Der Aufstieg der Lerche (The Rising of the Lark)
von Cúthalion
Epilog
Was (nicht) in den Büchern steht
Zwei Jahre später
Noerwen saß auf den Bank vor dem Haus, eine Schüssel Erbsenschoten neben sich. Der Abend war mild, und die Sonne stand tief hinter den Bäumen. Sie war allein; Damrod hatte sich auf den Weg nach Minas Tirith gemacht, um König Éomer in Empfang zu nehmen und ihn zur Hochzeit seines Neffen zu eskortieren.
Sie hob die Schüssel in ihren Schoß, nahm ein kleines Messer und fing an, die Schoten aufzuschlitzen. Die Kammer ihrer Tochter im ersten Stock stand seit Wochen leer. Im Augenblick befand sich Lírulin gerade in Emyn Arnen und ertrug geduldig die letzten Anproben für ihr spektakulären Brautkleid. Dieses Mal war es nicht mit ein paar Stichen und Abnähern geändert worden, sondern maßgeschneidert, um nur an einem besonderen Tag getragen zu werden... und vielleicht noch einmal, von einer anderen jungen Frau in der Zukunft, falls sie jemals eine Tochter haben sollte.
Die Vorbereitungen für das Fest hatten sich wenigstens zweimal so kompliziert und anstrengend gestaltet als die für den Ball vor zwei Jahren. Morgen würde Noerwen ihre eigenen Festgewänder anlegen, und sie würde wenigstens drei Tage in der Gesellschaft des versammelten Adels von Gondor verbringen. Der Herr Angbor von Lamedon war übrigens ebenfalls unter den Gästen, aber er hatte weise beschlossen, nicht in der Begleitung seiner Gemahlin und seiner Tochter anzureisen. Statt dessen hatte er versprochen, ein Dutzend Büsche aus seinem berühmten Rosengarten mitzubringen: es handelte sich um eine besondere Züchtung ohne Dornen.
Noerwen grinste bei dem Gedanken, während ihre Hände in den vertrauten Rhythmus hinein fanden; sie leerte die frischen, grünen Erbsen in die Schüssel und schnippte die leeren Schoten in einen Eimer neben ihrem Knie. Dies waren die Gewohnheiten, die ihrem Leben in Mittelerde die Form gaben... sich um die zu kümmern, die sie liebte und um die, die sie brauchten, Heilung zu bringen, wo sie es konnte und manchmal die größte Freude zu finden in den einfachsten Dingen.
„Elen sila lumenn' omentielvo, Noerwen,” sagte eine musikalische Stimme ganz aus der Nähe, und sie ließ beinahe die Schüssel fallen.
Sie blickte auf. Zwei Gestalten standen auf der Wiese; eine von ihnen in Grau und Grün gekleidet. Noch immer trug er den Umhang, den ihm Galadriel vor fast dreißig Jahren geschenkt hatte. Die zarte, blattförmige Brosche schimmerte im warmen Abenddunst, doch ihr Glanz war nicht so kraftvoll und strahlend wie das Licht in den Augen des Elbenfürsten, und sein Gesicht wirkte so jugendlich wie immer.
„Herr Legolas, willkommen!“ Sie nahm die schlanken Hände, die sich ihr entgegen streckten. „Und möge der Segen der Valar mit Euch sein, wohin immer Euer Pfad Euch auch führt.“
„Diesmal hat er mich zu den Glitzernden Höhlen geführt,“ sagte Legolas mit einem Lächeln. „Gimli sendet Euch und Eurer Tochter seine besten Wünsche. Er hat mich gebeten, Euch seine Hoffnung zu übermitteln, dass der Fels unter Euren Füßen niemals wanken und die Wände Eures Hauses niemals einstürzen mögen.“
„Sehr erhebend,“ erwiderte Noerwen fröhlich. „Dann darf ich wohl annehmen, dass sein wundersames Reich noch immer blüht und gedeiht?“
„Das tut es,“ sagte Legolas, „so weit man das über einen Ort sagen kann, der hauptsächlich aus Stein besteht. Oh, und Noerwen... ich habe jemanden mitgebracht, der hergekommen ist, um unsere neue Ansiedlung zu besuchen. Er wird sich nach Elborons Hochzeit mit meinem Meister der Überlieferungen treffen, und er hat mich gebeten, Euch ebenfalls kennenlernen zu dürfen.“
Nun endlich richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den anderen Mann, der ein wenig abseits geduldig wartete; er bemühte sich offenbar, die Begegnung von zwei alten Freunden nicht zu stören.
