Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Zwölf
Von denen, die gerufen sind

Canohando hielt jeden Tag nach Miko Ausschau, wenn er in die Küchen ging, aber er bekam das Kind nicht zu sehen. Endlich fragte er nach ihm, und Mikos Großvater blickte unbehaglich drein.

„Seine Mutter will ihn nicht herkommen lassen, meine närrische Schwiegertochter! Sie hat Angst vor dir. Es tut mir Leid.“

Ich hätte damit rechnen sollen, dachte der Ork, aber in Wahrheit hatte er das nicht getan. Er nahm sein Fleisch und setzte sich zum Essen, ohne zu antworten. Der gebratene Hammel hatte appetitlich gerochen, als er zuerst hereingekommen war, aber jetzt war er in seinem Mund geschmacklos und trocken. Er schlang ihn trotzdem in sich hinein, knackte die Knochen mit den Zähnen, als er fertig war, und saugte das Mark aus. Nahrung war Leben; ein Ork wies keine Mahlzeit zurück, selbst wenn ihm die Brust schmerzte, als hätte man ihn mit dem stumpfen Ende eines Speeres geschlagen.

Der Mann sprach immer noch, „Miko war enttäuscht; er hat versucht, sie zu überreden, aber sie wollte nicht hören. Sein Vater ist im letzten Krieg gestorben, da lag der Junge noch als Säugling in ihren Armen – seine Mutter glaubt, er sei immer noch ein Säugling.“ In Jorams Stimme klang Wut, und Canohando betrachtete ihn neugierig. Wieso war der Mann wütend?

Für einen Moment begegneten sich ihre Augen; dann schaute Joram weg. Als ob er die Gedanken des Orks gelesen hätte, sagte er: „Der Junge mag dich, und es würde ihm gut tun, wenn du ihm das Schießen beibrächtest. Seine Mutter verhätschelt ihn, und er ist viel zu viel mit Frauen zusammen.“

Canohando grunzte und langte nach seinem Bierhumpen. „Unterrichte ihn selbst,“ sagte er. Er nahm einen großen Schluck und fügte hinzu: „Er ist ein tapferer Welpe. Ich hätte ihm gern etwas beigebracht.“

Er reichte Joram den leeren Humpen und verließ die Küche. Als er wieder nach oben kam, fand er die Königin und Elessar in ihren Gemächern, und ihre Brüder sowie Eldarion waren bei ihnen. Der Ork lungerte an der Wand neben der Tür, bohrte sich mit dem Fingernagel in den Zähnen und fragte sich, ob er wohl draußen im Vorhof irgendwann in Miko hinein rennen würde, aber der König winkte ihn zu sich hinüber.

„Das hier betrifft dich, Schatten der Königin; du solltest es besser hören.“

Er stellte sich neben Arwen. Sie saß sehr aufrecht in ihrem Sessel, bleich wie Sternenlicht, das Kinn erhoben. „Ich werde eine Reise machen, Canohando, in einem Monat vielleicht; das hängt vom König ab.“ Sie warf Elessar einen brennenden Blick zu, Flehen und Kummer und Enttäuschung, alles gleichzeitig, und Canohando dachte, dass es an diesem Tag im Palast wohl keinen Frieden gab, weder in seinem eigenen Herzen noch irgendwo sonst.

„Frau Abendstern...“ sagte der König, als riefe er sie vom Rand einer Gefahr zurück. Er wandte sich an den Ork. „Canohando, ich bin sterblich. Zu allen Menschen kommt schließlich das Ende, und mein eigenes Ende nähert sich. Die Königin wird nach meinem Dahinscheiden nicht in Gondor bleiben, auf eigenen Wunsch...“

„Ich werde zum Goldenen Wald gehen,“ unterbrach ihn Arwen. „Unter den Mallorns werde ich mich dem Geschick der Menschen beugen, in dem Land, in dem ich jung gewesen bin. Gondor habe ich um deinetwillen geliebt, Estel, aber Lothlórien ist meine Heimat.“

Eldarion schaute drein, als hätte er Schmerzen; er kam und legte ihr einen Arm um die Schultern, und sie lehnte sich an ihn. „Mutter, willst du nicht bleiben und unser Abendstern sein, bis zum Letzten? Ich kann Minas Tirith nicht binnen eines Monats nach meiner Krönung verlassen, und doch ist mir das Herz wund bei dem Gedanken an dich, allein und so weit fort, unter der schwindenden Bäumen! Du hast meine Onkel gehört: Lórien ist nicht mehr das Land, das du gekannt hast... sogar die Mallorns sterben.“

