Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


4. Kapitel
Neues Wissen

Es war kaum vierzehn Tage nach Mittsommer, als Lily eines Tages von einem Liefergang zurück kam und Amaranth Brockhaus entdeckte, die auf einem Randstein saß, dicht an der Biegung, wo sich der Weg in zwei verschiedene Richtungen gabelte. Die alte Hebamme war blass; ihr Körper war zusammengekrümmt und als Lily näher kam, hörte sie ihren Atem, mühsam und mit einem pfeifenden Geräusch, das ihr überhaupt nicht gefiel.

„Mutter Brockhaus, geht’s dir gut? Kann ich dir helfen?“

Amaranth hob den Kopf und Lily sah, dass ihre Lippen bläulich verfärbt waren.

„Nein...“ sagte sie. Sie sprach mühsam und keuchend. „Es ist bloß das Alter. Mach keine Umstände, Kind.“

„Es ist nicht bloß das Alter, und das weißt du ganz genau!“ widersprach Lily. „Deine Lippen sind blau und da... siehst du? Deine Hände sind kalt. ich kann dich so nicht alleine lassen.“

Amaranth starrte sie an. „Es geht schon vorbei." sagte sie ungeduldig. „Geh nach Hause. Deine Mutter braucht dich."

„Meine Mutter braucht mich ständig.“ sagte Lily und ließ sich in dem sommerwarmen Gras neben dem Randstein nieder. „Aber sie kann ein Weilchen warten, und ich auch.“

Amaranth schaute auf das junge Mädchen hinunter, das inmitten seiner ausgebreiteten Röcke saß, und endlich gab sie ein kurzatmiges Lachen von sich.

„Du bist ganz schön stur, Lily... aber Dankeschön. Ich bin sicher, ich fühle mich bald besser.“

Sie rieb sich die Stirn und Lily sah zu, wie wenigstens ein wenig Farbe in das alte, erschöpfte Gesicht zurückkehrte, während sich ihre mühseligen Atemzüge verlangsamten.

„Ich komme gerade von Merle Dornbusch,“ sagte die Hebamme mit einem Lächeln. „Sie hat ihre zweite Tochter auf die Welt gebracht, eine kleine Primula.“

„Das Baby ist da?“ Lily sprang auf die Füße, ihre Augen leuchteten vor Freude. Merle hatte vor zwei Jahren geheiratet, und das Mädchen, das beinahe jedem Jungspund in Hobbingen den Kopf verdreht hatte, war spurlos verschwunden und durch eine vollkommene Hausfrau ersetzt worden, die für niemand anderen Augen hatte als für ihren Mann... eine Veränderung, die Lily manchmal noch immer verblüffte, obwohl sie sicher war, dass Merle ihren Tom innig liebte. „Ich werde sie heute Nachmittag besuchen, wenn ich kann. Aber erst bringe ich dich nach Hause, Mutter Amaranth. Glaubst du, dass du gehen kannst?“

Die alte Hebamme versuchte aufzustehen, aber sie setzte sich sofort wieder hin.

„Ich denke, eher nicht.“ sagte sie in einem nüchternen Tonfall, aber Lily konnte spüren, dass sie unsicher war, entsetzt und verängstigt. Sie versuchte zu überlegen, was sie tun sollte, aber im nächsten Moment hörte sie das leise Klipp-klapp von Hufen und das Geklingel von Zaumzeug. Sie wandte den Kopf und sah einen kleinen Karren näher kommen, gezogen von einem braunen Pony mit sandfarbener Mähne. Auf dem Kutschbock, die Zügel lose in der Hand, saß Frodo Beutlin und hinter ihm auf der offenen Ladefläche stand ein Bierfass von ziemlich eindrucksvollen Ausmaßen.

Hätte diese Begegnung zu einem anderen Zeitpunkt stattgefunden, sie wäre vielleicht nervös und tief verlegen gewesen... seit jenem Mittsommertag war der Herr von Beutelsend beinahe ständig in ihren Gedanken; sie rief sich den Tanz wieder und wieder ins Gedächtnis, den Blick in seinen Augen, die flüchtige Berührung seiner Hände und den berauschenden Rhythmus der Trommel. Allein sein Anblick hätte ausgereicht, um ihre Wangen erglühen zu lassen.

Aber nun war alle Peinlichkeit und Scheu wie weggeblasen durch ihre Sorge um die alte Frau, und sie segnete ihre Geschick dafür, als sie ein paar schnelle Schritte vorwärts machte und sich selbst rufen hörte, klar und laut.

