Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


5. Kapitel
Ein geheimer Garten...

Oktober 1416

„Sehr gut gemacht, Tulpe... noch ein letztes Mal! Der Kopf ist schon draußen!“

Die junge Frau auf dem Bett schloss die Augen; ein angestrengtes Grunzen drang tief aus ihrer Kehle, während sie den Rücken durchbog und ihre Fersen in die Matratze grub. Im nächsten Augenblick rutschte eine kleine, nasse Gestalt geradewegs in Lilys wartende Hände, und der schluchzende Seufzer der Erleichterung von der jungen Mutter mischte sich mit hohem Babygeschrei.

„Es ist ein Junge!“ Lily durchtrennte mit einer schnellen Bewegung die Nabelschnur, hüllte das neugeborene Kind in ein vorgewärmtes Tuch und rieb sachte den zarten, kleinen Kopf ab. „Ein gesunder Junge, und so hübsch!“ Sie liebkoste die runde, rote Wange mit einer sachten Fingerspitze, erfüllt von einem jubelnden Gefühl des Triumphes. Nie würde sie sich daran gewöhnen, obwohl es nun schon die siebte Geburt war, die sie erfolgreich ohne Amaranths Hilfe gemeistert hatte.

„Hier, Liebchen... alle zehn Finger und Zehen, und er ist seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.“ Lily legte das Baby in die wartenden Arme seiner Mutter; sie sah das ungläubige Glück und das Staunen in Tulpes erschöpftem Gesicht. Tulpe und Bungo Eichenzweig hatten drei lange Jahre gewartet, bevor Tulpe endlich schwanger wurde; eine Tatsache, die Bungo auf der Stelle mit einem gewaltigen Fest feierte, sobald er sich sicher sein konnte, dass es wirklich ein Kind geben würde.

Lily ging hinaus und fand den jungen Vater, der in einem besorgniserregenden Zustand der Nervosität und Verzweiflung den Flur auf- und abwanderte, das Haar noch mehr zerrauft als üblich, das Gesicht bleich und schweißüberströmt. Sie klopfe ihm auf den Rücken und schenkte ihm ein breites Lächeln.

„Armer Kerl, du siehst aus, als hättest gerade du das Kind geboren!“ neckte sie sanft. „Geh rein... da wartet jemand darauf, seinen Papa kennen zu lernen.“

Ein Feuerwerk der Freude explodierte in Bungos Augen und er hastete ins Schlafzimmer. Lily streckte den Rücken und ging in Tulpes Küche hinüber, um sich die Hände zu waschen und beinahe einem Dutzend Tanten, Onkeln, Ohms und Omas die guten Neuigkeiten zu überbringen; sie hatten dort stundenlang gewartet (und dafür gesorgt, dass der arme Bungo aufrecht und nüchtern blieb).

Eine Stunde später wanderte sie den Weg von dem kleinen Eichenzweig-Smial hinunter und nahm die Abzweigung nach Wasserau; sie hatte Amaranth versprochen, ihr zu erzählen, ob es Mutter und Kind gut ging. Amaranth hatte sich jahrelang bemüht, dem jungen Paar zu helfen, seinen größten Wunsch wahr zu machen. Sie hatte völlig neue Kräutergebräue entwickelt, den beiden zuerst Enthaltsamkeit verordnet, dann so viel Liebe wie möglich (abgestimmt auf Tulpes Monatskalender), dann wieder Enthaltsamkeit und noch mehr Kräutertränke. Die alte Hebamme hätte nicht stolzer sein können, wenn das Baby, das Tulpe endlich empfing, ihr eigenes gewesen wäre.

Amaranth saß in ihrem Ohrensessel dicht am Fenster, als Lily hereinkam und einen kräftigen Windstoß kalter Herbstluft mitbrachte; ein großes Buch lag auf ihren Knien. Lily erkannte es; es war eine umfangreiche Kräutersammlung, ihre Wirkung auf Frauenleiden und die richtige Dosierung. Amaranth hatte seit Jahren in dieses Buch geschrieben und sehr genaue, farbige Abbildungen der jeweiligen Pflanzen gezeichnet, und Lily wusste, dass sie diesen Schatz an Erfahrungen eines Tages erben würde.

