Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Vierzehn
Die Stillen Straßen

Eine Woche später nahmen der König und die Königin das Mittagessen allein in ihren Gemächern ein. Die Tabletts wurden herein getragen und alles wurde auf dem Rosenholztisch angerichtet, aber Arwen rührte sich nicht von dem Sofa am Feuer fort, auf dem sie ruhte, den Kopf auf einem Kissen.

„Komm, Geliebte,“ sagte Elessar, nahm ihre Hand und half ihr sanft, aber bestimmt, aufzustehen. „Du wirst später nichts essen, das weiß ich, und ich möchte nicht, dass du vor Hunger in Ohnmacht fällst. Iss ein letztes Mal mit deinem Elbenstein, und wir werden auf die Jahre unseres Glückes trinken und dankbar sein, wenn wir schon nicht fröhlich zu sein vermögen.“

Canohando hatte im Vorraum herum gelungert. Ganz Minas Tirith wusste, dass dies der angekündigte Tag war, und überall in der Stadt trauerte das Volk, still in seinen Häusern oder trunken in den überfüllten Tavernen. Der Ork schlüpfte hinter den Servierpagen in das Esszimmer; er sehnte sich nach einem kurzen Blick auf seine Herrin, und Elessar rief ihn zu sich herüber.

„Du musst darauf sehen, dass sie etwas zu sich nimmt, wenn ich fort bin, Canohando. Wenn sie traurig ist, vergisst sie zu essen.“

Der Ork betrachtete den König mit Trauer und Verwunderung. Er sagt, dass er in ein paar Stunden tot sein wird, obwohl sich an ihm keine Wunde findet, und auch keinerlei Schwäche. Und alles, woran er denken kann, ist der Trost der Herrin...

„Ich werde für sie sorgen, Herr.“ Er drückte die Faust gegen sein Herz. „Du musst keine Angst um sie haben, König von Gondor. Vertrau mir darin.“

Die Augen des Königs prüften ihn, und der Ork stand ein wenig aufrechter.

„Ich vertraue dir,“ sagte Elessar. „Geh jetzt selbst und hol dir etwas zu essen, Canohando. Bei Sonnenuntergang brechen wir auf.“

Canohando ließ sich selbst hinaus und schloss die Tür so leise hinter sich, wie er konnte. Er war nicht daran gewöhnt, mittags zu essen, und er ging hinaus auf den Vorhof des Weißen Baumes und stellte sich neben die Fontäne; er lauschte dem Spiel des Wassers und sah zu, wie die Sonne in den sprühenden Tropfen kleine Regenbögen malte. Heute hatte dies keine Macht, ihn zu besänftigen, und er wandte sich mit einem Seufzer ab.

Er wanderte wie zufällig umher, dachte nicht darüber nach, wohin er ging und fand sich selbst am Tor zum Übungsfeld wieder. Ein passender Ort für einen Krieger, um die Zeit herum zu bringen, dachte er. Eine Einheit von Wachleuten wurde mitten auf dem Feld gedrillt; er wich ihnen aus und ging zu der Reihe der Zielscheiben hinüber.

Er schoss den ganzen Nachmittag, schweigend und mit steinernem Gesicht, bis er eine Zielscheibe zu Lederfetzen und einem Haufen Sägemehl reduziert hatte. Endlich stand die Sonne weit im Westen, und er lockerte seinen Bogen und machte sich auf den Rückweg in den Palast, der Wachkompanie auf den Fersen, die ebenfalls in Richtung Veste marschierte.  

Minas Tirith war unnatürlich still. Es spielten keine Kinder in den Höfen, kein Brotverkäufer pries seine heiße Ware an den Straßenecken an. Es waren Leute auf den Straßen, aber sie standen reglos und wartend da, und immer mehr  Menschen schlossen sich der Menge an; sie kamen aus den Häusern oder aus kleinen Seitengassen. Canohando beschleunigte seine Schritte, um die Wachleute zu überholen; er war ängstlich darum bemüht, den Palast zu erreichen, bevor der König herauskam.

