Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Elf
Das Schicksal der Erstgeborenen

Bis zum heutigen Tag würde Canohando gesagt haben, dass all sein Verlangen erfüllt war. Vom Morgen bis zur Nacht folgte er den Schritten der Königin, und sie lächelte ihm zu und plauderte ein wenig mit ihm. Er badete in ihrer Gegenwart wie eine Pflanze in der Sonne und bat nur darum, dass ihr Licht auf ihn fallen möge. Aber das unschuldige Zutrauen des jungen Miko hatte die alte Wunde aufgerissen – seine Kinderlosigkeit – und heute beobachtete er seine Herrin mit Herzweh und gierte nach etwas Balsam für seinen Schmerz.

Vielleicht war das der Grund, wieso er sah, dass sie litt, wo er es zuvor nicht wahrgenommen hatte. Elladan und Elrohir saßen da und sprachen mit gesenkten Stimmen zu ihr, die nicht bis zu seinem Ende des Zimmers trugen, und sie waren ernst, aber Arwens Augen wirkten in ihrem Gesicht wie die Male von Schlägen, und Canohando wurde durch die Furcht um sie aus seinem eigenen Kummer aufgeschreckt.

Nach einer Weile umarmten die Zwillinge ihre Schwester und zogen sich zurück, und für den Moment war sie allein. Canohando ging zu ihr, seine schweren Stiefel leise auf dem Samtteppich, und er kniete vor ihr nieder.

„Herrin, was ist geschehen? Wer hat Leid über Euch gebracht – sagt es mir, und sie werden nie wieder in Eure Nähe kommen, ich schwöre es!“

Arwen gab ein leises Lachen von sich, das beinahe ein Schluchzen war. „Du würdest mich von mir selbst fernhalten müssen, Canohando, denn ich habe mein Leid selbst über mich gebracht. Einst erwarb ich einen großen Schatz, zu einem hohen Preis, aber erst jetzt spüre ich die Last dessen, was ich zahlen muss. Gib auf die Handel Acht, Lieber, die du abschließt, wenn du jung bist – aber nein, du bist gar nicht jung, nicht wahr?“

Sie blickte ihn an, als würde sie ihn erst jetzt wirklich sehen. Sein Haar war tödlich schwarz, ohne eine Spur von Silber, sein Gesicht hatte grobe Züge, aber keine Falten. Er war breitschultrig und muskulös, dabei aber so geschmeidig wie eine Katze.

„Wie alt bist du?“ fragte sie plötzlich, und er zuckte die Achseln.

„Orks zählen die Jahre nicht, Herrin. Ich war alt genug, in den Krieg zu ziehen, als der Hexenkönig nach Mordor kam.“

Sie legte ihm eine Hand auf die Wange. „Dann bist du einer der Erstgeborenen, und es ist unser Schicksal, die, die wir lieben, allzu schnell aus dieser Welt schwinden zu sehen. Du hast Frodo dein Herz geschenkt, und er ist fort – und bald auch mein Geliebter - “ Sie schauderte und kauerte sich zusammen, die Arme um den Körper geschlungen, als müsse sie den Kummer im Zaum halten, der drohte, sie in Stücke zu reißen. 

„Herrin...“ Der Ork kniete unter Qualen zu ihren Füßen; er zermarterte sich das Hirn nach etwas, das er tun konnte. Hier gab es keinen Feind für sein Schwert, und er wagte nicht, sie zum Trost zu umarmen. Endlich neigte er sich zu Boden und küsste ihre Füße, ehe er aufstand. „Bleibt hier, Herrin, bitte bleibt! Ich werde den König holen - “ 

„Nein!“ rief sie aus, aber Canohando war bereits gegangen.