„Oh... Kind! Wie geht es dir?“

„Gut, Mutter Amaranth.“ erwiderte Lily. „Und was noch viel wichtiger ist – Tulpe Eichenzweig geht es auch gut, und sie hat einen kleinen Jungen!“

Die alte Hebamme lächelte; eigenartigerweise kam es Lily so vor, als wäre sie ein bisschen abgelenkt und nicht halb so aufgeregt, wie sie es vielleicht hätte sein sollen. Sie sah blass und müde aus, selbst im warmen, goldenen Licht des Spätnachmittags, und Lily spürte einen Stich der Besorgnis.

„Fühlst du dich wohl? Hast du heute schon deine Medizin genommen?“

Das Fingerhut-Tonikum stand auf einem kleinen Tisch neben dem Sessel. Amaranth deutete vage auf das kleine, braune Fläschchen.

„Dreimal am Tag, genau wie Dolgo es verordnet hat.“sagte sie, ein humorvolles Glitzern in den Augen. „Aber das Zeug schmeckt scheußlich.“

„Ich mach dir ein bisschen Tee, damit du den Geschmack vergisst, und ich habe frischen Karottenkuchen in meinem Korb. Die Eichenzweigs haben mich mit so viel Eiern, Kuchen, Keksen und Schinken beladen, dass ich meine Familie damit leicht eine ganze Woche durchbringen könnte.“

„Sogar Marco?“

Lily lachte. „Sogar Marco.“

Hungrige Hobbitkinder waren die Regel, nicht die Ausnahme, aber selbst unter seinen Freunden, die allesamt einen gesegneten Appetit hatten, war Marco ein ausgesprochen hungriges Exemplar eines Hobbitjungen. Er wuchs wie Unkraut, verschlang alles, das ihn nicht zuerst fraß und Viola beklagte sich, dass sie kaum mit dem Nähen neuer – und längerer – Hosen hinterherkam.

Lily ging in die Küche hinüber und füllte den Kessel unter der Pumpe. Sie nahm das Glas mit Pfefferminztee vom hohen Regal, drehte den Deckel auf und atmete den starken, aromatischen Geruch der zerriebenen Blätter ein. Während sie die Kanne vorbereitete, das Feuer schürte und darauf wartete, dass das Wasser kochte, wanderten ihre Gedanken zu dem Abend vor zwei Tagen zurück, als sie im Studierzimmer von Herrn Beutlin gesessen hatte.

Der Unterricht hatte Mitte Juli angefangen, und innerhalb von drei Monaten hatte sie alle elbischen Buchstaben gelernt; sie fing jetzt an, die ersten Wörter zu schreiben. Sie wusste, sie hätte schneller sein können, aber die Hausarbeit im Stolzfuß-Smial und ihre zunehmenden Pflichten als die „neue“ Hebamme hatten sie davon abgehalten, so oft zu lernen, wie sie es sich wünschte. Zu ihrer Überraschung und dem Erstaunen ihres Lehrers waren die Buchstaben kein wirkliches Problem; ihre Finger kamen ohne Schwierigkeiten selbst mit den eleganten und komplizierten Formen von esse und arda zurecht. Das Einzige, was sie fast in den Wahnsinn trieb, war die ungeheure Vielfalt der Möglichkeit, die thetar einzusetzen; dies blieb ein Kampf, den zu gewinnen sie sich noch immer grimmig bemühte.

Während der letzten Unterichtsstunde (sie versuchte gerade, das Wort Narzisse hinzubekommen, ohne eine unaussprechliche thetar-Katastrophe anzurichten), stellte sie plötzlich fest, dass sie eine Melodie vor sich hinsummte; das Studierzimmer war sehr still, und als sie den Kopf hob und die Hand ausstreckte, um ihre Feder in das Tintenfass zu tauchen, stellte sie fest, dass Herr Beutlin sie von der anderen Seite des Schreibtisches her ansah. Sein Blick war voll lächelnder Neugier.

