Der Aufstieg der Lerche (The Rising of the Lark)
von Cúthalion


Kapitel Sechs
Im Haus der Heilerin

Es war weit nach Mitternacht, doch in dem Haus mit den Zedernschindeln brannte noch immer das Licht. Noerwen ging in der Wohnstube auf und ab, in ein warmes Schultertuch gehüllt; Damrod stand am Fenster und spähte in die Dunkelheit hinaus. Der Regen hatte vor einer Weile aufgehört, und jetzt hatte sich der Sturm endlich auch gelegt.

Doch Lírulin war nicht nach Hause zurück gekehrt.

„Ich weiß, ich hätte sie davon abhalten sollen, zu diesem Ball zu gehen,“ sagte die Heilerin. Ihr Gesicht war bleich und müde. Während der letzten zwei Stunden hatten sie sich abwechselnd gegenseitig beruhigt; sie hatten vermutet, dass ihre Tochter im Palast übernachtete, und dass jeden Moment ein Bote eintreffen müsste, der ihnen das mitteilte. Doch niemand kam. Sie wussten nicht wirklich, dass etwas nicht stimmte und versuchten, ruhig zu bleiben, doch gleichzeitig wuchs in ihnen die Gewissheit, dass ihrem einzigen Kind etwas zugestoßen war.

Damrod öffnete das Fenster. Eine frische, feuchte Brise ließ die Vorhänge flattern und kühlte ihm das Gesicht. Tief in seinem Herzen wusste er, dass er etwas tun musste. Er war viel zu überreizt, um zu schlafen, und viel zu beunruhigt, um seiner Frau eine Hilfe zu sein. Er hatte gerade den Beschluss gefasst, sich auf den Weg zum Palast zu machen, als er den gedämpften Klang von Hufen auf der Lichtung hörte. Eine dunkle Gestalt fiel direkt vor dem Hauseingang beinahe aus dem Sattel, und das nächste, was an sein Ohr drang, war das Gehämmer von Fäusten gegen die Tür.

Noerwen war die Treppe hinunter, noch ehe er sich gerührt hatte; er folgte ihr, so rasch er konnte. Als er den kleinen Vorraum erreichte, sah er sich einem verstörten, jungen Mann gegenüber. Haar und Kleider waren durchweicht, die Stiefel schlammverkrustet. Ein blutiger Kratzer zog sich über seine Wange hinunter. Er sprach atemlos und so schnell, dass die Worte in einem fieberhaften Durcheinander hervor stürzten. Damrod hörte „Lírulin“ und „im Sturm“ und „umgestürzter Baum“, und sein Blut wurde kalt.

„Ist sie am Leben?“ fragte er scharf, den Herzschlag im Mund.

„Ja, das ist sie,“ erwiderte der junge Mann angespannt, „und sie hat mir gesagt, sie hätte sich nur den Knöchel verstaucht. Aber Elboron scheint schwer verletzt zu sein.“

„Elboron? Was hat denn Elboron damit zu tun?“

„Komm mit mir,“ wies Noerwen resolut den jungen Mann an, führte ihn in Richtung Küche und entzündete auf dem Weg die Kerzen in einigen Leuchtern. Das Herdfeuer war schon für die Nacht zugedeckt, aber ein halb gefüllte Teekanne stand noch immer auf der Eisenplatte darüber. Binnen weniger Minuten saß ihr erschöpfter Gast auf einem Hocker, einen dampfenden Becher in den Händen. Gideher, erinnerte sich Damrod plötzlich an den Namen des Mannes. Noerwen beugte sich über ihn und säuberte den Kratzer auf seiner Wange mit einem Stück Gaze und ein paar Tropfen Alkohol; mit jemandem konfrontiert, der ihre Hilfe brauchte, war sie ganz ihr übliches Selbst, fähig und beherrscht.

Durch das Getränk erwärmt und leicht entspannt von der stillen Atmosphäre der Küche, erlangte Gideher endlich genügend von seiner Fassung zurück, um seine Geschichte in eine begreifliche Reihenfolge zu bringen. Damrod und Noerwen lauschten mit wachsender Furcht, aber sie waren weise genug, zu schweigen, damit er die Erzählung seines verzweifelten Abenteuers zu Ende bringen konnte.

