Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Zehn
Ein Ork im Palast

Canohando war der ersten Kompanie der Wache zugeteilt worden, damit er einen Platz in der Messe und in den Quartieren hatte, obwohl er während der gesamten Zeit, die er dort verbrachte, niemals dort schlief. Der König hatte ein kleines Kabinett außerhalb des Vorraumes gefunden und befohlen, dass man ihn leer räumte; es gab Platz genug für die Matte des Orks und seine wenigen Habseligkeiten, und dort schlief er, allzeit bereit, seiner Herrin zu folgen. 

Er musste allerdings essen, und Arwen hatte befohlen, dass man ihm Mahlzeiten servierte, wann immer er danach fragte, ungeachtet der üblichen Öffnungszeiten der Messe. Er verfiel in die Gewohnheit, in die Küche zu gehen, während König und  Königin gemeinsam beim Frühstück waren, und noch einmal am Abend, wenn sie in den Gärten spazieren gingen. Er nahm kommentarlos entgegen, was ihm gegeben wurde, setzte sich in einem sonnigen Winkel auf den Fußboden, um zu essen, und beobachtete das lebhafte Kommen und Gehen in den Küchen. 

„Oh, er macht mich einfach verrückt, das tut er, mit dieser grauen Haut und den Zöpfen überall auf seinem Kopf, die so schmierig aussehen!“ Dies bemerkte eine der untersetzten, matronenhaften Köchinnen murmelnd zu einer anderen, und die Frauen machten einen weiten Bogen um ihn. Canohando hörte sie gut genug; er lächelte in sich hinein und erinnerte sich an Lokkas scharfe Zunge – es war Lashs Weib gewesen, das ihn gelehrt hatte, sich das Haar zu flechten und es mit Bärenfett einzuölen, damit es ordentlich blieb und ihm nicht in die Augen hing. Aber Lokka war eine Stammesfrau von Núrn gewesen, nicht eine Bürgerin der Stadt des Königs.

Allerdings hörte auch einer der Männer, der sich um die Bratspieße kümmerte, die Bemerkung und sah das Lächeln, und er erwärmte sich für den Ork. Joram war sein Name, ein Mann von etwa fünfzig Wintern, der in seiner Jugend mit dem König gegen Harad marschiert war. Ihm fiel auf, dass Canohando Fleisch mehr schätzte als jedes andere Essen, obwohl der Ork nie um etwas Bestimmtes bat, und Joram fing an, einen saftigen Schenkelknochen hier und ein Rippenstück da für ihn aufzuheben. Er legte das Fleisch auf den Grill, während das Frühstück des Königs zubereitet wurde; er wusste, dass Canohando in den Küchen eintreffen würde, kurz nachdem die Tabletts ins Morgenzimmer der Königin hinauf getragen worden waren. 

„Geh und setz dich,“ sagte er dem Ork, als der hereinkam, „Ich bringe es dir.“ Und wenn er es getan hatte, blieb er und lehnte sich in der Nähe von Canohando an die Wand, während er aß. „Sie sagen, du hast den Ringträger gekannt,“ sagte er im Plauderton. 

Canohando nickte, den Mund voll mit heißem Fleisch. „Is' mein Bruder,“ sagte er, als er wieder sprechen konnte. „Frodo Neunfinger.“

Der Mann gab einen überraschten Pfiff von sich. „Nun, das ist etwas, was ich nicht gewusst habe! Ich hörte immer, er war ein Perian.“  

Canohandos Augenbrauen zogen sich zusammen, und Joram erstarrte, bereit, die Flucht zu ergreifen. „Er war kein Ork, Mann, oder was immer du sonst noch gesagt hast; er war ein Halbling. Vergesst ihr so rasch in Gondor, dass ihr euch nicht an Neunfinger erinnert? Ohne ihn würde eure Stadt in Ruinen liegen!“

Die Stimme des Orks war rau, aber Joram hörte, dass er um der Ehre des Ringträgers willen gekränkt war, und er entspannte sich wieder. „Er ist nicht vergessen,“ sagte er besänftigend. „In jedem Frühling wird zu Neujahr seine Geschichte gesungen, und alle trinken auf seinen Mut. Er ging nach Mordor hinein und rang höchstpersönlich mit dem Dunklen Herrscher, so sagt man, und er warf Sauron so heftig nieder, dass seine Festung bis in den Mittelpunkt der Erde hinab stürzte! Es kommt mir wie ein Wunder vor, dass ein Halbling so etwas tun konnte, aber so geht die Erzählung. Und du kanntest ihn?“

Canohando blickte den Mann mit offenem Mund an; in seiner Verblüffung über diese Version der Geschichte vergaß er ganz, zu essen. Endlich gab er ein schnaubendes Lachen von sich und kehrte zu seiner Mahlzeit zurück. „Nein, ihr erinnert euch nicht an ihn,“ sagte er. „Aber ich tu's, und er hat Mordor wahrhaftig herrenlos zurück gelassen, nur nicht so, wie ihr es erzählt.“ Er aß schweigend fertig, nahm einen langen Zug aus seinem Humpen und stand auf, um zur Königin zurückzukehren.