„Ein hübsches Lied,“ sagte er. „Es kommt mir irgendwie bekannt vor.“

Es war die Flötenweise von jenem unvergesslichen Mittsommerabend; Lily spürte, wie ihre Wangen glühten. Aber sie schlug die Augen nicht nieder.

„Herr Brandybock hat sie gespielt, als du... als wir getanzt haben.“ antwortete sie ruhig. „Das war sehr schön... aber kein Hobbit-Tanz, nicht?“

„Nein... er kommt von den Zwergen.“ Er beugte sich vor und kontrollierte ihre letzten Buchstaben. „Vorsicht, Lily! Drei Punkte für ein a, nicht nur einer. Und der Punkt für das i muss auf das esse, oder du hast eine Nirizsse.“ Einen Augenblick lang berührte er ihre Schulter, und sie spürte die Wärme seiner Handfläche durch den Stoff von Mieder und Bluse. Dann zog er die Hand zurück und setzte sich wieder auf seinen Stuhl.

„Die Zwerge waren hier regelmäßig zu Gast, als Bilbo noch der Herr war und ich nicht viel mehr als ein Grünschnabel mit einem unstillbaren Appetit auf Essen und Bücher. Und als er nach seinem Geburtstag fort ging, vor fünfzehn Jahren, da haben sie ihn begleitet.“

Er seufzte.

„Zu dieser Zeit war Merry gerade hier; er half dabei, die vielen Päckchen mit all den Geschenken vorzubreiten, die Bilbo weggeben wollte... und nach dem Fest hat er alle hinaus geworfen, die Beutelsend mit einer Schatzhöhle verwechselt haben... und das waren nicht wenige.“ Die blauen Augen nahmen sie nicht mehr wahr; ihr Blick war auf etwas in weiter Ferne gerichtet. „Am letzten Abend vor dem Fest sind die Zwerge um ein Feuer herumgetanzt, das Sam Gamdschie im hinteren Garten angezündet hat; einer von ihnen hat die Melodie gespielt, und er brachte sie Merry bei und schenkte ihm die Flöte, bevor er ging.“

Lily lächelte.

„Herr Beutlin hatte auch etwas für mich.“ sagte sie. „Ein Paar Scheren und einen wunderschönen Spiegel. Auf die Karte in dem Päckchen hat er geschrieben: Für Lily mit dem süßen Gesicht und den geschickten Händen.“

„Die Leute mögen sagen, dass Bilbo ziemlich exzentrisch war“, bemerkte Frodo Beutlin., „aber blind war er ganz sicher nicht.“

Lily spürte eine Hitzewelle, die durch ihren ganzen Körper ging, und diesmal war sie mehr als dankbar, dass sie ihren Blick fest auf das Pergament richten konnte, während sie den langen, elegant geschwungenen Bogen des lambe am Ende des Wortes malte.

Sie zuckte zusammen und kehrte in die Wirklichkeit zurück; Dampf stieg aus dem Kessel auf und abgesehen von leisen Sprudeln des kochenden Wassers war der Raum völlig still. Lily hob den Kopf und entdeckte, dass die alte Wanduhr, die eine von Amaranths zahllosen Nichten mit bunten Blumen bemalt hatte, stehen geblieben war.

„Amaranth?”

Keine Antwort. Lily füllte die Teekanne auf und ging hinüber in das andere Zimmer.

Die alte Hebamme saß noch immer in ihrem Ohrensessel, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Augen geschlossen. Ihre Hände ruhten auf dem offenen Buch in ihrem Schoß. Lily beugte sich über sie, zog das Buch weg, klappte es zu und legte es auf den kleinen Tisch neben das Fläschchen mit Dolgos Medizin.

Erst als sie eine warme Wolldecke von der Bank unter dem Fenster nahm, um Amaranth zuzudecken, begriff sie endlich, dass ihre alte Freundin nicht mehr atmete.