„Und dann brach einer der Bäume zusammen,“ schloss er endlich. „Lírulin versuchte, Elboron zu warnen, doch er kam weder vor noch zurück. Sie sagte, der Stamm hätte ihn nicht getroffen, nur ein dicker Ast... aber der Stamm hält ihn jetzt am Boden fest, und sie ist sich nicht sicher, ob irgendetwas gebrochen ist.“ Er schluckte. „Als ich fortging, war er ohnmächtig.“

„Trink deine Tee,“ sagte Noerwen, „und dann führst du mich zu diesem Baum. Wir nehmen meinen Medizinbeutel mit, ein paar Fackeln und Decken; Lírulin ist geschickt genug, dass sie sich mit ein wenig Hilfe um Elboron kümmern kann, und wir können sie wenigstens beide warm halten.“

Sie wandte sich an ihren Mann.

„Damrod, du gehst sofort zum Palast, aber du nimmst besser die Hauptstraße, nicht den Pfad; ein Unfall ist genug. Éowyn und Aragorn warten zweifellos auf beruhigenden Nachrichten aus unserem Haus.“ Ihre Stimme war grimmig. „Wer werden sie enttäuschen müssen, fürchte ich... aber wenigstens können wir jetzt noch mehr Schaden verhindern.“ ----

Noerwen und Gideher brauchten fünfzehn Minuten, um die umgestürzten Bäume zu erreichen; Lírulin begrüßte sie mit bodenloser Erleichterung. Elboron war inzwischen wieder zu sich gekommen. Er war ansprechbar, aber sein Kopf schmerzte entsetzlich, und zu seiner allergrößten Verlegenheit hatte er sich, kurz bevor die beiden eintrafen, über die zerrissenen Reste von Lírulins Rock übergeben.

Zur selben Zeit schlug Damrod genügend Krach an den Toren von Emyn Arnen, um ein halbes Dutzend Wachen aufzuscheuchen. Sie kannten ihn natürlich alle, und er wurde sofort in die Gemächer des Königs vorgelassen. Kurz danach schlängelte sich eine lange Reihe von Waldläufern und Bediensteten mit Fackeln und Äxten den regendurchweichten Hügel hinab und hinein in den Wald. Aragorn, Faramir und Damrod schlossen sich der Rettungsmannschaft an.

Es war Faramir, der die Axt schwang und den umgestürzten Stamm kürzte. Aragorn war einer der fünf Männer, der ihn von Elborons Körper hob, und er schritt neben der Trage her, seinen Finger am Puls des Prinzen, als sie ihn hinunter zum Haus der Heilerin brachten. Hinter ihnen folgte Damrod, der seine Tochter trug, eingewickelt in eine warme, trockene Decke. Als sie das Haus erreichten, warteten Noerwen und Erion, der Heiler von Eryn Lasgalen, bereits auf sie. Bald waren sowohl der verletzte Prinz als auch Lírulin versorgt, sauber und eingeschlafen, der eine in der Gästekammer, die andere in ihrem eigenen Bett.

*****

Der nächste Tag dämmerte hell und klar. Wolken und Sturm waren vergangen. Der Fürst von Ithilien und der König von Gondor kehrten in den Palast zurück, während Erion blieb, um über Elborons Schlummer und sein Wohlergehen zu wachen. Früh am Nachmittag wachte Lírulin auf, erhielt eine ordentliche Mahlzeit und nahm ein langes Bad. Nun war sie endlich damit an der Reihe, ihrer Mutter zu erzählen, was auf dem Ball geschehen war, und Noerwen lauschte geduldig, bis, die ganze traurige Geschichte heraus gekommen war. Sie hielt das Mädchen in den Armen und tröstete sie, als der verspätete Schrecken über das, was sie durchgemacht hatte, sie schluchzen und zittern ließ.

Lírulin ging nach Sonnenuntergang wieder ins Bett, und Noerwen machte sich sofort auf den Weg hinauf nach Emyn Arnen. Sie verlangte höflich, aber bestimmt, die Fürstin von Ithilien und die Königin zu sehen. Es wurde ein ausführliches Gespräch, und sehr privat; als Noerwen wieder nach Hause kam, betrat sie das Haus mit einem gewissen Leuchten in den Augen und der Ausstrahlung einer Siegerin.