Er fand Elessar mit zwei Besuchern im Thronsaal. Er begriff mittlerweile das ordnungsgemäße Protokoll und sprach zuerst an der Tür mit Florian; die Verzögerung war aufreibend. Der Kammerherr hätte ihn zurückgewiesen, denn er sagte, die Gäste des Königs seien zu wichtig, um unterbrochen zu werden, aber der Ork warf ihm einen so wilden Blick zu, dass der kleine Mann entsetzt zurück trat.

„Die Königin braucht ihn! Wenn Ihr mich nicht vorlasst, dann werde ich ohne Eure Erlaubnis gehen.“

Florian arrangierte seine Amtskette ein wenig kleidsamer auf seiner Brust, und blickte ihn von oben herab an. „Also schön, kommt mit – und Ihr nehmt es auf die eigene Kappe, wenn der König über Euren Mangel an Manieren zornig wird!“

Canohando packte den Mann beim Ellbogen und zerrte ihn mit sich durch die gesamte Länge der Halle, in einem Sturmschritt, der ganz und gar nicht zur Würde des Kammerherrn passte. Elessar sah sie kommen und brach die Unterhaltung mit seinen Besuchern ab. Ein Elb und ein Zwerg, bemerkte Canohando im Vorübergehen; er dachte, dass es merkwürdig sei, sie zusammen zu sehen, und dann vergaß er sie völlig.

„Sie braucht dich, König von Gondor,“ sagte er. „Sie ist in Not.“

„In ihren Gemächern?“ fragte Elessar. „Ich werde zu ihr gehen. Bleib hier, Canohando, und erzähl diesen Gäste von deinem Bruder.“ Er drehte sich auf dem Absatz um und war mit einem Wirbeln seines kurzen Umhanges verschwunden; Canohando starrte ihm nach, wollte ihm folgen und wusste, dass er es besser nicht tat.

„Sein Bruder, was?“ sagte eine barsche Stimme an seiner Schulter. „Ist ein zahmer Ork, der in Minas Tirith herumläuft, nicht genug, sondern muss er obendrein noch einen Bruder haben?“

Ein leises Lachen kam von seinem Gefährten, und Canohando wandte mühsam die Augen von dem leeren Torbogen ab, wo der König verschwunden war, um die Besucher anzuschauen, um die zu kümmern er ihm aufgetragen hatte.

„Aragorn hatte bei der Wahl seiner Freunde immer einen weiten Geist, Gimli. Dann komm, Ork, lass uns einen Platz finden, wo wir uns hinsetzen können, und vielleicht rufst du nach einem Krug Wein für zwei erschöpfte Reisende, bevor du uns von deiner Familie erzählst.“

Der Elb war hoch gewachsen, schlank und elegant, mit einem jungen Gesicht, aber er hatte die Augen von einem, der viele Jahre und viele Schlachten gesehen hatte, und Canohando kämpfte gegen den Drang an, vor ihm zu knien, wie er es vor Arwen tat. Der Zwerg war kleiner als der Ork, aber zweimal so breit, und er trug eine Kriegsaxt am Gürtel. Er warf dem Ork einen finsteren Blick zu.

„Wein für den Elb, und Bier für mich. Wo gehen wir hin, Ork?“

Canohando führte sie hinaus in den Vorhof des Weißen Baumes; er hielt an der Tür an, um Florian zu sagen, dass er ihnen Erfrischungen bringen sollte. Der Kammerherr zeigte ihm die kalte Schulter. „Ja ja, ich weiß, was getan werden muss; ich brauche keinen grauen Ork aus Mordor, um mich meine Pflichten zu lehren! Geh und unterhalte sie, da der König es nun einmal befohlen hat, und lass mich in Frieden.“

Canohando zog eine Grimasse und wünschte sich, er wäre frei, zur Königin zurückzukehren. Der König wird für sie sorgen, du Narr, besser als ein grauer Ork aus Mordor! schalt er sich. Er brachte dem Elb und dem Zwerg zwei Stühle, die immer im Schatten des Baumes standen, aber er selbst setzte sich ins Gras, die Hände flach auf dem Boden. Die Berührung der lebendigen Erde beruhigte ihn und schenkte ihm Trost, und dann erinnerte er sich an den Juwel um seinen Hals. Seit er täglich in der Gegenwart der Herrin lebte, befingerte er ihn nur noch selten, aber nun rieb er ihn über seine  Lippen, während er zu diesem merkwürdigen Besucherpaar aufblickte.