Als er zur Veste kam, fand er ein geordnetes Chaos vor. Eine mit Vorhängen verhüllte Sänfte stand auf einer Seite; ihre Träger waren in die Tracht der Wache gekleidet. Höflinge hasteten in die Gebäude, die den Vorhof säumten, hinein und wieder hinaus, mit Aufträgen, die der Ork nicht ermessen konnte. Zwei Pferde mit scharlachrotem Zaumzeug standen dicht bei der Palasttreppe, von Männern aus den Ställen gehalten. Florian stritt sich mit den Reitknechten; er bestand darauf, dass sie die Tiere nach draußen vor das Tor bringen sollten, aber sie machten keinerlei Anstalten, ihm zu gehorchen.

„Seine Majestät hat Nachricht geschickt, sein Reittier und das der Königin her zu bringen, Kammerherr, und hier sind sie. Und hier ist die Notiz, die er hinunter in  die Ställe geschickt hat.“

Florian blies sich auf wie eine wütende Taube; er sah das Papier, mit dem der Mann ihm vor dem Gesicht herum wedelte, nicht einmal an. „Ihr wisst gut genug, dass innerhalb der Veste Pferde nicht zugelassen sind! Ohne Zweifel wollte Seine Majestät, dass ihr die Pferde draußen vor dem Tor für ihn bereit haltet, und ich muss sagen, ihr habt euch einen schlechten Tag ausgesucht, um mit Gesetz und Sitte zu brechen. Nun hinaus mit euch!“

Er machte abwehrende Gesten mit den Händen, als wollte er sie in Richtung Ausgang treiben, und eines der Pferde scheute und tänzelte zur Seite. Der Mann, der die Stute am Zügel hielt, beruhigte sie mit Mühe, und der andere Reitknecht starrte Florian in wildem Zorn an. „Hüte du wieder deine Tür, Kammerherr,“ sagte er; seine Stimme bebte vor Intensität, aber sie blieb leise, um die Pferde nicht noch mehr aufzuregen. „Seine Majestät reitet an diesem Tag aus, um sich zu seinen Vorvätern zu versammeln, und er wird sein Pferd vor der Tür bereit finden!“

Canohando stand da und lauschte; er hielt sich allen aus dem Weg. Orks hätten sich inzwischen geprügelt, dachte er. Selbst wenn sie zornig sind, sind sie friedfertiger als wir, selbst Narren wie dieser kleine Kammerherr.

Ein Trompetenstoß machte dem Streit ein Ende, und jedermann blieb stehen, wo er war und wandte sich den Palasttüren zu. Elladan und Elrohir kamen die marmornen Stufen hinab, Seite an Seite, die Augen geradeaus. Als sie unten angekommen waren, kam Prinz Eldarion aus dem Palast und ging allein hinunter. In kurzem Abstand folgten hinter ihm seine beiden Schwestern, am Arm ihrer Ehemänner. Es gab eine Pause von mehreren Herzschlägen, und dann erschienen der König und die Königin auf der Schwelle.

Arwen war ganz in Schwarz, ihr Gesicht so weiß, dass es blutleer zu sein schien; sogar ihre Lippen waren bleich. Trotzdem hielt sie sich stolz aufrecht, die Hand in der Armbeuge des Königs, mit Würde, und nicht so, als hätte sie seine Stütze nötig. Und der König trug ein Kettenhemd aus gehämmertem Gold über seiner Tunika, als ritte er zu einem Turnier und nicht zu seinem letzten Schlaf; unter der geflügelten Krone der Seekönige war sein Gesicht ernst, aber gelassen. 

Er schaute auf den Vorhof hinaus und auf das Volk, das sich dort versammelte, aber sein Blick verweilte auf dem Weißen Baum neben seinem Springbrunnen. Es war der erste März, und der Baum fing an zu knospen.