„Du siehst aus, als hättest du eine Schlacht geschlagen,“ sagte Damrod, als seine Frau sich in der Küche niederließ. Er langte nach der Dose mit den getrockneten Teeblättern auf dem Regal, doch dann entschied er sich anders und durchsuchte den Schrank, bis er eine Flasche Rotwein aus Lebennin gefunden hatte. Sie hatten den Wein für einen besonderen Anlass aufgehoben, und er dachte, dieser sei ebenso gut wie jeder andere.

„In gewisser Weise habe ich das,“ sagte Noerwen und nahm einen kleinen Schluck. „Weißt du, ich musste die Königin darüber in Kenntnis setzen, dass einer ihrer persönlichen Gäste – unsere Tochter – von einem dieser so genannten Edelfräulein verleumdet wurde... einem verwöhnten Mädchen, das sich von der Tatsache gekränkt fühlte, dass ein gewisser Prinz, der dem Vernehmen nach unter seinesgleichen nach einer Braut suchte, sich dafür entschied, den halben Abend im Tanz mit der Tochter einer einfachen Heilerin zu verbringen.“

Damrod runzelte die Stirn. „Hat dieses Mädchen sie direkt angegriffen?“

„Gewiss nicht.“ Noerwen gab ein verächtliches Schnauben von sich. „Statt dessen hat sie ihren Hofstaat um sich versammelt und sich eine abenteuerliche Theorie aus den Fingern gesogen; sie behauptete, Elboron hätte Lírulin bereits zu seinem bäuerlichen Liebchen gemacht, bevor er fortging, um in Aragorns Armee zu dienen, und dass er nach seiner Rückkehr versucht hat, sie in den Palast zu schmuggeln.“

Damrod erhob sich halb von seinem Stuhl; seine Augen schossen Blitze. „Ist diese kleine Hexe von Sinnen? Als Elboron in die Armee eintrat, war Lírulin erst vierzehn! Um Himmels Willen, sie war noch ein Kind!“

„Ich weiß,“ entgegnete Noerwen und berührte ihn am Arm; langsam setzte er sich wieder. „Ich vermute, die besagte junge Dame hat sich nicht die Mühe gemacht, genauer hinzusehen... aber das überrascht mich nicht sonderlich. Sie ist die Tochter der Herrin Alassiel, und sobald sie herausgefunden hatte, dass Lírulin meine Tochter ist, verlor sie offensichtlich den Willen – und die Fähigkeit - ihren Verstand zu benutzen.“

„Wie die Mutter, so die Tochter,“ stellte Damrod fest, ein gefährliches Licht in den Augen. „Ich zweifle nicht daran, dass Arwen die Sache in Ordnung bringen kann, aber ich würde trotzdem liebend gern ein Wörtchen mit den beiden reden.“

„Ich auch,“ gestand Noerwen, „aber ich habe der Königin und der Fürstin versprochen, dass wir uns nicht einmischen werden. Bis jetzt war alles, was sich zugetragen hat, ein hässlicher Zwischenfall; er könnte sich gut zu einem ausgewachsenen Skandal entwickeln.“

„Was keineswegs unser Fehler wäre,“ grollte Damrod. „Es war Arwens Idee, unsere Tochter einzuladen, und sie ist es gewesen, die unsere Tochter den Wölfen zum Fraß vorgeworfen hat.“

„Ja, aber ich glaube ihr, dass sie es nicht mit Absicht getan hat,“ sagte Noerwen. „Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass sie Elboron ehrlich einen Gefallen tun wollte... und als sie sah, wie nahe sie sich während des Balls kamen, und wie vertraut sie miteinander umgingen, mag sie es als Wink des Schicksals betrachtet haben.“

Sie sind sich nahe gekommen?“ fragte Damrod und runzelte erneut die Stirn.

Noerwens Gesicht zeigte bewusst keinen Ausdruck. „Éowyn hat mir gesagt, dass viele Höflinge, die sie an diesem Abend tanzen und miteinander reden sahen, zu dem Schluss kamen, dass der Erbe von Ithilien seine Braut bereits gewählt hätte.“

Damrod holte tief Atem. „Aber... sie können doch nicht... glaubst du denn wirklich, dass er sie liebt?“ Er starrte seine Frau an.