Der Zwerg streckte die Hand aus und packte sein Handgelenk mit einem Griff wie aus Eisen, sein Gesicht nur Zentimeter entfernt. „Wo hast du das her?“ verlangte er wütend und misstrauisch zu wissen. „Als ich den Edelstein zuletzt sah, hing er an der Kehle von Frodo Beutlin; wie bist du daran gekommen?“

Der Elb hatte sich halb erhoben. „Langsam, Gimli, lass ihn antworten! Hier ist irgendein Geheimnis, das ich gern enträtselt sehen würde.“

Canohando hatte sich versteift, als der Zwerg ihn am Handgelenk packte; seine andere Hand hob sich unwillkürlich bis fast zu Gimlis Schulter, bevor er sich zusammennahm und sie zurückzog. Er konnte diesen aufgeblasenen Ochsen leicht nieder werfen; es brauchte nur eine gewisse Berührung in der Nähe des Zwergennackens – nein, dachte er, ich bin der Schatten der Königin, und diese Kreatur ist keine Bedrohung für sie -

„Frodo Neunfinger hat mir den Juwel gegeben,“ sagte er ruhig. „Mein Bruder, mein Lichtträger.“

Gimli grunzte, ließ den Edelstein fallen und lehnte sich zurück. „Das solltest du besser erklären, Ork.“

Aber sie saßen alle beide wie gebannt da, während Canohando die Geschichte erzählte. Diener kamen mit Wein und Bier, mit kleinen, heißen Broten, dünn geschnittenem Räucherlachs und Kugeln aus süßer Butter; der Elb und der Zwerg aßen geistesabwesend, gepackt von den Szenen, die der Ork für sie mit seinen Worten malte.

Während sie ihn zuhörten, vergaßen sie ganz, welcher Rasse er entstammte. Wenn er von seinem Kümmerling sprach, wurde er beredsam, und sie konnten Frodo beinahe sehen, wie er mit dem Sternenglas in der Hand die Soldaten von Gondor nieder starrte, die die Orks sonst erschlagen hätten – Frodo auf dem Turm, wie er gelobte, Seite an Seite mit Canohando der Finsternis entgegen zu treten – Frodo, der in den Bergen mit dem Bogen jagte, den Lash für ihn geschnitzt hatte. 

„Wir wurden Brüder,“ endete Canohando schließlich; er hielt ihnen seine Hand mit der Handfläche nach oben hin, damit sie es sahen. Der Elf umschloss die rauhäutigen Finger mit seinen eigenen, glatten Händen.

„Ich bin Legolas Grünblatt, einer der Gefährten des Ringträgers auf der Fahrt. Ich glaubte, den Hobbit zu kennen, aber du hast mir gezeigt, dass es sogar noch mehr an ihm gab, als ich es wusste. Ich bin froh, dir begegnet zu sein, Frodos Bruder.“

„Und ich auch,“ grummelte Gimli. Er räusperte sich. „Ich hätte geschworen, ich würde meine Hände nie mit denen eines Orks kreuzen,  es sei denn in der Schlacht, aber wenn du Frodos Bruder bist – und ich sehe, das bist du – dann ist Gimli dein Freund.“

Wieder packte er Canohando am Handgelenk, aber diesmal war es ein Salut, und der Ork erwiderte ihn.

„Und er hat dir den Juwel gegeben,“ sagte der Zwerg staunend, „Mir wollte er nicht einmal erlauben, ihn zu berühren – er muss dich wirklich geliebt haben!“


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