„Herr Beutlin, einen Augenblick! Wärst du so freundlich, uns zu helfen?“

Frodo Beutlin zügelte das Pony und der Karren blieb stehen. Er beugte sich von seinem Sitz herunter und betrachtete Lily und die zusammengesunkene Gestalt von Amaranth eine Weile, dann hatte er die Lage erfasst.

„Aber sicher, Fräulein Stolzfuß.“ Er stieg vom Karren herunter und mit seiner Hilfe und Lilys Unterstützung brachten sie es fertig, Amaranth auf die Ladefläche des Karrens und neben das Fass zu hieven. Lily setzte sich neben sie und legte ihre einen Arm um die Mitte. Frodo kletterte auf den Fahrersitz zurück und reichte eine Wolldecke nach hinten, die Lily um Amaranth wickeln konnte. Er schnalzte mit der Zunge und das Pony setzte sich in Bewegung.

Sie fuhren zu Amaranths kleinen Smial an der Straße nach Wasserau. Sechzig Jahre lang hatte sie dort mit ihrer Schwester gelebt (die beinahe genauso lange die Lehrerin von Hobbingen gewesen war), aber nach dem letzten Julfest war Campanula Brockhaus dahingeschieden, und nun war Amaranth allein. Wenn die Leute versuchten, ihr Bedauern auszudrücken, dann lachte sie nur und sagte, dass sie nach einem ununterbrochenen Wortschwall, der mehr als ein halbes Jahrhundert angedauert hatte, jetzt mehr als dankbar sei für die Ruhe. Von dem Randstein aus waren es keine zehn Minuten zu Fuß, aber Frodo lenkte den Karren sorgsam um die unebenen Stellen auf der Straße herum, so dass es beinahe zwanzig Minuten dauerte, bis er das Pony vor dem kleinen, duftenden Garten zum Stehen brachte, und inzwischen döste Amaranth an Lilys Schulter.

Lily zögerte, sich loszumachen, bevor sie Hilfe dabei hatte, Amaranth vom Karren zu hieven, also wartete sie geduldig, während Frodo das Pony festband und zur Rückseite des Karrens kam.

„Alles in Ordnung hier hinten?" fragte er gutgelaunt.

„Ja, dankeschön,“ sagte sie mit einem Lächeln, das von Herzen kam. „Ich bin sehr froh, dass du gerade rechtzeitig gekommen bist. Ich hoffe, es gibt durch deine Großzügigkeit keine Schwierigkeiten mit irgendwelchen durstigen Gästen.“ Sie deutete auf das Fass und das Vergnügen in seinen Augen erfüllte sie mit plötzlichem Entzücken.

„Oh nein!“ Er lachte. „Ich habe bloß meine Vorräte erneuert; wie du wahrscheinlich weißt, hat mein Vetter Merry Brandybock Beutelsend für einige Zeit... ähm... heimgesucht. Das letzte Fass ist buchstäblich ausgetrocknet, und Sam konnte das neue nicht holen; er kümmert sich um den Garten von seinem alten Ohm."

„Oh." In seinem Garten herumzuwirtschaften gehörte zum täglichen Geschäft des Ohm. „Ist er krank?"

„Meister Hamfast macht wegen seiner Gicht gerade eine schwere Zeit durch, und bevor ich losgefahren bin, um das Fass vom Kattunhof in meinen Keller zu holen, habe ich den alten Goderic Gutleib zum Gamdschie-Smial gebracht, um nach ihm zu schauen.“

Lily grinste. „Vater Gamdschie erkennt Dolgo Straffgürtel nicht an, obwohl er jetzt schon beinahe seit fünf Jahren Goderics Nachfolger ist; Sam hat mir erzählt, dass er ihn diesen jungen Grünschnabel nennt. Und dabei hat Dolgo schon ein paar graue Haare!“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu, plötzlich wieder schüchtern.

„Ich erinnere mich an deinen Vetter.“ sagte sie leise. „Ein hübscher Junge, und ein sehr guter Flötenspieler.“ Sie nahm all ihren Mut zusammen und fügte hinzu: „Und mir hat auch gefallen, wie du die Trommel gespielt hast. Und... und der Tanz.“

Sie spürte sein Lächeln mehr als sie es sah.