Er fing an, nach Joram Ausschau zu halten, wann immer er die Küchen betrat, denn der Mann hielt stets gebratenes Fleisch für ihn bereit, und meist blieb er und leistete ihm Gesellschaft, während er aß. Es war angenehm, jemanden zu haben, mit dem er sich unterhalten konnte, und er hörte alles über die Dienste des Mannes im Krieg mit Harad und sein Leben seither, seine Familie und sein kleines Landstück außerhalb der Stadt, wo er Pflaumen und Granatäpfel zog.

„Du solltest einmal kommen, und es dir ansehen, wenn du nicht im Dienst bist,“ sagte er dem Ork eines Tages, aber Canohando schüttelte den Kopf.

„Ich bin der Schatten der Königin,“ sagte er. „Ich verlasse sie nicht, nur lange genug, um her zu kommen und zu essen, während der König über sie wacht. Ich kann nicht zu deinem Haus gehen, Mann.“

Joram sagte nichts weiter dazu, aber als Canohando ein paar Tage später hereinkam, da drehte ein pausbäckiger Junge das Fleisch am Spieß, während der Mann dabeistand und zusah. „Das ist mein Enkel, Miko,“ stellte er das Kind vor. „Er hat Geschichten gehört über den Ork, der die Königin beschützt, und er wollte dich sehen.“

Canohando grinste und setzte sich in seiner üblichen Ecke nieder. „Gut, und jetzt hast du mich gesehen, Jüngling. Was denkst du?“

Der Knabe starrte ihn eine Weile unsicher an, dann verzog sich sein Gesicht zu einem Lächeln. „Ich denke, du bist nicht so böse, wie sie sagen. Du siehst gar nicht gefährlich aus.“

Canohando nahm sein Fleisch vom Teller und schlug die Zähne hinein. Als sein erster Hunger gestillt war, wischte er sich den Mund am Arm ab, packte die Hand des Kindes und zog ihn nach unten, bis er neben ihm saß.

„Du solltest nicht so leicht urteilen, Jüngling. Ich bin sehr gefährlich, und ich könnte dir das Herz herausreißen, während du noch darüber nachdenkst, dein Schwert zu ziehen, um dich zu verteidigen.“ Er starrte das Kind mit hartem Blick an und ließ seine Stimme drohend klingen, aber Miko wich nicht zurück.

„Das würdest du nicht machen,“ sagte er mit Bestimmtheit. „Wenn ich ein Feind wäre, dann schon, aber nicht, wenn ich bloß hier sitze. Du hast keine grausamen Augen.“

Einen Moment lang was Canohando sprachlos, und Joram kam herüber und brachte ihm einen Humpen Bier. Er nahm einen langen Zug, ehe er antwortete. „Aber du hast weise Augen, junger Miko. Nein, ich würde dir kein Leid zufügen, aber sei auf der Hut, wenn du jemals einem anderen Ork begegnest! Wir sind keine Rasse, der du trauen solltest.“ Irgendetwas steckte ihm in der Kehle, und er goss sein Bier herunter und versuchte, den Kloß hinab zu zwingen. Die Sehnsucht nach einem eigenen Sohn, über viele Jahre hinweg mit brutaler Willenskraft in Schach gehalten, war mit erschütternder Macht zurückgekehrt. Er wollte nicht noch mehr essen, er wollte flüchten... und doch wollte er auch bei diesem Kind bleiben. 

„Komm wieder her, wenn du möchtest, Jüngling,“ sagte er und stand auf. „Hast du einen Bogen?“

Der Knabe grinste. „Ja, mein Großvater hat ihn für mich gemacht. Und Pfeile auch!“

Canohando nickte zustimmend. „Das ist meine Waffe, der Bogen. Ich habe keinen hier. Bring deinen mit, und ich werde sehen, wie gut du schießt.“ 

Er ging in die Gemächer der Königin zurück und saß auf dem Fensterbrett am hintersten Ende des Raumes, während ihrer Brüder sie besuchten. Sie hatten sich inzwischen an ihn gewöhnt und damit aufgehört, ihm finstere Blicke zuzuwerfen; es war gut möglich, dass die offensichtliche Anbetung des Orks für seine Schwester sie besänftigte. Wie wild sein Haar und seine Erscheinung auch sein mochten, seine Augen folgten Arwen mit ergebener Bewunderung, und niemand, der ihn sah, konnte bezweifeln, dass er sein Leben für sie opfern würde, ohne auch nur einen Moment zu zögern.


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