Sie langte nach oben und ergriff seine Hand. „Der letzte Glanz eines ganzen Zeitalters stirbt, mein Sohn. Der letzte der Númenorer, dein Vater... die Mallorns schwinden dahin, und die Letzten meines Volkes, die noch übrig sind, gehen in den Westen und folgen jetzt, ganz am Ende, dem Ruf. Nun ist es dein Zeitalter, das Zeitalter der Herrschaft der Menschen. Du wirst der erste König einer neuen Ära sein, und ganz sicher kannst du die Veste deines Königtums nicht im Stich lassen! Was würde es auch nützen, wenn du mit mir kämst? Ich habe Lúthiens Wahl getroffen, und ich werde nicht umkehren. Ich gehe nur in den Goldenen Wald, um Abschied zu nehmen.“

„Es ist ein langer Weg.“ Die Stimme des Königs war düster. „Lang, und nicht ohne manche Gefahr. Der Fangornwald liegt an der Strecke, und Elrohir sagt mir, dass es in den Bergen noch immer ein paar Orkbanden gibt, nördlich des Limklar. Sie könnten von Zeit zu Zeit Raubzüge in die Ebenen unternehmen.“

Canohando stand da und hörte zu; er begriff nur halb, worum es ging. Er hatte nie von Lúthien gehört, aber der König würde bald sterben, soviel verstand er, und die Königin hatte den Wunsch, nach Lothlórien zu gehen.

Er ergriff das Wort. „König von Gondor, gib mir nur einen Führer, der den Weg weiß, und zwanzig Wachen, die mir zur Seite stehen, wenn es nötig wird – ich werde die Herrin sicher nach Lórien bringen, oder die Vergeltung mag mich treffen!“

Er wich nicht vor dem Blick zurück, den der König auf ihn richtete. „Sie wird sicher in den Goldenen Wald kommen, Herr; ich schwöre es!“

Der Ork war einen Kopf kleiner als alle anderen im Raum, aber niemand lächelte. Eldarion und die Brüder der Königin hatte ihn nicht in Aktion gesehen, aber sie hatten die Geschichte gehört; während sie ihn jetzt anschauten, mochten sie wohl glauben, dass er im Kampf furchterregend war. Sein Gesicht war hart, und Drohung schien von ihm auszustrahlen, wilde Kraft und Schnelligkeit, an der kurzen Leine gehalten.

„Danke, Lieber,“ sagte Arwen leise. „Wir werden Wachen finden, die dir beistehen, wenn es nötig ist.“

Der König betrachtete prüfend die Gesichter von Eldarion und den Zwillingen. „Nun? Werdet ihr die Königin seinem Schutz anvertrauen?“

Elladan bewegte sich rastlos hin und her, nahm kleine Gegenstände von einem Beistelltisch und stellte sie wieder hin. „Ich würde ihm trauen,“ sagte er. „Ich würde ihm trauen, und doch finde ich in mir nicht die Ruhe, meine Schwester beraubt und allein nach Lórien reisen zu lassen, mit nicht mehr zur Gesellschaft als einen Ork und eine Kompanie Wachen! Wenn du entschlossen bist zu gehen, Arwen, dann gehe ich mit dir, und ich werde bleiben, bis du mich nicht mehr brauchst.“

„Elrohir, wirst du hier bei meinem Sohn bleiben?“ fragte der König. „Ich hätte gern jemanden, dem ich trauen kann, an seiner Seite, in diesem ersten Jahr seiner Regentschaft.“

Elrohir seufzte. „Ich bleibe bei ihm. Du wirst nach Minas Tirith zurückkommen, Bruder, wenn du in Lórien fertig bist?“ Ein Blick ging zwischen den Zwillingen hin und her; Zweifel auf der anderen und Zusicherung auf der anderen Seite.

„Ich werde zurückkommen,“ sagte Elladan. „Zu welchem Schicksal auch immer, wir gehen gemeinsam, es sei denn, dass tatsächlich irgend ein Übel auf der Reise es verhindert.“

„Aber ich werde keine Wachleute schicken, die an den leichten Dienst hier in der Veste gewöhnt sind,“ sagte der König. „Eine vollständige Kompanie Soldaten, in der Schlacht erfahren, und der Hauptmann muss jemand sein, der unter Canohandos Befehl dienen wird. Der Ork hat bei seinem Leben gelobt, Undómiel sicher heimzubringen, und er muss das Kommando über seine Männer haben.“

Canohando zog die Brauen zusammen. „Ich denke, du wirst lange suchen, König von Gondor, ehe du einen Hauptmann findest, der meine Befehle entgegen nimmt.“

