Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Fünf
In den Kerkern von Gondor

„Er kann sein hitziges Gemüt für einen Monat in einer Steinzelle kühlen. Dann werde ich mein Urteil fällen.“

Der König und die Königin saßen beim Abendessen, nur sie beide allein, in ihrem privaten Speisezimmer. Arwen spielte mit ihrer Mahlzeit herum, zu abgelenkt, um etwas zu essen. „Wenn du schon entschieden hast, ihm das Leben zu nehmen, wäre es gnädiger, ihn noch heute Nacht zur Hinrichtung zu schicken. Wieso ihn einen Monat lang gefangen halten?“ 

Elessar nahm einen Schluck von seinem Wein. „Bin ich ihm Gnade schuldig? Das war ein guter Mann, den er da getötet hat, getreu, tapfer... Der Ork hat den ganzen Morgen dagesessen und uns dabei beobachtet, wie wir Audienz hielten; er hätte es besser wissen müssen, als so auf uns zuzustürzen, wie er es getan hat. Was hat er erwartet, wenn nicht ein nacktes Schwert, das auf ihn niederhieb?“

Ein Lächeln kräuselte Arwens Mundwinkel. „Hätte er sich an Florian wenden und um die Erlaubnis bitten sollen, sich dem Thron zu nähern? Denkst du, die Edelleute des Hofes hätten ihn vorgelassen?“

Der König hielt sein Gesicht ausdruckslos, aber ein belustigter Ausdruck trat in seine Augen. „Ich hätte gern gesehen, wie Florian damit zurecht gekommen wäre,“ gab er zu, aber dann war er wieder ernst. „Der Ork hat einen Mord begangen, Arwen, öffentlich in der Halle! Ich werde ihn nicht heute Nacht in den Tod schicken, denn ich möchte sorgfältig darüber nachdenken, was ich tue, aber er schuldet uns ein Leben.“ Er betrachtete sie zärtlich. „Und du würdest ihn verschonen, ich sehe es dir an. Aus welchem Grund?“

„Er ist Frodos Ork,“ sagte sie schlicht.

Elessar erhob sich und ging rastlos im Zimmer auf und ab. „So scheint es – wenigstens trägt er deinen Juwel. Aber trotz alledem ist er ein Ork, Liebste, und gefährlich, wie wir an diesem Tag gesehen haben.“

„Und wärest du nicht gefährlich, mein Geliebter, wenn du angegriffen würdest? Bist du denn nicht so gefährlich wie er? Denn du hältst sein Leben in deinen Händen, und du wirst es nehmen – wenn nicht heute Nacht, dann in einem Monat.“

Er füllte ihre Weingläser nach, ohne darauf zu antworten. „Werden deine Brüder zum Neujahrsfest hier sein, was glaubst du?“ fragte er endlich.

Drei Tage vergingen, ehe Arwen auf das Thema zurückkam, und dann sprach sie nicht mit Elessar, sondern mit dem Hauptmann der Wache. „Macht unser neuer Gast in den Kerkern irgendwelchen Ärger, Arak?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Nicht im mindesten, Herrin. Wartet der König darauf, ihn am Tag der nächsten Audienz abzuurteilen? Ich bezweifle, dass der Ork solange lebt.“

„Was? Wie ist das möglich? Wieso sollte er nicht überleben?“

Der Wachmann zuckte die Achseln. „Er isst nichts. Wasser nimmt er an, aber nicht mehr als das, und er legt auf seiner Pritsche, das Gesicht zur Wand; er nimmt niemanden wahr.“

Arwen schaute bestürzt. „Schick Nachricht nach unten, dass ich binnen einer Stunde dort bin! Was für Vorbereitungen der Aufseher für meinen Besuch auch treffen möchte, lass es ihn tun, denn ich komme hinunter.“

Sie rauschte in ihre eigenen Gemächer zurück und rief nach ihrer Kammerfrau. „Ich will einen Korb, Lareth, und Essen aus der Küche – etwas, das leicht, aber auch nahrhaft ist, einen gebratenen Vogel, denke ich, und ein paar geschälte Mandeln. Hol das für mich, und pack noch eine Flasche süßen Wein und zwei Gläser so ein, dass ich sie tragen kann.“

Die Kammerfrau starrte sie an, aber sie beeilte sich, zu gehorchen; Arwen öffnete einen Schrank in ihrem Gemach und durchstöberte das Bettzeug, das dort aufbewahrt wurde. Sie zog das eine oder andere heraus und warf es ungeduldig hinter sich auf den Fußboden. Endlich entschied sie sich für eine Decke aus gesponnener Seide, dick und weich und so gelb wie der Sonnenschein. Lareth kam zurück, den Korb in der einen Hand und ein Bündel in der anderen, das den Wein und die Gläser enthelt. Arwen warf sich einen Schal in den Farben des Regenbogens um die Schultern.