„Vergebt mir.“ Sie versank in einem höflichen Knicks. „Jeder Gast von Herrn Legolas ist willkommen in meinem Haus. Mein Name ist Noerwen.“
Er verbeugte sich seinerseits. „Ich freue mich sehr, Herrin Noerwen,“ sagte er. „Ich habe lange Zeit darauf gewartet, Euch zu begegnen, und ich bin überaus glücklich, dass ich endlich die Gelegenheit dazu habe.“
Er hatte eine tiefe, heisere Stimme, und seine Sprache klang ein wenig verwischt... allerdings nicht wie die eines Trunkenboldes; eher so, als ob zu viele Worte auf einmal sich in den Vordergrund drängten und ein paar davon auf dem Weg verloren gingen. Unter einem langen, dunklen Umgang mit einer großen Kapuze trug er bequeme, locker geschnittene Hosen, ein Hemd mit Stehkragen und eine wunderschöne Weste, mit Blüten und Blättern bestickt fast wie ein Hobbit, dachte Noerwen. Sie betrachtete sein Gesicht und sah die Züge eines Mannes, der gelassen auf das Alter zusteuerte. Sein Haar war mehr grau als blond und ungewöhnlich kurz geschnitten, seine Augen hell und humorvoll unter eindrucksvollen Brauen. Er erinnerte sie sehr stark an jemanden, aber sie wusste einfach nicht, an wen.
„Darf ich mich vorstellen?“ sagte er. „In diesen Landen kennen mich die Menschen als den Pengolodh. - Herrin Noerwen? Ist Euch nicht wohl?“
Sie machte mit zitternden Knien ein paar Schritte rückwärts, stieß gegen die Bank und sank darauf nieder.
„Ich habe mich nie besser gefühlt,“ flüsterte sie, „vielen Dank. Ich bin auch glücklich, Euch zu begegnen. Wirklich sehr, sehr glücklich.“
Sie tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug.
„Und bitte nennt mich einfach Noerwen.“
*****
Später wusste sie nie, ob sie die Tatsache bereute, dass Damrod nicht zu Hause war, als der Pengolodh ihr einen Besuch abstattete; ein Teil von ihr verspürte den heftigen Wunsch, dass er Zeuge einer so wundersamen Begegnung von zwei Welten hätte sein können. Ein anderer wesentlich selbstsüchtigerer Teil beschloss einfach, diesen Besuch zu genießen und als unvergleichliches Geschenk hinzunehmen. Legolas hörte ihnen eine Weile zu, dann entschuldigte er sich und verschwand in ihren Gärten seine persönliche Weise, die Anspannung einer langen Reise abzuschütteln und neue Kräfte zu sammeln.
Bei dem, was sie über ihren Gast und seinen allgemeinen Umgang mit Frauen wusste, hatte sie erwartet, dass er in ihrer Gegenwart reserviert und hölzern sein würde, aber erstaunlich genug war er ziemlich entspannt. Vielleicht war es Mittelerde, das ihn ebenso sehr veränderte, wie es sie verändert hatte, aber er genoss es ganz offensichtlich, mit ihr zusammen zu sein. Sie ging nach drinnen und holte Erfrischungen; Brot, hausgemachten Käse, Bier und Wein. Sie aßen, und dann saßen sie Seite an Seite auf der Bank, bis es kalt wurde und sie ins Haus umzogen.
Er überschüttete sie mit zahllosen Fragen, und sie beantwortete sie, so gut sie konnte. Sie war voller Ehrfurcht und Erregung angesichts der Tatsache, dass sie zu dem Chronisten von Arda sprach, und dass manche Einzelheit tatsächlich ihren Weg in die Bücher finden mochten, die noch geschrieben werden mussten. Sie sprach von ihrer Zeit in den Häusern der Heilung und erzählte ihm von ihrem Leben in Ithilien, obwohl sie ihre Liebesgeschichte mit Damrod für sich behielt. Trotzdem zeigte er ein freundliches Interesse an ihrer Familie, vor allem an Lírulin.