„Ich fand es auch schön.“ erwiderte er. „Und zwar sehr, Fräulein Stolzfuß. – Und jetzt wollen wir Frau Amaranth aus dieser unbequemen Lage befreien und einen Schaukelstuhl für sie suchen. Soll ich Dolgo Straffgürtel herholen? Das heißt, wenn sie keine Vorurteile gegen junge Grünschnäbel hat, natürlich.“

„ich bin ja wohl kaum ein Kartoffelsack, den man herumschleppt!“ kam die bissige Stimme der alten Frau. Sie warf Frodo einen sehr altjüngferlichen Blick zu, aber Lily freute sich, zu sehen, dass sie leicht atmete und ein viel bessere Farbe hatte. „Ich bin ja wohl kaum alt genug, um in einen Schaukelstuhl gesetzt zu werden wie irgend so ein zahnloses Großmütterchen, und ja, du kannst Dolgo holen, wenn du wirklich so nett sein willst. Er ist ein guter Junge. Nicht halb so viel Ahnung von Kräutern, wie er haben sollte, aber er tut sein Bestes.“

Der Herr von Beutelsend lächelte, kletterte vom Kutschbock und brachte eine prächtige Verbeugung vor der Hebamme zustande.

„Darf ich dir meinen Arm anbieten, Frau Amaranth?“ fragte er mit vollendeter Höflichkeit. „Natürlich bist du kein Kartoffelsack – und wenn du einer wärst, dann wäre er sehr hübsch gewebt und außerordentlich gut erhalten.“

Lily unterdrückte ein Glucksen und hörte die alte Frau kichern.

„Danke sehr, Meister Beutlin.“ sagte Amaranth, während er ihr herunterhalf, sie in ihren Smial führte und sie dabei so unauffällig wie möglich mit seinem Arm stützte. „Sechzig Jahre früher hätte ich deine honigsüße Zunge noch viel mehr geschätzt, aber ich nehme an, in meinem Alter muss ich dankbar sein für alles, was ich kriege.“

Er lachte, und Lily folgte ihnen hinein und schloss die Tür.

*****

Lily stand hinter Amaranths liebstem Ohrensessel und beobachtete, wie Dolgo Straffgürtel Amaranths Herz mit seinem hölzernen Hörrohr abhorchte. Dann stellte er ihr eine Menge Fragen: ob sie in letzter Zeit gut schlief, ob sie unter Nachtschweiß litt oder sehr oft kurzatmig war. Amaranth gab kurze, aber ehrliche Antworten. Lily, die in der blitzblank geschrubbten Küche der Hebamme einen Kamillentee gekocht hatte, fand ihn vertrauenswürdig... ein Hobbit in den mittleren Jahren mit einer leisen Stimme, langsamen Gesten und sanften Händen. Was Sams Ohm auch immer denken mochte, Dolgo wusste sichtlich, was er tat.

„Du solltest dich zur Ruhe setzen, Amaranth.“ sagte er endlich und zog ein kleines Fläschchen aus seiner braunen Ledertasche. „Oder du solltest eine jüngere Frau finden, die die gröbere Arbeit tun kann, und zwar so bald wie möglich.“ Er lächelte auf das runzlige Gesicht mit den scharfen, dunklen Augen herunter. „Da sollte dir gefallen; endlich jemand, den du dauernd herumkommandieren kannst.“

Die alte Hebamme stieß ein schnaubendes Lachen aus.

„Und wen, wenn ich fragen darf?“ Sie zuckte die Achseln. „Frauen, die meine Arbeit übernehmen wollen, sind sehr dünn gesät.“

Lily konnte die Müdigkeit in ihren Augen sehen; sie beobachtete Dolgo, der die Tropfen in einen Löffel zählte, den sie für ihn aus der Küche geholt hatte.

„... neunzehn, zwanzig.“ murmelte Dolgo, dann beugte er sich vor und Amaranth öffnete gehorsam den Mund und schluckte die Tropfen hinunter. Sie zog ein Gesicht.

„Was ist das?“

„Fingerhut.“ antwortete er. „Stärkt das Herz.“

Er kauerte sich vor ihrem Sessel nieder.