„Nun ist das Königreich wiederhergestellt, und ein König folgt dem anderen, Generation für Generation, wie es von Alters her war,“ sagte er, und seine Stimme drang klar und deutlich zu jeder einzelnen Person, die anwesend war. „So wie ihr mir treulich gedient habt, gebe ich euch den Auftrag, meinem Sohn zu dienen, auf dass Gondor blühe und gesegnet sei. Nun lege ich mich zur Ruhe, und die Dämmerung wird einen neuen König sehen, der in Minas Tirith regiert. Kommt dann morgen zur dritten Stunde in die Halle der Könige und huldigt Eldarion, meinem Sohn. Was mich angeht, so wünsche ich euch Gute Nacht.“

Er machte sich auf den Weg die Stufen hinunter, die Königin an seiner Seite, und unten half er ihr auf ihr Pferd, bevor er sein eigenes bestieg. Die Wachleute, an denen Canohando zuvor auf der Straße vorbei gekommen war, nahmen ihre Plätze vor und hinter dem König und der Königin ein, als Ehrenwache, aber die Brüder der Königin gingen gemeinsam mit Eldarion und seinen Schwestern voraus, und von der Seite her schlossen sich zwei weitere an; der Zwerg Gimli und der Elb, der sein Freund war. Aber als sie dort vorbei kamen, wo Canohando stand, rief Legolas ihn leise an. 

„Komm, Schatten der Königin, du marschierst mit uns.“ Und Canohando blickte verblüfft auf und beeilte sich, neben den beiden in Gleichschritt zu fallen. 

Sie gingen durch das Tor, aus der Veste hinaus, und wandten sich nach Westen. Hinter den Rängen der Wache kam eine Volksmenge, die im Vorhof gestanden hatte, still und mit großen Augen; manche von ihnen hielten sich fest an den Händen, wie Kinder, denen man den Vater geraubt hatte.

Als sie nach Fen Hollen kamen, dem Tor zu den Gräbern, trat der Sohn des Königs dem Türhüter entgegen.

„Gib den Weg frei,“ sagte er, „denn der König kommt und sucht nach Ruhe.“ Und der Hüter schloss das Tor auf und öffnete es weit, und sie gingen hinein. Aber als die letzten Wachleute das Tor erreichten, drehten sie sich zu den Leuten um, die ihnen folgten und hielten sie auf.

„Der König hat Gute Nacht gesagt,“ sagte der Hauptmann zu der Menge, und seine Stimme war tränenerstickt. „Geht jetzt nach Hause, und morgen wird euch der neue König einen guten Morgen wünschen.“ Er wartete mit seinen Männern, bis die Menge anfing, sich abzuwenden und davon zu driften; dann traten die letzten Wachleute durch das Tor und der Hüter verriegelte es hinter ihnen.

Während sie der Straße hinunter folgten, ging die Sonne unter, ein flammendes Karmesin, das den Himmel in Brand setzte und ein rosiges Licht auf die bleichen Kuppeln und Pfeiler am Weg warf. Es gab kein Geräusch außer den gemessenen Fußtritten der Wachleute auf dem Marmorpflaster. Und dann erhob sich eine Stimme aus der Mitte des Gefolges; eine Frau, die eine Totenklage in der uralten Elbensprache sang. Ihr Lied war von solcher Trauer, dass es ein Herz aus Adamant gebrochen hätte, und trotzdem wunderschön. Die Stiefel der Soldaten schlugen ein feierlichen Rhythmus, und Arwens Stimme stieg darüber auf... und Canohando ballte im Gehen die Fäuste, damit er sich nicht auf die kalten Steine am Straßenrand setzte und in hemmungslosem Kummer aufheulte.

Endlich kamen sie zum Haus der Könige. Arwen schwieg jetzt, und die Wache teilte sich zur Rechten und zur Linken auf und stand in Habacht. Der König glitt von seinem Pferd hinunter und half seiner Herrin beim Absteigen, ehe er sich denen zu wandte, die diese Prozession voran geschritten waren.

Er umarmte den Elb zuerst... Legolas, der ihm in vielen Gefahren beigestanden hatte, und dann Gimli; was er ihnen ins Ohr flüsterte, war für sie allein bestimmt und sie wiederholten es niemals. Dann kam er zu dem Ork.