„Ich denke, sie fühlen sich sehr zueinander hingezogen,“ sagte Noerwen langsam. „Und wieso auch nicht? Es ist ganz natürlich, wenn man die Tatsache bedenkt, dass sie mehr oder weniger miteinander aufgewachsen sind, und dass sie viel gemeinsam haben. Elboron hat sich zu einem sehr ansehnlichen Mann entwickelt, und zu einem sehr verantwortungsvollen obendrein; es war seine Entscheidung, der Bote zu sein, der uns mitteilen sollte, dass unsere Tochter vermisst wird. Er hat den gefährlichen Pfad durch den Wald gewählt, weil er hoffte, Lírulin so zu finden, und er hat sich ernsthaft in Gefahr gebracht, als er versucht hat, sie zu retten.“

Sie lächelte schwach.

„Genügend Heldenmut, um ein junges Mädchen zu beeindrucken... und vergiss nicht, auch sie hat sich weiter entwickelt. Deine Tochter ist jetzt eine wunderschöne, junge Frau, mein Liebster.“

„Ich weiß,“ sagte Damrod, hin-und her gerissen zwischen Stolz und einem stechenden Gefühl des Verlusts.

„Und da ist nichts, was man fürchten oder worüber man entscheiden müsste,“ sagte Noerwen, nahm seine Hand und küsste sanft die Handfläche. „Vielleicht ist das Ganze ja nicht mehr als eine vorübergehende Verzauberung. Doch wenn – und nur, wenn – es mehr sein sollte, dann wird Lírulin nicht zurück gewiesen werden. Sitte und Tradition mögen etwas anderes verlangen, aber Arwen und Éowyn betrachten sie als passende Partie. Und ihr Wort ist es, das am Ende zählt.“

Damrod schüttelte den Kopf. „Kannst du dir unseren Wildfang von Tochter vorstellen, wie sie sich den strengen Regeln des Protokolls bei Hofe beugt?“

„Nicht wirklich,“ antwortete Noerwen und seufzte. „Aber was auch geschieht... alles, was wir jetzt tun können, ist zu warten und sie ihre eigenen Entscheidungen treffen zu lassen..“ Sie lächelte ihren Mann an. „Weißt du was? Ich vertraue auf Lírulins Herz – und auf das von Elboron auch.“

*****

Der nächste Vormittag war schon fast vorüber, als Elboron einen unbewachten Moment dazu nutzte, aus seinem Bett und in seine Kleider zu schlüpfen.

Er fühlte sich viel wohler, und Erion war bereits in den Palast zurück gekehrt -ein klares Zeichen, dass sein edler Patient sich auf dem Weg der Besserung befand. Elborons Kopf schmerzte nicht länger - wenigstens nicht sehr - und er hatte Hunger. Alles, was er seit seinem verhängnisvollen Unfall bekommen hatte, waren Gemüsebrühe und trockenes Brot, und er verspürte den wachsenden Drang, Noerwens Speisekammer zu plündern.

Doch zuerst einmal wollte er aus dem Haus gelangen; also schlich er sich die Treppe hinunter und fuhr bei jeder knarrenden Stufe zusammen. Er blieb ungesehen – die Tür zur Küche war geschlossen, und er konnte Noerwen singen hören, während sie frischen Teig knetete. Damrod war früh am Morgen fort gegangen, was die Gefahr verringerte, ertappt zu werden.

Dann war er draußen und atmete die frische, milde Luft mit einem Gefühl ein, dass dem Jubel sehr nahe kam. Er wusste, dass er unglaubliches Glück gehabt hatte; der Baum, der ihn hätte erschlagen können, hatte ihm nur eine leichte Gehirnerschütterung und eine ordentliche Beule am Hinterkopf beigebracht. Er war am Leben, und nie war ihm das Leben schöner vorgekommen.

Er blickte sich im Garten um und entdeckte eine regelmäßige Reihe Fußspuren, die das tausilberne Gras verdunkelten, wo es noch im Schatten lag. Als er ihnen mit den Augen folgte, sah er kurz einen flatternden Rock und einen langen, schwarzen Zopf. Die Tür zum Kräuterschuppen schloss sich mit einem leisen Klicken. Fünf Jahre Wachsamkeit und Kriegsführung hatten ihn gelehrt, dass ein Mann besser jedwede strategische Gelegenheit nutzte, die sich ihm bot; er schaute vorsichtig über die Schulter nach hinten, war mit wenigen, langen Schritten über die Wiese und schlüpfte ebenfalls in den Schuppen. Dabei hoffte er inständig, dass Noerwen sein Manöver nicht mitbekommen hatte.