„Du musst vernünftig sein, Amaranth. Du bist kein junges Mädchen mehr... dein Körper ist müde, und ganz besonders dein Herz. Ich würde mich gern noch ein paar Jahre länger mit dir zanken, weißt du? Und wenn du so weitermachst, dann kann ich dir keine Garantie geben, dass du von jetzt an mehr hast als ein Jahr.“

Der Smial war sehr still. Lily beobachtete die alte Frau, und dann hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen:

„Was ist mit mir?“

Zwei Gesichter drehten sich in ihre Richtung, zwei Paar Augen begegneten ihrem Blick. Sie straffte den Rücken und fühlte sich immer sicherer und entschlossener.

„Ich habe ein Gutteil von der Pflege meines Vaters übernommen, ich habe keine Angst vor Krankheit oder vor Blut, ich bin kräftig und ich könnte meine Familie mit meinem Lohn unterstützen. Ich könnte dir helfen, Frau Amaranth, und du könntest mir alles beibringen, was du über Kräuterkunde und die Pflege von Frauen und Kindern weißt. Was meinst du?“

Die Hebamme sah sie an, und Lily hatte das Gefühl, als werde sie ohne ein einziges Wort geprüft; als würde Amaranth jede einzelne Erinnerung abwägen, die sie an das Hobbitmädchen hatte, von dem Tag, als sie ihr auf die Welt half bis zu dem Moment vor gerade einmal einer Stunde, als Lily sich weigerte, sie allein zu lassen, als sie sie auf dem Randstein sitzen sah.

Dann breitete sich langsam ein Lächeln über ihrem Gesicht aus.

„Großartige Idee, Kind,“ sagte sie. „Gut für mich, denn ich könnte mir kaum einen besseren Lehrling wünschen, und gut für dich, aus vielerlei Gründen. Es ist wirklich einen Versuch wert.“

*****

Es brauchte die Bemühungen von beiden, Dolgo Straffgürtel und Amaranth Brockhaus, um Lilys Eltern davon zu überzeugen, dass ihr Plan weder närrisch noch verrückt war. Um ehrlich zu sein, es war Viola, die überzeugt werden musste, denn Fredegar sah die Vorteile für seine Tochter genauso deutlich, wie Amaranth sie gesehen hatte. Er wusste, dass diese neue Aufgabe Lily viel mehr Bewegungsfreiheit geben würde; sie würde endlich aus dem Schatten des Stolzfuß-Smials heraustreten, eine neue Herausforderung und neue Freunde finden.

In der ersten Zeit sollte sie Amaranth jeden Tag treffen, damit sie ihr beibringen konnte, was sie wissen musste, danach würde sie anfangen, die alte Frau zu begleiten, wenn sie Mütter und Babies untersuchte, und endlich würde sie lernen, ihr wirklich zu helfen, wenn ein Kind geboren wurde.

Am nächsten Abend, als die Schlacht gewonnen war, ihre Brüder schliefen und Viola sich zurückgezogen hatte, saß Lily neben ihrem Vater; sie stopfte ihm seine letzte Abendpfeife und genoss seine stille Gesellschaft. Sie hatte ihm davon erzählt, wie ihr Frodo Beutlin am Tag zuvor spontan zu Hilfe gekommen war, und Fredegar schaute in die ersterbenden Flammen im Kamin und lächelte vor sich hin.

„Ein feiner Edelhobbit.“ sagte er. „Erinnerst du dich noch, wie du bei diesem Mittsommer-Jahrmarkt vor vielen Jahren verloren gegangen bist, und wie dich sein Vetter, der alte Bilbo Beutlin, aufgelesen hat? Er fand mich, wie ich verzweifelt nach dir suchte und führte mich zu der Stelle, wo er dich in der Gesellschaft des Jungen zurückgelassen hatte. Und als ich näherkam, hab ihr beide im Gras gesessen, miteinander geschwatzt und gelacht.“

Lily reichte ihm die Pfeife; sie erinnerte sich sehr gut an diesen besonderen Moment. Tatsächlich hatte sie sich seit jenem Mittsommertanz vor zwei Wochen jede einzelne Erinnerung ins Gedächtnis gerufen, die sie mit Frodo Beutlin verband, selbst noch die allerkleinste... und dies war die erste, noch immer ein starkes, leuchtendes Bild in ihrem Geist.