„Komm, du kannst das für mich bis zur Amtsstube des Aufsehers tragen. Einer seiner Männer wird es dir danach abnehmen.“ Sie hielt die Decke in den eigenen Armen und hastete aus dem Zimmer; ihre Kammerfrau musste rennen, um mit ihr Schritt zu halten. ---

Man wollte sie nicht einlassen. „Eure Majestät, es ist hier nicht passend für Euch – wenn Ihr einen Gefangenen befragen wollt, dann wird man ihn unter Bewachung zu Euch bringen. Der Kerker ist finster und ungesund; das ist kein Ort für eine Dame, und noch viel weniger für Euch!“

„Wenn er ungesund ist, dann ist es vielleicht Zeit für ein Großreinemachen. Und ich werde diesen Gefangenen dort sehen, wo ihr ihn untergebracht habt. Bitte bringt mich zu dem Ork.“

Man gehorchte ihr, wenn auch unter fortgesetztem Protest. Als die Nachricht nach unten gelangte, dass Arwen auf dem Weg war, hatte man Canohando hastig umquartiert – aus der verdreckten Zelle, in der er gewesen war, in eine, die nicht gar so übel war. Es gab sogar ein winziges Fenster hoch oben in der Mauer, zu klein für ihn, um sich hindurchzuwinden, selbst, wenn es nicht vergittert gewesen wäre. Niemand hatte dem Ork den Grund für den Umzug mitgeteilt, und er nahm an, dass seine Hinrichtung unmittelbar bevorstand.

Er lag mit dem Gesicht zur Wand, genau so, wie der Wachmann es ihr erzählt hatte. Sie sagte leise seinen Namen; er rollte sich herum und starrte sie an, die Augen glasig, als wäre er in einer Art Trance. Weder gab er Antwort, noch stand er auf. Er lag nur da, wo er war und blickte in ihr Gesicht, als hätte er eine Vision.

„Canohando,“ sagte sie noch einmal, das Herz verkrampft vor Mitleid. „Komm zu mir, Lieber; sie werden diese Tür nicht öffnen und mich zu dir lassen.“

„Gebt mir einen Stuhl,“ warf sie dem Aufseher neben sich zu. „Einen Stuhl, und dann lasst mich mit ihm allein.“

Sie nahm Platz, den Korb und das Bündel zu ihren Füßen, die Decke auf dem Schoß.

„Canohando,“ sagte sie mit fester Stimme. „Komm her, wo ich dich erreichen kann. Ich möchte, dass du mir von Frodo erzählst.“

Nun rappelte er sich auf, hinkte zu ihr herüber und sank dicht an den Gitterstangen seiner Zelle zu Boden.Er war schmutzig und hatte getrocknetes Blut in Gesicht und Haaren. Man hatte ihn eindeutig geschlagen, und er krümmte sich nach vorne, als täten ihm die Rippen weh. Seine Hände waren noch immer hinter ihm gefesselt, und er konnte sich nicht zurücklehnen. Er blickte zu ihr auf und seine Augen wurden ein wenig klarer.

„Mein Kümmerling,“ sagte er heiser. „Er ist mein Bruder, Herrin. Es gibt niemanden wie Neunfinger, niemanden.“

„Niemanden,“ stimmte sie zu und lächelte unter Tränen. „Lieber, dreh dich um und lass mich deine Hände losbinden. Danach sollst du mir von ihm erzählen, und wir werden zu seinen Ehren einen Trinkspruch ausbringen.“

Er betrachtete suchend ihr Gesicht; er war jetzt munterer. „Fürchtest du dich nicht davor, meine Fesseln zu lösen, Herrin? Selbst mit diesen Gitterstäben zwischen uns könnte ich hindurchfassen...“

„Sollte ich dich denn fürchten, Canohando?“

Er schüttelte so heftig den Kopf, dass ihm das verklebte Haar rings um das Gesicht flog. „Nein, Herrin! Ich würde mein Herzblut vergießen, um dich zu schützen. Ich werde nicht durch die Gitterstäbe fassen.“ Er drehte sich um und sie zog ein kleines Messer mit Perlmuttgriff aus einem Beutel an ihrem Gürtel und schnitt die schmutzigen Schnüre durch, die seine Handgelenke banden. Er rieb sie sich, rieb Gefühl zurück in seine Hände, die taub und kalt gewesen waren; er fuhr vor Schmerz zusammen, als der Blutkreislauf wieder in Gang kam.