Verglichen mit der Helligkeit im Freien war das Licht im Schuppen ziemlich schwach. Elboron sah die vertrauten Schränke und Regale, mit Flaschen und Krügen gefüllt. Er lächelte über den Geruch, an den er sich von zahllosen Besuchen in früheren Jahren erinnerte... ein Hauch von getrockneten Heilpulvern, gemischt mit dem starken Duft frischer Kräuter und einer Spur Holzrauch. Die hellste Stelle war Noerwens Arbeitstisch mit der großen, sauber geschrubbten Eichenplatte. Damrod hatte ihn vor fast zwanzig Jahren für sie gebaut. Dort bewahrte sie ihre scharfen Messer in einer besonderen Schublade auf, und dort standen auch Mörser und Stößel.

Und nun stand Lírulin vor diesem Tisch, das Kleid mit einer der Schürzen ihrer Mutter bedeckt. Sie füllte eine grünliche Salbe in eine Reihe von Tiegeln aus dunklem Glas ab und summte dabei leise vor sich hin.

Er beobachtete ihre Hände, eigenartig gebannt von der gleichmäßigen, geschickten Bewegung ihrer Finger. Sonnenstrahlen drangen durch das Fenster herein und ließen ihr Haar glänzen wie poliertes Jett. Ihr Gesicht war konzentriert und gleichzeitig entspannt, während sie in ihrem Werk aufging. Plötzlich kam er sich nicht mehr wie ein alter Freund und Gefährte ihrer Kindheit vor, sondern wie ein Eindringling, der drohte, ihren Frieden zu stören.

Dann hob Lírulin den Kopf und ihre Augen leuchteten auf, als sie ihn in seinem dunklen Winkel neben der Tür entdeckte.

„Elboron! Wie geht es dir?“ Die offene Freude in ihrem Gesicht wich plötzlicher Besorgnis. „Was tust du denn hier? Weiß meine Mutter, dass du aus dem Bett bist?“

„Sie hat nicht die geringste Ahnung,“ erwiderte er heiter. „Ich habe mich gerade aus dem Haus gestohlen, auf der Suche nach etwas frischer Luft.“

Lírulin verstöpselte den letzten Tiegel mit einem Korken und versiegelte ihn mit warmem Wachs, das neben dem Tisch auf einem kleinen Öfchen vor sich hin köchelte. Dann kam sie zu ihm hinüber.

„Dreh dich um,“ kommandierte sie. „Ich möchte einen Blick auf diese Beule werfen.“

Elboron tat, wie ihm geheißen. Plötzlich spürte er ihre Hände, die sein Haar beiseite strichen; ein leichter Schauder durchlief ihn. Kühle Fingerspitzen berührten die empfindliche Stelle, wo der Ast ihn im Nacken getroffen hatte. Er zuckte zusammen, und sie gab ein leises, beruhigendes Geräusch von sich, das tief aus ihrer Kehle kam. Der Geruch von Bienenwachs stieg ihm in die Nase, zusammen mit einem frischen, herben Duft, den er nicht ganz einordnen konnte.

„Was ist das?“ fragte er und schloss die Augen.

„Beinwellsalbe,“ sagte sie. „Gut gegen Wunden, die schwer heilen.“ Die Fingerspitzen wurden weg gezogen und kamen wieder; sie tupften etwas auf die wunde Haut, das kühl und weich war. Wieder erschauerte er, wartete aber geduldig, bis sie zurück trat, bevor er sich umdrehte.

Sie lächelte zu ihm auf. Er erinnerte sich daran, wie lieblich sie in dem grünen Kleid auf dem Ball ausgesehen hatte, aber nun begriff er, dass ihre Schönheit keine kostbaren Gewänder und keine Juwelen nötig hatte, um ihn zu bezaubern. Ohne nachzudenken nahm er ihre Hände, und sie versuchte nicht, sie ihm zu entziehen. Nur ihr Atem ging ein wenig rascher, aber sonst blieb sie völlig ruhig.

