bei dir, wenn er könnte, Herrin. Es war nicht sein Wunsch, dich zu verlassen.“

Sie blickte weg. „Ich weiß. Schick jemand, um Legolas für mich zu finden, und Gimli.“ Sie lächelte schwach. „Wo man den einen antrifft, wird auch der andere sein, denke ich. Ich weiß nicht, wie lange sie jetzt in der Stadt bleiben werden, und ich würde gern mit den beiden sprechen.“

Sie kamen prompt, aber während Gimli sofort hin ging, um sich über die Hand der Königin zu beugen, nahm Legolas Canohando beiseite. „Du solltest bei deinen Soldaten sein, Kommandant, und sie marschfertig machen. Du kannst nicht hier in den Gemächern der Königin bleiben, wenn du binnen einer Woche aufbrechen sollst.“

Canohando starrte ihn verblüfft an – wie konnte der Elb das wissen – und Legolas lächelte betrübt.

„Ich kenne meine Undómiel,“ sagte er. „Sie wird es eine Woche hinauszögern, damit es nicht so aussieht, als würde sie aus der Stadt fliehen, aber es wird ihnen nicht möglich sein, sie darüber hinaus aufzuhalten. Lass sie tagsüber unter unserem Schutz, Ork, obgleich ich nicht weiß, welche Gefahr du im Herzen der Stadt fürchtest. Aber es mag sie trösten, alte Freunde um sich zu haben, und ich möchte soviel Zeit, wie ich nur kann, mit dem Abendstern meines Volkes zubringen, ehe er verblasst. Aragorn sagte, dass du des Nachts ihre Tür bewachst?“

„Immer,“ sagte Canohando, und der Elb nickte.

„Gut. Ich denke nicht, dass eine Gefahr besteht, aber wenn es so wäre, dann würde sie wohl eher in der Dunkelheit zuschlagen. Vertrau Arwen während des Tages uns an, während du deine Kompanie befehligst. Es ist kein leichtes Ding für einen Ork, eine Truppe Menschen zu kommandieren. Du darfst sie nicht vernachlässigen; auf der Straße könnte die Sicherheit der Königin von ihrer Bereitwilligkeit abhängen, dir zu gehorchen.“

Es war dieses Argument, das Canohando überzeugte. Er sprach mit Arwen, und sie schickte ihn sofort weg: „Natürlich, Legolas hat Recht. Nicht umsonst ist er der Prinz von Düsterwald und wird für seine Führungskraft geehrt. Geh, Canohando und mach alles zum Abmarsch bereit.“

Als er zum Übungsfeld gelangte, war er froh, dass er gekommen war. Der Platz war belebt; Soldaten von überall aus der Stadt hatten sich dort versammelt, ob sie nun im Dienst waren oder nicht, so, als suchten sie im Nachklang vom Hinscheiden des Königs beieinander Trost. Sie saßen müßig herum, einige von ihnen beim Würfelspiel; andere standen herum und sprachen leise miteinander. Eine ganze Anzahl hatte Bier bei  den Händlern vor dem Eingang gekauft und trank ununterbrochen, obwohl es noch früh war. Canohando blieb im Tor stehen und nahm die Szenerie in sich auf, sie gefiel ihm ganz und gar nicht. Seine Furcht vor der Trunkenheit kehrte mit aller Schärfe zu ihm zurück.

Er ging in den Posten und trat dem Soldaten, der dort am Tisch saß, gegenüber. „Ich will die Kompanie der Königin zum Drill; gib ihnen für mich Nachricht, Jüngling. Wo finde ich heute Morgen den Hauptmann vom Dienst?“

Der junge Soldat schaute verblüfft drein. „Er ist im Planungsraum, zusammen mit seinen Untergebenen; wenn sie zusammen eine Flasche trinken, sollte mich das nicht wundern. Du willst, dass ich deine Kompanie zusammenrufe, jetzt? Letzte Nacht ist der König gestorben, Kommandant – ich glaube kaum, dass deine Männer heute irgendeinen Drill erwarten!“

Canohando setzte sich auf die Tischkante, verschränkte die Arme und starrte unter gesenkten Brauen auf den jungen Mann hinunter. „Wenn du eine große Stadt angreifen wolltest, welche bessere Möglichkeit gäbe es dafür am Tag nach dem Tod des Königs? Die Verteidiger von Gondor haben keine Zeit, betrunken zu werden; es ist die rechte Zeit für Wachsamkeit. Nun ruf meine Männer: sie werden heute gedrillt, ob sie es nun erwarten oder nicht.“ 

Doch als die Kompanie versammelt war – nicht in allerbester Laune, da ihnen der Freigang gekürzt wurde – unterzog Canohando sie einem Drill, wie sie ihn noch nie erlebt hatten. Während er auf sie wartete, hatte er einen kunterbunten Haufen Männer unter denen zusammen gesucht, die auf dem Feld herumlungerten, indem er ihnen einigen Zeitvertreib versprach. Sie waren gelangweilt, viele von ihnen waren schon angetrunken und reif für einen Streich. Die Kompanie der Königin hatte sich gerade einmal auf dem Übungsfeld aufgereiht, als ihr Kommandant mit einem Schrei mitten unter sie sprang.

„Ihr werdet angegriffen!“ bellte er. „Die Orks sind über euch!“ Und Canohando führte seine zusammen gewürfelte „Orkbande“ in ein vorgespieltes Scharmützel, das die Kompanie aus ihrer mürrischen Stimmung riss und sie zwang, eine Schlacht zu schlagen, so echt, wie sie mit stumpfen Übungswaffen nur möglich war; tatsächlich wären sie vielleicht vom Feld vertrieben worden, wenn ihr Kommandant nicht nach der Hälfte der Zeit die Seiten gewechselt und mit ihnen gegen die „Orks“ gekämpft hätte. Als es vorüber war, saßen sie erschöpft auf dem Boden herum und Canohando ging zwischen ihnen hindurch, sagte ein leises Wort zu diesem Mann oder jenen und ließ seine Hand für einen Moment auf seiner Schulter ruhen.

„Das war nicht übel,“ sagte er endlich so laut, dass alle es hören konnten. „Aber ihr könnt nicht darauf warten, dass ich euch sage, was ihr tun sollt – was würde aus euch werden, wenn ich falle? Und haltet die Augen offen, denn ihr wisst nicht, wann ein Feind sich geradewegs aus den Steinen erhebt!“

Plötzlich drehte er sich um und fiel über den Soldaten her, der ihm am nächsten war. Er hielt die Arme des Mannes fest, während er blitzschnell sein Messer zog. Aber bevor er es zur Kehle des Mannes heben konnte, hatte sich der Mann aus seiner Umklammerung gewunden und sein eigenes Messer gezogen; er hatte die Füße unter sich, war zusammen gekauert und verteidigungsbereit.

Canohando lachte und ließ seine Waffe zurück in die Scheide gleiten. „Gut!“ rief er aus. „Du wirst leben, deine Enkelsöhne sehen und ihnen beibringen, wie sie ihrerseits Orks bekämpfen müssen... bis diese Art Kriegskunst eines Tages nicht mehr nötig ist.“ Er blickte sich eindeutig erfreut unter seiner Kompanie um, und viele der Männer grinsten zurück, erwärmt durch den Lobpreis ihres barbarischen Kommandanten.


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