*****

Zwei Tage später wurde Amaranth Brockhaus auf dem Friedhof von Hobbingen begraben; fast jedermann, der laufen konnte, drängelte sich zwischen den weißen Lattenzäunen, während der einfache Fichtensarg in die Erde hinab gelassen wurde.

Während der nächsten paar Wochen hatte Lily damit zu kämpfen, ihren völlig neuen Tagesablauf unter Kontrolle zu bringen; sie half sich damit, dass sie Amaranths Kalender abschrieb, Darin waren die Besuche sorgfältig notiert, die gemacht werden mussten, die Gebräue und Tees, die vorbereitet werden mussten und auch die Bäder und Salben, die Amaranth selbst entwickelt und an die Frauen von Hobbingen und Wasserau verkauft hatte.

Die Elbisch-Stunden wurden erst einmal eingestellt; Abend für Abend saß sie im Licht von einem halben Dutzend Kerzen und studierte Amaranths Buch. Ihre größte Angst war, dass sie wegen schierer Unerfahrenheit jemanden vergiften könnte. Sie dankte dem Schicksal, dass sie ihre Julgeschenke schon im August und September vorbereitet hatte (vor allem eines, dass sehr lange brauchte, um fertig zu werden).

Sie sprach zu niemandem über ihre Trauer um Amaranth; ihre Mutter hatte aus ihrer herzlichen Abneigung gegen die alte Hebamme nie ein Geheimnis gemacht und fragte nicht danach, und ihr Vater begriff nach ein paar Versuchen, dass sie nicht bereit war, über ihre Gefühle zu reden. Langsam gewöhnten sich die Leute daran, ein junges, hübsches Gesicht auf ihrer Türschwelle vorzufinden, wenn ein Kind geboren werden sollte, und das Jahr wurde alt.

******

Der Dezember kam mit eisigem Regen, ließ die Leute unter ihren feuchten Mänteln zusammenschaudern und durch die kalten Pfützen stapfen. Die Heiler waren eifrig damit beschäftigt, Hustensirup zu verteilen und heiße Dampfbäder mit Kamille und Eukalyptus zu empfehlen, und anstatt den Regeln der Höflichkeit zu genügen, drehte man den Kopf weg, um seinen Nachbarn nicht geradewegs in das rotnasige Gesicht zu niesen. Dann wurde die Welt über Nacht weiß und still; die Luft war erfüllt von wirbelnden Flocken und am Julmorgen hatte sich Hobbingen in ein Wintermärchen verwandelt.

Frodo Beutlin war dieses Jahr zu einigen Julfeiern eingeladen gewesen und würde nach Bockland reisen, sobald das neue Jahr anfing; er wusste, wie lärmend und turbulent die Feste seiner Brandybock-Verwandten normalerweise waren und freute sich auf einen ruhigen Abend in seinem Studierzimmer. Vielleicht würde Sam Gamdschie am späten Nachmittag auftauchen und sie konnten ein bisschen Glühwein miteinander trinken und Marigolds köstlichen Gewürzkuchen genießen, den sein Gärtner zweifellos zu ihrer kleinen Runde beisteuern würde.

Er hatte sich gerade mit heißem Tee, zwei gekochten Eiern, einem Korb voller Röstbrot und einer kleinen Sammlung elbischer Gedichte nieder gelassen, als er das leise Klopfen an der Tür hörte.

„Nur herein... es ist offen!“

Er erhob sich halb von seinem Stuhl neben dem Küchentisch; die Tür öffnete und schloss sich wieder, und dann erschien eine dick vermummte Gestalt aus der Eingangshalle.

„Guten Morgen und ein fröhliches Julfest, wer immer du auch bist.“ sagte Frodo mit einem Lächeln. Ein Kichern drang unter dem Tuch hervor, hinter dem sich das Gesicht verbarg; die Gestalt schälte sich aus den dicken Wollschichten von Schal, Kapuze und reichlich Winterkleidung, und zum Vorschein kam Lily, das Gesicht gerötet von der Kälte im Freien.