„Deine Eltern habe ich bereits um Vergebung gebeten,“ sagte er sanft, „und jetzt möchte ich mich auch bei dir entschuldigen. Ich habe dich aus der Menge hervor gehoben, als ich mit dir getanzt und so viel Zeit wie möglich mit dir verbracht habe. Meine Achtlosigkeit hat Eifersucht hervor gerufen und dir großen Kummer bereitet. Ich habe dich in Gefahr gebracht, und es tut mir unendlich Leid, dass man dir weh getan hat. Es war ganz und gar meine Schuld, und ich werde alles tun, was ich kann, um Abbitte zu leisten.“

Ihr Blick verschärfte sich, und er spürte, dass ihre Finger in seinem Griff zuckten.

„Bereust du, dass du – wie drückst du das aus – mich ,aus der Menge hervor gehoben' hast?“ fragte sie.

„Nicht für einen Augenblick,“ erwiderte er.

Die Worte schienen zwischen ihnen auf und ab zu tanzen, golden wie die kleinen Staubkörnchen in der stillen Luft. Sie standen jetzt sehr nahe beieinander, und plötzlich verspürte er den überwältigenden Drang, sie zu küssen. Er beugte sich vor, und zu seiner Überraschung und seinem Entzücken trafen ihre Lippen sich auf halbem Wege, als sie sich auf die Zehenspitzen hob. Es war eine sehr kurze Berührung, doch süß und intensiv genug, dass jede Fiber in seinem Körper aufflammte. Sie trennten sich sofort wieder, die Augen leuchtend vor Staunen.

„Lírulin...“ flüsterte er atemlos.

„Elboron!”

Lírulin erbleichte, und erst jetzt wurde ihn klar, dass sie kein Wort gesagt hatte. Er drehte sich um und sah Noerwen in der offenen Tür des Schuppens stehen. Nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, musste er nicht fragen, wie lange genau sie dort schon stand.

„Noerwen, es tut mir Leid...“ begann er.

„Zuerst einmal: Ihr seid aus dem Bett,“ schnitt sie ihm das Wort ab, „und obendrein ohne meine Erlaubnis, trotz einer Beule auf Eurem Hinterkopf, die so groß ist wie ein Hühnerei. Hinauf ins Haus, sofort.“

Elboron entschied sich für einen strategischen Rückzug, doch vergaß er nicht, Lírulin rasch und zärtlich die Hand zu drücken. Er hastete an der Heilerin vorbei und hörte etwas irgendwo zwischen einem Schnauben und einem Seufzer. Dann stand er draußen und die Tür fiel hinter ihm zu.

Im Schuppen zog sich das Schweigen zwischen Mutter und Tochter in die Länge. Endlich war es Lírulin, die zuerst sprach.

„Lass mich erklären...“

Glaub mir, meine Lerche, ich habe nichts gesehen, was man erklären müsste,“ sagte Noerwen trocken und lächelte, als ihre Tochter rot wurde. „Und es wäre eine Lüge, wenn ich dir sagen würde, dass ich überrascht bin. Ich werde dich nicht einmal fragen, ob du eigentlich weißt, was du da tust.“

„Ich danke dir,“ antwortete Lírulin ernst.

Mittagessen in einer halben Stunde,“ sagte Noerwen. „Ich muss einen schönen Prinzen füttern, und anschließend schicken wir ihn heil und ganz wieder nach Hause.“ Sie wandte sich in Richtung Tür. „Falls du nicht weißt, was du mit deiner Zeit anfangen sollst, bis er zurückkommt – was ohne Zweifel sehr bald der Fall sein wird – dann darfst du den Rest der Beinwellsalbe abfüllen.“

Lírulin deutete mit schwungvoller Geste auf die Reihe säuberlich verkorkter und versiegelter Tiegel auf dem Tisch.

„Ich bin beeindruckt,“ sagte Noerwen. „Räum sie weg, bitte, und dann komm zu uns in die Küche.“

Sie verließ den Schuppen und ging über die Wiese zum Haus hinauf; trotz manch bleibendem Zweifel und vielen Unwägbarkeiten wärmte ihr das strahlende Glück, das sie in den Augen ihrer Tochter gesehen hatte, das Herz.


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