Die Wunde an seinem Arm war nicht versorgt worden – sie war mit Blut und Dreck verkrustet und sah geschwollen und entzündet aus. Arwen gab einen kleinen, mitfühlenden Laut von sich. „Ich werde nach Wasser und Verbänden rufen; man muss sich darum kümmern.“

Canohando begegnete ihrem Blick. „Aus welchem Grund, Herrin? Mein Leben ist verwirkt; ich warte nur darauf, dass der König einen Tod wählt, der passend ist für mich. Wenn ich davonschlüpfen kann, ehe er sich etwas ausdenkt, dann erspare ich mir vielleicht viel Leid.“

Arwen biss sich auf die Lippen. „Ist es das, was du glaubst – dass mein Ehegatte Folterqualen für dich ersinnt?“

Der Ork zupfte an dem getrockneten Blut auf seinem Arm herum. „Tun das denn nicht alle Herrscher, wenn sie sehr zornig sind? Wenn er es schnell machen wollte, dann hätte er mich noch am selben Morgen in der Halle erschlagen.“

„Nein, Canohando. Oh nein!“ Arwen hatte Mühe, trotz ihrer zugeschnürten Kehle zu sprechen. „Er wartet, um sicher zu sein... um dich nicht zu verdammen und es dann zu bereuen, wenn es zu spät ist. Er will gewiss sein, dass er Gerechtigkeit walten lässt.“

„Ich habe den Mann des Königs getötet, in der Halle des Königs. Welchen Tod hat er mir zugedacht, Herrin? Weißt du es?“

Seine Offenheit und sein grimmiger Mut brachte sie aus der Fassung. „Ich – ich denke, er würde dich zu dem selben Tod verurteilen, den auch du bereitet hast.“

Der Ork schloss für einen Moment die Augen, dann seufzte er, und die angespannten Linien auf seiner Stirn glätteten sich. „Das wäre gleichzeitig Gerechtigkeit und Gnade. Rascher, als am Hunger zu sterben.“

„Deshalb wolltest du nicht essen,“ sagte sie, und er nickte. 

„Verdursten geht noch schneller, aber das konnte ich nicht ertragen.“ sagte er, und Arwen schauderte.

„Er mag dich vielleicht überhaupt nicht verurteilen, Canohando. Du hast getötet, aber du hast dich selbst verteidigt. Und du hast keine Waffe getragen; das ist der Beweis, dass du nicht in der Absicht gekommen bist, jemandem Schaden zuzufügen! Doch selbst, wenn der König dein Leben fordert, wird es nicht so furchtbar sein wie der Hungertod.“

Sie öffnete ihren Korb, und der angenehme Duft nach gebratenem Geflügel  wetteiferte mit dem schalen Gestank des Gefängnisses. Sie brach das Huhn in Stücke und reichte ihm das Fleisch durch die Gitterstäbe. „Iss, Lieber! Ich werde nicht dabei zusehen, wie du in meinem Haus verhungerst, nicht einmal in seinem Kerker.“

Er nahm ihr das Essen ab, Stück für Stück; er riss das Fleisch gierig von den Knochen. Er hatte fast das ganze Huhn verschlungen, ehe er wieder sprach. „Wieso nennst du mich so? ,Lieber'?“

Sie lachte leise, „So habe ich Frodo immer genannt, und du erinnerst mich irgendwie an ihn.“

„Er ist mein Bruder,“ sagte der Ork wieder, und sie nickte. „Streck deine Hände aus, Canohando.“ Er tat es, und sie drehte sie um und strich mit einem Finger an der Narbe entlang, die seine Handfläche zeichnete. „Frodo hat mir den Zahn gezeigt, den du für ihn geschnitzt hast, und die Narbe auf seiner eigenen Hand. Aber ich wusste, dass du es warst.“ 

Sie holte den Wein heraus, und sie tranken auf Frodo. Sie verfütterte den Rest des Essens in ihrem Korb und hörte ihm zu, während er ihr von seinem Zuhause in den Bergen erzählte, und von dem Winter, den Frodo und der Braune Zauberer dort verbracht hatten. „Er liebte das Schwitzbad,“ lachte Canohando, während er sich erinnerte. „Ich dachte, wir müssten ihn heraustragen – er mochte die Kälte nicht!“ Die Steinmauern des Gefängnisses wichen zurück und Arwen hatte das Gefühl, selbst in den Bergen zu sein; sie folgte Frodo und den Orks an Fährten entlang, auf die seit Anbeginn der Welt kaum jemand einen Fuß gesetzt hatte.