„Danach haben wir immer wieder einmal Marmelade und frische Kirschen als Geschenk nach Beutelsend gebracht, wenigstens ein paar Jahre lang.“ erwiderte sie. „Das haben wir schon eine ganze Weile nicht mehr getan, oder? Es war ein guter Brauch.“

„Das war es wirklich.“ Fredegars Stimme kam ein bisschen undeutlich durch die um den Pfeifenstiel zusammengebissenen Zähne und die blaue Rauchwolke, die seinen Kopf umgab. „Du könntest ja vielleicht einen Korb mit der Marmelade von diesem Jahr zusammenpacken und morgen früh den Bühl hinaufbringen. Als Dankeschön, sozusagen.“

„Warum nicht?“ Lily stand von ihrem Stuhl auf, beugte sich vor und küsste ihn auf die Wange. „Ich gehe jetzt schlafen, Papa, es war ein langer Tag. Oder soll ich bleiben und dir ins Schlafzimmer hinüberhelfen, wenn du mit deiner Pfeife fertig bist?“

„Nicht nötig, Kind.“ Fredegar deutete auf die Krücken, die neben dem Kaminsims an der Wand lehnten. „Ich komme allein zurecht. Gute Nacht, mein Mädchen.“

„Gute Nacht, Papa.”

******

Früh am nächsten Morgen – nachdem sie Frühstück gemacht, Falco daran gehindert hatte, sich von oben bis unten mit seinem Haferbrei vollzuschmieren und nachdem sie Viola versprochen hatte, am Nachmittag wenigstens zwei Kissenhüllen fertig zu sticken – stellte Lily den Korb für Beutelsend zusammen. Sie nahm zwei Gläser Kirschmarmelade, ein Glas Quittengelee und eine Flasche Heidelbeerwein vom letzten Jahr, deckte alles mit einem Tuch zu und verließ den Smial mit einem gewissen Gefühl der Erleichterung.

Der Tag war klar und versprach warm zu werden; sie erreichte das Gartentor von Beutelsend schneller, als sie erwartet hatte und hielt Ausschau nach Sam. Tatsächlich hatte sie geglaubt, sie würde ihn dabei vorfinden, wie er ein neues Blumenbeet umgrub, Astern für den Herbst pflanzte oder mit Feuereifer Unkraut jätete. Aber sie konnte ihn nirgendwo entdecken.

Als Lily den Knauf der runden, grünen Tür berührte, stellte sie fest, dass sie nur angelehnt war; sicher war Sam drinnen, kochte Tee und machte Rühreier für das Frühstück von Herrn Beutlin. Lily wusste, dass er das ziemlich oft tat und dass er mehr als einmal eingeladen wurde, mitzuessen, bevor er zu seinen Pflichten zurückkehrte. Sam hatte ihr am Abend des Festes davon erzählt, mit Freude und einer Art schüchternem Stolz in der Stimme. Er ist überhaupt nicht hochnäsig, der Herr Frodo, kein bisschen. Die Worte kamen mit überraschender Klarheit zu ihr zurück.

„Sam?”

Lily machte zwei langsame, zögerliche Schritte in die Eingangshalle, dann war sie von einem angenehmen Duft nach Orangenöl-Politur umgeben, und von alten Eichenmöbeln – eine Garderobe, ein paar alte, mit Schnitzereien verzierte Truhen und dicht vor dem Kamin ein üppig gepolsterter Lehnstuhl, der mit dunkelrotem, glänzenden Leder bezogen war. Hinter einem hölzernen Deckenbogen sah Lily zu ihrer Erleichterung einen großen Tisch, auf dem eine Schüssel mit Birnen und ein einzelner Becher stand. Schränke und Regale verbargen die Wände und in einer Anrichte war ein Dutzend Teller mit einem blauen Muster aus Blumen und Blättern auf weißem Grund säuberlich aufgereiht. Als sie sich näher heranwagte, sah sie, dass der Herd kalt war und der Spülstein rein geschrubbt. Die Küche war genauso leer wie die Eingangshalle und nichts regte sich in dem langen Korridor, der offensichtlich zu einer ganzen Anzahl anderer Räume führte. Sie stellte den Korb auf den Tisch und suchte nach einem Stück Papier und einem Bleistift, um eine Nachricht zu hinterlassen, aber sie fand nichts.

„Sam?”

Plötzlich hatte sie die Vision, wie sie dem Herrn von Beutelsend begegnete, der gerade erst aufgestanden war und durch seinen Smial spazierte, mit nichts anderem bekleidet als mit seinem Nachthemd; sie spürte, wie ihre Wangen heiß wurden und wandte sich hastig zur Vordertür zurück. Dann sah sie eine Tür auf der anderen Seite der Halle, wo sich die Fensterfront um den Bühl herum fortsetzte. Sie sah die Ecke von einem dicken Teppich und noch mehr Regale, dieses Mal vollgestopft mit Büchern. Dieser Anblick wendete das Blatt und machte sie wagemutig. Sie stieß die Tür auf, betrat das Zimmer und atmete dem Geruch nach Staub, altem Papier und Tinte ein.