„Guten Morgen, und dir auch ein fröhliches Jul, Herr Beutlin.“ Sie holte ein Päckchen aus ihrer Rocktasche. „Ich hab nicht viel Zeit... ich habe einen Korb mit Julbestellungen draußen gelassen, und ich hab meiner Mutter versprochen, sie vor dem Elf-Uhr-Imbiss auszuliefern. Und mein Vater hat eine üble Erkältung.“

„Oh. Es tut mir leid, das zu hören. Ich hoffe, es geht ihm bald besser.“ Er schaute neugierig auf das Päckchen hinunter. „Das ist ein Geschenk für mich? Ehrlich gesagt hatte ich gar kein Geschenk von dir erwartet.“

„Du bringst mir jetzt seit fast einem halben Jahr Elbenbuchstaben und die Elbensprache bei, und du bist immer geduldig und freundlich gewesen. Wenn du schon kein Julgeschenk von mir erwartest, dann doch wenigstens ein ,Dankeschön’.“ Und, nach einem kurzen Moment des Schweigens: „Ich weiß, normalerweise würdest du bis heute Abend warten, aber... könntest du einen Blick darauf werfen und mir sagen, ob es dir gefällt?“

„Aber sicher.“ Er entfernte sorgsam das steife, braune Papier, dass den weichen Inhalt bedeckte, und dann sah er ihr Geschenk im Licht der Lampe auf dem Tisch. Für einen kurzen Moment hielt er den Atem an und starrte sprachlos darauf herunter.

Es war eine Weste, säuberlich zusammen gefaltet und aus feinem, tiefgrünen Samt genäht. Die Vorderseite war mit winzigen, goldenen Blüten und Blättern übersät, jede einzelne davon wunderschön, zart und vollkommen gestickt; er konnte sich nicht einmal ausmalen, wie lange sie dazu gebraucht hatte, das fertig zu bringen.

Voller Staunen schaute er sie an.

„Das ist für mich?“ Er schüttelte den Kopf. „Aber Lily – das ist zu viel, wirklich.“

Sie lächelte ihn an. „Ich würde sagen, es ist nicht genug.“ antwortete sie einfach. „Und nebenbei... ich hatte dir versprochen, sie eines Tages für dich zu machen.“

„Du hast es versprochen? Wann?“

„Vor zweiundzwanzig Jahren.“ Das Lächeln wurde breiter und erfüllte ihre Augen. „Als ich auf dem Mittsommer-Jahrmarkt verloren gegangen bin und du auf mich aufgepasst hast, während Bilbo Beutlin nach meinem Vater suchte.“ Sie bemerkte seinen verwirrten Gesichtsausdruck und fügte hinzu: „Ich habe dir damals gesagt, dass ich dich nicht mehr für einen unverschämten Erbschleicher halte... obwohl das ganz genau Frau Lobelias Worte waren, als du nach Hobbingen gekommen bist.“

Frodo lachte.

„Du hast eindeutig ein besseres Gedächtnis als ich,“ gab er zu, „und was Lobelia angeht... ich bin froh, dass ich vergessen habe, wie sie mich genannt hat. Hast du wirklich versprochen, mir eine Weste zu machen?“

„Um ehrlich zu sein, das ist schon die zweite, die ich für dich gemacht habe.“ sagte sie. „An dem Tag auf dem Jahrmarkt hat du die allererste Weste getragen, die ich je besticken durfte. Sie war braun, mit einem Vorderteil aus Seide, mit goldenen und grünen Blättern.“

Er erinnerte sich noch immer nicht wirklich an diesen Moment... aber er erinnerte sich an die Weste. Seine ersten Jahre in Hobbingen waren ein manchmal mühsamer Kampf um Eingewöhnung und Vertrautwerden gewesen, und die Julfeste bedeuteten Meilensteile in dieser Entwicklung. Bilbo hatte es nie versäumt, besondere Geschenke zu finden, bedachtsam und mit Liebe ausgewählt. Das erste Jul war es eine feine Schreibfeder mit Schwanengefieder gewesen, das zweite ein teurer, mit Lammfell gefütterter Mantel. Im Jahr darauf hatte Bilbo ihm eine Zwergenpfeife geschenkt, wunderschön geschnitzt, den Kopf mit Silberbändern geschmückt, gefolgt von einem Holzkästchen mit handgeschöpftem Papier, passenden Umschlägen und Siegelwachs. Und im fünften Jahr war die Weste das Geschenk gewesen... schimmerndes Dunkelbraun, die Blätter ein feines, elegantes Muster, das die Vorderseite herunterlief.