„Ich habe auch eine Tochter,“ sagte er. „Sie ist ein wundervolles Mädchen; Ihr würdet sie gern haben.“ Er zögerte. „Und ich wünschte, Ihr könntet meine Frau kennenlernen.“
„Das wäre sehr schön,“ stimmte sie lächelnd zu. „Aber zuerst müsste ich mit Euch in Eure Welt und Eure Zeit zurück kehren... und für mich gibt es keinen Weg zurück.“
Mitternacht war vorüber, als sie an diesem Punkt ankamen; bis dahin hatten sie beide stillschweigend dieses empfindliche Thema gemieden. Doch nun, gewärmt von Gesellschaft, Wein und der seltenen Nähe, die sich zuweilen zwischen zwei Fremden in nur wenigen Stunden entwickeln kann, wagte sie es endlich, eine Frage zu stellen, über die sie seit Jahren grübelte.
„Sagt mir,“ meinte sie und studierte sein Gesicht im flackernden Kerzenschein. „ist es für Euch einfacher, her zu kommen oder zurück zu gehen?“
Eine ganze Weile war er still. „Das kommt darauf an,“ sagte er langsam und machte eine Geste, die sie schon vorher ein paar Mal gesehen hatte; er fasste abwesend in die Westentasche, dann warf er ihr einen zweifelnden Seitenblick zu und zog die Hand wieder zurück.
„Worauf?“
„Auf die Umstände,“ entgegnete er und runzelte leicht die Stirn. „Ich liebe meine Frau und meine Familie, ich bin ein Gelehrter, der die Arbeit tun darf, von der ich immer geträumt habe, doch es gibt Augenblicke, in denen ich feststelle, dass es mich danach verlangt, hier zu bleiben, unter diesen fremdem Sternen... nur ich und die Legenden, die diese Welt mir mitzuteilen weiß. Macht das für Euch Sinn?“
„Vollkommen,“ sagte sie, „doch Ihr habt Eure Wurzeln noch immer dort. Meine Heimat ist jetzt hier. Ich musste für zwei Jahre zurück, und das war die elendste Zeit meines gesamten Lebens... abgesehen davon, dass der Wechsel mich beinahe in den Wahnsinn getrieben hat.“
Der Pengolodh betrachtete sie gedankenvoll.
„Meine Furcht war niemals die, wahnsinnig zu werden,“ antwortete er endlich. „Ich hatte nur Angst, zwischen den Welten verloren zu gehen... und manchmal denke ich, dass es tatsächlich so ist.“
Wieder verschwand seine Hand in der Tasche seiner schönen Weste und nun dämmerte ihr, wieso.
„Wollt Ihr mir einen Gefallen tun?“ fragte sie.
Er warf ihr einen überraschten Blick zu. „Was immer Ihr wollt,“ sagte er mit einem warmen Lächeln. „Vor allem nach diesem wunderbaren Abend.“
„Er ist immer noch wunderbar,“ erwiderte sie und streckte die Hand aus. „Holt endlich Eure Pfeife aus der Tasche und lasst mich sie für Euch stopfen. Da ist noch ein Beutel Langgrundblatt übrig, aus Merry Brandybocks letztem Paket.“
Die eindrucksvollen Augenbrauen schossen aufwärts. „Woher habt Ihr das gewusst?“
„Inzwischen sollte ich diese Geste wohl kennen,“ lächelte sie, „von meinem Mann. Seht Ihr, ich bin mit jemandem verheiratet, der hier und da eine Pfeife genießt... genau wie sein König. Und wie Ihr.“ ---
Sie zog sich bald darauf zurück, auch wenn es das Letzte war, was sie wollte; sie hätte mit Freuden den Rest der Nacht in seiner Gesellschaft verbracht, doch sie wusste, dass sie am kommenden Tag eine festliche Fürstenhochzeit überstehen musste. Der Pengolodh hüllte sich zuvorkommend in seinen Umhang, ging hinaus und setzte sich wieder auf die Bank. Als sie ihm eine gute Nacht wünschte, war sein Kopf von einer aromatischen Wolke aus Pfeifenrauch umgeben.