Die Wände waren mit Bücherregalen bedeckt, und aufgerollte Pergamentbögen stapelten sich überall, wo Platz war. Sie ging voller Staunen herum und hob sogar die Hand, um hier und da einen Buchrücken zu berühren. Sie konnte gut lesen und schreiben, und als ihr Vater noch gesund gewesen war, hatte er ihr von seinen Fahrten nach Bree oder Froschmoorstetten oft Bücher mitgebracht. Neben dem Fenster stand ein Schreibtisch mit einem weiteren Bücherstapel auf der glänzend polierten Oberfläche, daneben lag ein auseinander gerolltes Pergament, von einem Tintenfass festgehalten. Neugierig beugte sich Lily über den Tisch; das Pergament war halb mit etwas bedeckt, das wie Buchstaben aussah, aber solche Buchstaben hatte sie noch nie gesehen. Sie waren fein gerundet, wunderschön und elegant wie ein fremdartiges Gemälde, und sie hatte keine Ahnung, was sie bedeuteten. Sie folgte den Linien mit dem Finger, aber dann hörte sie plötzlich ein Geräusch in der Halle und der Zauber war gebrochen. Sie würde die Nachricht für Sam schreiben und dann sofort gehen.

„Fräulein Stolzfuß, was tust du denn hier drinnen?“

Sie wirbelte herum, zu Tode erschrocken. Der Herr von Beutelsend stand in der offenen Tür (zu ihrer Erleichterung vollständig bekleidet) und starrte sie an.

*****

Frodo Beutlin kam von einem frühen Morgenspaziergang nach Hause. Er hatte bis fast zur Morgendämmerung seine Buchführung gemacht, weil er nach Merrys Besuch viel aufzuholen hatte, und er hatte eine schwierige Entscheidung treffen müssen. Einer seiner Pächter konnte in diesem Sommer die Pachtsumme nicht bezahlen; er war ziemlich lange krank gewesen, und Frodo hatte sich endlich dazu entschlossen, ihm das Geld vorläufig zu erlassen. Dann war er zu der komplizierten Übersetzung eines Sindarin-Textes zurückgekehrt und hatte wieder einmal heimlich seinen beschämenden Mangel an Wissen verflucht. Nach kurzer Zeit hatte er sich eingestehen müssen, dass er zu müde war, um sich anständig zu konzentrieren, außerdem hatte er stechende Kopfschmerzen, weil er den ganzen Abend und fast die ganze Nacht im Studierzimmer gesessen hatte.

Er wusste, er würde nicht einschlafen können, wenn er sich jetzt hinlegte, also nahm er seinen leichten Sommerumhang und ging hinaus, durch den taufeuchten Garten und den Bühl hinunter. Seine Gedanken wanderten müßig mit dem gleichmäßigen Rhythmus seiner Schritte, und plötzlich stellte er fest, dass er versuchte, sich an die genaue Farbe der Augen von Lily Stolzfuß zu erinnern. Ein klares, hübsches Gesicht mit einer lustigen Stupsnase und einem süßen, mädchenhaften Mund, eine kaum getönte Haut und sehr langes Haar vom Braun reifer Kastanien, dass ihr in glänzenden Locken bis fast zur Taille reichte. Er lachte leise in sich hinein, während er sich an den Tanz mit ihr erinnerte, an ihre eifrige Freude und die Leichtigkeit ihrer Schritte. Sie war ein reizendes Mädchen. Was für eine Farbe hatten ihre Augen? Bernstein? Honig? Es war dunkel gewesen, als er mit ihr tanzte, und als er sie vor zwei Tagen wiedertraf, war er zu sehr damit beschäftigt gewesen, sich um die alte Frau zu kümmern, um genauer hinzuschauen.

Er wanderte über die Brücke nach Wasserau und wieder zurück; als er den Bühl hinaufkam, wärmte ihm die Sonne den Rücken und der Tau war auf dem hohen Gras am Wegesrand getrocknet. Das Gartentor stand offen und zu seiner Überraschung auch die Vordertür. „Ich werde alt.“ murmelte er, dann trat er ein und machte die Tür hinter sich zu.