„Ich weiß nicht, ob ich dir je anständig für die erste gedankt habe, die du für mich gemacht hast.“ sagte er und verbeugte sich leicht. „Aber ich habe sie immer mit Dankbarkeit und Stolz getragen... und jetzt merke ich, dass ich Grund genug habe, dir gleich zweimal zu danken.“

Lily griff nach dem Schal und dem Mantel, den sie über die Lehne des Küchenstuhles geworfen hatte. „Ich muss jetzt gehen.“ Sie zögerte; ihr Blick hing noch immer an dem grünen Samt in seinen Händen. „Ich bin froh, dass sie dir gefällt.“ Sie wandte sich in Richtung Tür. Und plötzlich wusste er, womit er ihr Geschenk erwidern konnte.

„Warte --- ich habe auch etwas für dich. Wenn du noch eine Minute Zeit hast, dann hole ich es sofort.“

Er ließ sie in der Küche stehen, eilte ins Studierzimmer und nahm etwas vom Schreibtisch. Er schaute auf sein improvisiertes Geschenk hinunter und wusste, dass es schwer sein würde, einen Ersatz zu finden... aber nichtsdestoweniger fühlte es sich völlig richtig an. Es war eine hoch verdiente Belohnung für ihren Fleiß und ihren Hunger nach Weisheit und Wissen, der ihn immer wieder überraschte.

Als er in die Küche zurückkam, war das Geschenk hinter seinem Rücken verborgen.

„Mach die Augen zu.“ ordnete er an; plötzlich fühlte er sich so unsicher wie ein Zwanziger.

Sie gehorchte, ein kleines Lächeln auf den Lippen.

„Streck die Hände aus. Sehr gut – und jetzt darfst du hinschauen.“

Sie öffnete die Augen wieder - und sie wurden weit vor Ehrfurcht. Es war das Sindarin-Wörterbuch.

„Oh... oh. Aber du kannst doch nicht... das ist viel zu...“

Sie starrte ihn an, öffnete den Mund und machte ihn wieder zu. Dann tat sie etwas, das er niemals erwartet hätte. Sie machte einen schnellen Schritt auf ihn zu, warf die Arme um seinen Hals und hielt ihn in einer plötzlichen Umarmung. Ohne nachzudenken erwiderte er sie, eine Hand flach auf ihrem Rücken, die andere instinktiv in ihrem dunklen Haar vergraben. Die Locken, die sein Kinn kitzelten, waren ein wenig feucht und dufteten nach Schnee; er spürte den jungen, schlanken Körper dicht an seinem und schnappte in ungläubiger Überraschung nach Luft.

Dann trat Lily zurück.

„Dankeschön.“ flüsterte sie. „Ich danke dir so sehr.“

Er nickte nur und sah ihr zu, während sie sich rasch in Jacke, Mantel und Schal hüllte. Sie warf ihm ein schnelles, leuchtendes Lächeln zu und war zur Tür hinaus, bevor er seine Fassung wiedergewinnen und irgendetwas sagen konnte, das Sinn machte.

Er ging zum Fenster hinüber und beobachtete sie durch das dicke, unebene Glas... eine verschwommene Gestalt, die ihren eigenen Fußspuren den verschneiten Pfad entlang zum Gartentor folgte.

Lily.

Er hatte schon viele Geschenke bekommen, zu vielen Julfesten... aber dies hier war ganz gewiss das süßeste von allen. Er konnte noch immer ihre Wärme spüren.. und ihren Duft, grün und frisch wie ein Frühlingsmorgen mitten im Winter.

Lily.


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