„Kam er her, Herrin, als er Mordor verließ?“ fragte der Ork endlich. „Lebt er noch?“

Und Arwen kehrte so abrupt in die Gegenwart zurück, als wäre sie gegen eine Wand geprallt. Sie konnte nicht lügen, und Canohando las ihren Ausdruck und wandte sich ab; er bedeckte das Gesicht mit einem Arm. „Ich wusste es,“ - sie musste sich anstrengen, um ihn zu verstehen - „ich wusste, es muss so sein, es ist zu lange her, aber ich konnte mich selbst nicht davon abhalten, zu hoffen - “

„Lieber - “ Sie langte durch die Gitterstäbe und zog ihn an sich; sie streichelte ihm das mit trockenem Blut verfilzte Haar und tätschelte ihm den Rücken. Er gab ein würgendes Schluchzen von sich, und dann weinte er, und seine Tränen durchnässten ihr Gewand. Tatsächlich blieben auch ihre eigenen Augen nicht trocken, obwohl Frodos Tod fast sechzig Jahre zurücklag und sie ihn schon damals beweint hatte. 

Doch als die Tränen versiegten und Canohando sich zurückzog und sich das nasse Gesicht mit den Händen abwischte, da gab es noch einen anderen Zeugen ihrer Trauer. Elessar war leise in den Gang vor den Gefängniszellen gekommen; er zog Arwen von dem Stuhl hoch und in seine Arme hinein und küsste ihr die Tränen fort.

„Nun, nun, liebes Herz, was tust du denn hier? Wenn du meine Gefangenen auf diese Weise tröstest, dann müssen sie sich davor fürchten, dass du kommst,“ schalt er sie sanft.

Sie klammerte sich an ihn, das Gesicht an seiner Schulter. „Mein König, mein Geliebter, schau ihn dir an, sieh, wie sie mit ihm umgegangen sind! Sie haben noch nicht einmal die Fesseln an seinen Händen gelöst, sie haben seine Wunde nicht gereinigt, und sie haben ihn so verprügelt, dass er kaum laufen kann! Wenn deine Gerechtigkeit sein Leben fordert, dann lass es wenigstens einen sauberen Tod sein, nicht diesen Schrecken aus Unrat und Misshandlung - “

Elessar betrachtete den Ork. „Deine Hände sind nicht gefesselt,“ sagte er.

„Deine Herrin hat mich befreit.“ Canohando suchte den Boden ab, bis er die zerschnittenen Schnüre fand und hielt sie dem König hin. Er sagte nicht mehr, und Elessar nahm die Schnüre, das Gesicht sorgenvoll.

„Man hat dich geschlagen?“ fragte er, und der Ork nickte. „Lass mich deine Wunde sehen.“ Aber als Canohando den Arm mit dem verschmutzten, entzündet klaffenden Riss ausstreckte, formte der Mund des Königs eine harte Linie. „Du schuldest mir ein Leben, Ork, aber ich wollte nicht, dass man dich misshandelt. Ich bitte dich um Vergebung.

„Komm, Arwen, du hast hier für einen Tag genügend Trost gespendet. Wir werden einen Heiler zu ihm schicken, der sich um ihn kümmert, und nach dem Mittagsimbiss magst du nach deinem Belieben befehlen, wie und wo dieser Gefangene anständig untergebracht werden soll. Was mich angeht – ich muss darüber nachdenken, wem ich zukünftig die Verantwortung für meine Kerker übertrage, denn der Aufseher wird nicht bleiben.“

Sie machte Anstalten, ihren Korb und die Weingläser einzusammeln, aber der König nahm ihr beides aus den Händen. Dann schob sie die gelbe Decke, die sie mitgebracht hatte, durch die Gitterstäbe zu Canohando hinüber, und er fiel vor ihr auf die Knie. „Danke, Herrin! Du bist wahrhaftig alles, was Neunfinger mir von dir erzählt hat. Es tut mir nicht Leid, dass ich hergekommen bin, was immer auch daraus wird – denn ich habe die Elbenkönigin gesehen und kenne ihre Freundlichkeit.“

Elessar starrte den Ork verblüfft an, ehe er die Königin hinaus führte.


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