Beutelsend war sehr ruhig; Sam hatte noch immer Urlaub und arbeitete im Garten seines Ohm zweifellos ebenso hart wie er es üblicherweise hier tat. Frodo ging durch die Eingangshalle in die Küche; es war höchste Zeit für ein erstes Frühstück (und gleich danach ein zweites, wenn er seinem Magen glaubte), und als er nach der Teedose langte, entdeckte er den Korb auf dem Tisch. Er zog das Tuch beiseite und sah Kirschmarmelade, Quittengelee und eine mit Wachs versiegelte Glasflasche mit einer Flüssigkeit, die so dunkelrot war, dass sie fast schwarz aussah. Wein? Saft? Er würde es später ausprobieren müssen; alles, was er jetzt wollte, war Tee und eine Scheibe geröstetes Brot mit dieser wundersam aufgetauchten Marmelade. Von wem kam sie?

Und dann hörte er ein leises Rascheln aus dem Studierzimmer, erstaunlich laut in der tiefen Stille. Er ging auf leisen Sohlen zu der halb geöffneten Tür hinüber, stand im Türrahmen und wurde mit dem überraschenden Anblick von Lily Stolzfuß belohnt, die sich über seinen Schreibtisch beugte und das Pergament mit dem Sindarin-Fragment in der Hand hielt.

„Fräulein Stolzfuß, was tust du denn hier drinnen?“

Seine Stimme klang in dem kleinen Studierzimmer wie eine Explosion und ließ ihn genauso zusammenfahren wie sie; sie hob den Kopf und öffnete den Mund, das Gesicht kreidebleich.

„Ich... es tut mir so leid, ich habe dir nur etwas... ich meine, ich wollte.. ich hab nur einen Blick auf all die Bücher geworfen, und... es tut mir so leid!“

Ihre Augen waren riesig und dunkel vor Schreck. Honig, ganz bestimmt... Tannenhonig vielleicht. Plötzlich spürte er, wie sich sein Gesicht zu einem Lächeln entspannte.

„Nun also... ich bin sicher, du hast nichts kaputtgemacht, Fräulein Stolzfuß. Aber vielleicht ist es besser, wenn du das nächste Mal erst fragst – und bitte entschuldige die Qualität dieser Elbenschrift; ich bin überzeugt, von Bilbos Hand würde sie besser aussehen.“

Er sah, wie die Furcht langsam aus ihren Augen schwand, von Neugier ersetzt und einem plötzlichen, tiefen Interesse.

„Das ist Elbenschrift?“ Sie deutete auf das Pergament. „Und Elbenbuchstaben?“

„Ja.“ Er trat neben sie. „Das ist Sindarin, eine der beiden Elbensprachen, und zwar die einfachere von beiden.“ Er zog eine Grimasse. „Aber wie ich schon sagte, Bilbo ist viel besser darin. Er hatte den Text noch nicht ganz fertig übersetzt, als er damals fortging, und seitdem pfusche ich immer wieder einmal damit herum.“ Er grinste. „Es tut mir leid, wenn ich dadurch ein paar Illusionen zerstört habe.“

„Das sieht weder einfach noch verpfuscht aus.“ Er sah, wie ihre Fingerspitze dem feinen Bogen eines hwesta sindarinwa folgte. „Das sieht wunderschön aus, wie... wie stille Musik.“

Er sah sie an, seltsam angerührt von ihren Worten und dem instinktiven Verständnis darin.

„Kennst du denn all diese Buchstaben?“ fragte sie und hob den Kopf.

„Ja, das tue ich.“ erwiderte er. „Ich wünschte, ich könnte das selbe über die Worte sagen.“

„Würdest... würdest du sie mir beibringen?“

Er antwortete nicht; ihre plötzliche Bitte kam zu unerwartet.

Lily legte das Pergament hin, ihr Blick war geradeheraus und offen. „Ich würde sie schrecklich gern lernen; wenn du mir nicht die Sprache beibringen kannst, dann kann ich wenigstens die Buchstaben schreiben.“ Sie holte tief Atem. „Ich will ja nichts Unpassendes... es sei denn, du glaubst, dass ich mir besser nicht wünschen sollte, mehr zu lernen.“ Ein langsames Lächeln erschien in ihren Augen. „Und ich bezweifle, dass mich irgendjemand sonst in Hobbingen dies hier lehren kann.“ Wieder berührte sie das Pergament sachte mit der Fingerspitze.