„Schlaft gut, Noerwen,“ sagte er. „Danke für Euer offenes Haus und für Eure Freimütigkeit.“
„Es war mir ein Vergnügen, und ein Vorrecht,“ versicherte sie ihm. „Ohne Euch würde ich nichts über diese Welt wissen. Ich schulde Euch mehr, als Ihr mir jemals schulden könntet. Gute Nacht, und wenn Ihr zu dem Schluss kommt, dass Ihr zu müde seid, mit einem Elbenfürsten durch die Dunkelheit zu wandern, dann fühlt Euch frei, meine Gästekammer zu benutzen. Erster Stock, die letzte Tür rechts, und das Bett ist schon gemacht.“
Ohne nachzudenken, beugte Noerwen sich vor und umarmte ihn; nach einer verblüfften Sekunde des Zögerns tat er es ihr nach, und sie spürte die flüchtige, keusche Berührung seiner Lippen auf ihrer Wange.
Sie betrat das Haus, schloss die Tür hinter sich und ging nach oben. Die Vorhänge waren zugezogen, aber das Fenster stand offen und ließ die kühle Luft herein. Während sie in ihr Nachthemd schlüpfte, konnte sie noch immer den süßen Tabakduft seiner Pfeife riechen und ihn reden hören; er murmelte undeutliche Satzfetzen in Sindarin und Quenya vor sich hin.
Dann kam etwas, das sie überraschend gut verstehen konnte: „Ich ging durch die Fluren von Tasarinan im Frühling...“, und plötzlich war da auch Legolas. Zuerst lachte er, dann summte er leise und endlich begann er zu singen, mit einer Stimme, so schön, dass sie ihr das Herz durchbohrte: „Ah! Die Musik und das Licht im Sommer an den Sieben Strömen von Ossir!“
Sie schloss die Augen und schlief, und in ihrem Traum wanderte sie Hand in Hand mit Damrod unter dem Schatten elbischer Bäume, deren Blätter in der kühlen Brise seufzten, und sie waren umgeben von einem rotgoldenen, prachtvollen Herbst.
FINIS
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Anmerkung der Autorin:
Die „Ansiedlung“, die Legolas erwähnt, wurde von ihm selbst ins Leben gerufen. Er brachte Elben aus Eryn Lasgalen (Düsterwald) nach Ithilien und half, den Garten von Gondor wieder zu voller Blüte zu bringen.
Das Lied, das Legolas singt, wurde zuerst von Baumbart in „Die zwei Türme“ angestimmt, als er Merry und Pippin von seiner Liebe zu den Bäumen erzählte. Hier ist der vollständige Text:
Ich ging durch die Fluren von Tasarinan im Frühling.
Ah! Der Duft und die Farben des Frühlings in Nan-tasarion!
Und ich sagte: Dieses ist gut.
Ich zog durch die Ulmenwälder von Ossiriand im Sommer.
Ah! Die Musik und das Licht im Sommer an den Sieben Strömen von Ossir!
Und ich dachte: Dies ist das Beste.
Zu den Buchen von Neldoreth kam ich im Herbst.
Ah! Das Gold und das Rot und das Seufzen der Blätter im Herbst in Taur-na-neldor!
Jeder Wunsch war gestillt.
Zu den Kiefern im Hochland von Dorthonion stieg ich im Winter hinauf.
Ah! Der Wind und das Weiß und das schwarze Geäst des Winters auf Orod-na-Thôn!
Zum Himmel stieg meine Stimme hinauf und sang.
Nun aber liegen all jene Länder unter der Woge,
Und ich wandre in Ambarona, in Tauremorna, in Aldalómë,
In meinem eigenen Reich, im Fangornlande,
Wo Wurzeln tief hinabreichen.
Und die Jahre schichten sich höher als Laub unter Bäumen
In Tauremornalómë.
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