„Es scheint als wärst du der Hüter des Schatzes,“ sagte er. „Frodo hat dir einen Edelstein anvertraut, und jetzt überlasse ich es dir, den Schatz meines Herzens zu bewachen. Lass mich nicht im Stich, Canohando.“

Der Ork kniete nieder und langte nach den Händen des Königs, um sie zu küssen, aber Elessar zog ihn auf die Füße, „Ich weiß, du wirst nicht versagen,“ sagte er und umarmte den Ork. „Du bist Frodos Bruder, so reinen Herzens, wie er es war. Bewache sie, bis sie dich nicht mehr nötig hat, und der Segen Aragorns möge immerdar auf dir ruhen.“ 

Er wandte sich um und nahm einmal mehr Arwens Hand; mit seiner Familie durchschritt er die schmale Tür zur Gruft der Könige von Gondor.

Das Licht des Sonnenuntergangs verblich, und auf der Straße wuchsen Schatten in die Länge. Canohando stand bei Gimli und Legolas, und für eine Weile sagte niemand etwas. Endlich sagte Gimli: „Meriadoc und Peregrin wurden dort drin zur Ruhe gelegt, nicht? Sie sind weit weg von daheim.“

„Weit weg, in der Tat, aber wenigstens sind sie beisammen.“ erwiderte Legolas, und als er den verwirrten Blick des Orks sah, fügte er hinzu: „Vettern des Ringträgers, die unter unseren Gefährten waren. Vielleicht hat dir Frodo von ihnen erzählt.“ 

Begreifen dämmerte. „Sie gingen zu den Ents,“ sagte der Ork. Er lächelte leicht. „Neunfinger sagte, sie wären groß geworden.“ 

Gimli gab ein kleines, schnaubendes Lachen von sich, blickte sich um und unterdrückte es rasch. „So könnte man es ausdrücken – für einen Hobbit! Sie waren jedoch noblen Herzens; es ist passend, dass sie bei den Großen von Gondor liegen. Frodo sollte auch hier sein.“

„Er ist glücklicher, zu Hause im Auenland zu schlafen,“ sagte Legolas leise. „Rath Dínen ist zu still für ihn; er würde sich Vogelgesang rings um sein Grab wünschen, und Eichhörnchen...“

Danach sprachen sie nicht mehr, und die Straße war so still wie ihr Name. Die Wachen standen immer noch in ihren Rängen, aber nicht länger in starrem Habacht. Die Nacht fiel heran und Sterne kamen blinzelnd heraus, immer ein paar einzelne zugleich, bis der Himmel von Licht gesprenkelt war. Canohando setzte sich auf die Steinstufen nieder und starrte zu ihnen hoch. 

Hält die gesamte Stadt den Atem an, während der König stirbt? Wie lange wird es dauern, ohne Wunde oder Krankheit? Yarga brauchte eine Stunde dafür, überströmt von Blut...

Er schloss die Augen und versuchte, die Erinnerung an Yargas Gesicht auszublenden, verzerrt vor Pein; das leise Stöhnen, das der Ork zu unterdrücken versuchte. Canohando hatte Verbände auf die entsetzliche Wunde gepresst, um die Blutung zu stillen, aber er war nicht imstande gewesen Yargas Qualen zu lindern. Jetzt fragte er sich, wieso er es nicht mit einem gnädigen Stich seines Messers beendet hatte, aber er hatte sich nicht gestattet, zuzugeben, dass Yarga im Sterben lag; er war entschlossen gewesen, ihn zu retten.

Ich hoffe, der König hat keine Schmerzen. Mögen die Valar geben – aber würden die Valar zulassen, dass er sie wegen irgendetwas anrief? Was hatte die Herrin ihm gesagt – er war dem Einen bekannt ...

Macht, dass er einen leichten Tod stirbt, dachte er. Zeigt ihm Gnade, wie er sie mir erwiesen hat.


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