Er sagte immer noch nichts.

„Ich werde Frau Amaranth bei ihrer Arbeit als Hebamme helfen, und eines Tages werde ich ihre Nachfolgerin sein.“ fuhr Lily fort. „Von jetzt an werde ich sie regelmäßig treffen, damit sie mich unterrichtet, und vielleicht kann ich von Zeit zu Zeit hierher kommen, wenn du auch mein Lehrer sein möchtest.“

Frodo seufzte. Der Schlafmangel rächte sich und machte seinen Kopf seltsam leicht; zweifellos gab es tausend Gründe, das Mädchen mit einer höflichen Ablehnung nach Hause zu schicken, aber im Augenblick fiel ihm kein einziger davon ein. Als er endlich eine Antwort zustande brachte, fiel sie völlig anders aus als beabsichtigt.

„Ich weiß nicht einmal, ob ich ein guter Lehrer bin, Fräulein Stolzfuß.“

„Und ich habe keine Ahnung, ob ich eine gute Schülerin sein werde, Aber man hat mir erzählt, dass Lehrer für ihr Fach alles wiederholen müssen, um mitzuhalten und ihren Schülern voraus zu sein.“ Sie schenkte ihm ein sonniges Lächeln und er sah das humorvolle Glitzern in ihren Augen. „Dein Sindaran würde sich bestimmt verbessern.“

„Sindarin.” Er korrigierte sie automatisch.

„Siehst du?“ Sie lachte. „Du hast schon angefangen!“

*****

Die folgenden zwei Wochen waren ausgefüllt mit Dingen, die Lily ganz neu zu lernen hatte. Sie wiederholte im Stillen die Namen von Kräutern, während sie Kissenhüllen und Laken für den Stand ihrer Mutter bestickte, sie mischte unter den scharfen Augen von Amaranth die Zutaten für ein entkrampfendes Bad zusammen und hielt zum ersten Mal in ihrem Leben eine Geburtszange in der Hand. Gleich nach Sonnenuntergang schlief sie ein und träumte von Rezepten, die in ihrem Kopf herum wirbelten, und im grauen Licht der Morgendämmerung half sie ihrer Mutter, die Tischwäsche, Bettbezüge und Schürzen für den Wochenmarkt zusammenzupacken. Aber sie vergaß die Elbenbuchstaben nicht und auch nicht ihre Verabredung mit dem Herrn von Beutelsend. Und eines frühen Abends, nachdem sie sich mit Amaranth zu einer Unterrichtsstunde getroffen hatte, klopfte sie an die grüne Tür und wurde hereingebeten.

Ein großer Pergamentbogen war an das Regal hinter dem Schreibtisch geheftet, bedeckt mit den säuberlich aufgereihten Linien des Elbenalphabets, und auf dem Schreibtisch lag ein anderes Pergament, ganz glatt und leer, daneben ein volles Tintenfass und eine frisch gespitzte Feder.

Lily stand in dem goldenen Licht, das durch das runde Fenster hereinströmte. Sie wandte sich zu Frodo Beutlin um.

„All das hast du für mich vorbereitet?“ fragte sie voller Staunen.

„Sicher.“ Er nahm ein kleines Buch vom Schreibtisch. „Das hier ist ein elbisches Sindarin-Wörterbuch: Bilbo hat es hiergelassen, als er nach seinem Geburtstagsfest damals fortging. Wenn du möchtest, dass ich dir etwas beibringe, dann will ich es auch anständig tun. Setz dich.“

Lily tat wie ihr geheißen und sah, wie er das Buch irgendwo in der Mitte öffnete. Dann nickte er und zog sich einen Hocker neben ihren Stuhl. Er nahm seine eigene Feder aus dem Ständer und fing an zu schreiben; es war ein ziemlich kurzes Wort.

„Was bedeutet das?“ fragte sie, als er die Feder hinlegte.

„Das Wort ist indil, und es kommt aus dem Quenya, der älteren Sprache der Elben; ich habe keine passende Übersetzung in Sindarin gefunden. Und Quenya werde ich dir nicht beibringen; wenn du diese edle – und sehr komplizierte Sprache - lernen möchtest, dann brauchst du einen weiseren und fähigeren Lehrer als mich.“

Er lächelte sie an.

„Das ist dein Name. Indil bedeutet Lilie.“


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