Elladan legte dem Ork eine Hand auf die Schulter. „Ich werde der Hauptmann sein, und ich werde deiner Führung bei diesem Unternehmen folgen, wenn du mir gestattest, dir zu raten, wo es nötig scheint. In dieser Sache wenigstens sind wir eines Herzens – die Königin sicher zu bewachen.“ Er wandte sich an den König. „Wirst du mit mir kommen und eine Kompanie für diese Mission auswählen, Estel? Denn du kennst deine Männer immer, beim Namen und durch ihren Ruf, und ich möchte, dass du die, die wir mitnehmen, handverliest.“

„Ich komme. Bis du es zufrieden, Canohando, Elladan an deiner Seite zu haben? Ich würde dir keinen Hauptmann aufzwingen wollen, der dir nicht passt; es steht zu viel auf dem Spiel.“

Der Ork nickte. „ Ich werde froh sein, den Bruder der Königin bei mir zu haben, Herr. Deine Soldaten werden ihm gehorchen, wie sie es bei mir nicht täten, und wir beide gemeinsam werden die Herrin heimbringen.“

Dann zogen Elladan und der König aus, um Soldaten für die Reise zu wählen. Eldarion küsste seine Mutter und ging mit Elrohir, um sich mit dem Kanzler des Königs zu treffen, denn Eldarion musste sich nun mit den Angelegenheiten von Gondor vertraut machen, nach seinen Jahren im Nördlichen Königreich. Arwen sank an der Rückenlehne ihres Sessels zusammen, die Augen geschlossen; ihre Wimpern zeichneten dunkle Halbmonde auf ihre Wangen.

„Herrin, trink das hier.“ Canohando ließ sich neben ihrem Sessel auf einem Knie nieder und hielt ihr ein Glas Wein hin. „Wenn ich dich gegen diesen Kummer schützen könnte – aber das kann ich nicht - “

Arwen nahm das Glas und nippte daran. „Ich bin froh, dass du hergekommen bist, Canohando. Mein Gatte vertraut dir, und das tröstet ihn.“

„Vertraust du mir, Herrin?“

Sie berührte seine Wange. „Du kennst die Antwort darauf, Lieber. Wir haben die Neige des Weines erreicht, Estel und ich, aber selbst jetzt noch vermute ich, dass die Mächte einen Tropfen Gnade in den Kelch gegossen haben. Es war Frodos Treue, die unser Glück erkauft hat, und jetzt scheint es, als wärst du zu guter Letzt zu uns gesandt worden...“

Er setzte sich auf den Boden zu ihren Füßen. „Herrin, wer ist Lúthien? Du hast gesagt, du hättest ihr Schicksal gewählt, aber ich habe ihren Namen noch nie gehört.“

Als sie ihm jedoch die Geschichte erzählt hatte, war er lange Zeit still. „Du bist ein Elb,“ sagte er endlich. „Und du hast dich selbst – unelbisch gemacht, für den König. Genauso, wie Lúthien es getan hat – ihr habt beide Euer Erbteil aufgegeben.“

„Ja, das ist es, was wir getan haben, um der Liebe willen.“

„Meine Vorfahren waren Elben,“ sagte er. „Sie haben ihr Erbteil verloren, aber nicht für die Liebe; es wurde ihnen abgenommen. Was ist dieser Ruf, von dem du gesprochen hast, Herrin... dem den Volk jetzt, ganz am Ende, folgt?“

„Der Ruf nach Valinor, in das Segensreich. Viele der Erstgeborenen, die noch in Mittelerde sind und bis jetzt unwillig waren, werden nun ein Schiff besteigen. Legolas wird gehen, nehme ich an... der, dem du mit dem Zwergen Gimli begegnet bist.“

„Du hast gesagt, ich bin einer der Erstgeborenen, aber ich werde nicht nach Valinor gerufen.“ Canohandos Stimme war trostlos. Wie nie zuvor begann er die Tragödie seines ruinierten Volkes zu begreifen.

„Nein, Lieber.“ Arwen berührte den Juwel, der um seinen Hals hing und rückte ihn so zurecht, dass er mitten auf seiner Brust lag. „Nicht nach Valinor, aber du wurdest zu mir gerufen, und ich denke, auch in Frodos Land, nachher. Du bist bekannt, und die Änderung deines Herzens ist bekannt – der Eine, der den Ainur Musik schenkte, wird dich nicht beschämen.“

Wie ein Kind saß der Ork zu ihren Füßen, und sie liebkoste seinen Kopf, als wäre er tatsächlich eines; sie zog ihre Hand nicht von den steifen, eingeölten Zöpfen zurück, und nach einer Weile sang sie leise vor sich hin, ein Wiegenlied, das sie vor vielen Jahren ihren Kindern vorgesungen hatte.


Top          Nächstes Kapitel          Stories          Home