Winteratem (Breath of Winter)
von Cúthalion

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Für Ruby Nye, und für Novia (die die Idee hatte)

Ich benutze den selben Altersschlüssel wie rabidsamfan – „Hobbitalter minus ein Drittel = Menschenalter“. Das heißt, falls Frodo 28 Jahre alt ist, Merry 14 und Pippin 8, dann sind sie nach „menschlichem“ Ermessen etwa 19, 9 und vier Jahre alt.

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Du bist so kalt.

Wir haben dich in jede einzelne Decke aus unseren Bündeln gewickelt; während der ersten Stunden hast du deinen Kopf ruhelos hin- und her geworfen und ich konnte sehen, wie sich deine Augen unter den blassen Lidern bewegen. Aber jetzt liegst du still. Dein Gesicht ist so leblos wie polierter Stein. Vor einer Weile habe ich deine Hand genommen, aber ich konnte sie nicht wärmen, statt dessen zittere ich jetzt selbst.

Ich werde nie die alles verschlingende Panik vergessen, die ich gespürt habe, als du an diesem letzten verfluchten Abend direkt vor meinen Augen verschwunden bist – etwas Dunkles, Entsetzliches beugte sich über dich wie ein schwarzer Schatten der Verzweiflung, und dann hörte ich dich Worte ausrufen, die ich nicht verstand. Ich stolperte herum und schrie hilflos deinen Namen, und dann war Streicher da und seine flammende Fackel war das einzige Licht in der blinden Finsternis.

„Haltet ihn warm.“ hat Streicher gesagt, bevor er fortging. Da ist etwas heißes Wasser in dem Topf über dem kleinen Feuer und Pippin und ich wechseln uns damit ab, die grausame Wunde in deiner Schulter mit einem sauberen, eingeweichten Tuch zu waschen. Und ich kann immer noch die Furcht spüren, die in meinem Geist lauert – werden sie zurückkommen, diese Reiter, jetzt, wo wir alleine sind und ohne jemanden, der wirklich ein Schwert gebrauchen und uns beschützen kann? Kommt Streicher wieder?

Ich würde eine Menge darum geben, zu wissen, was Streicher zu Sam gesagt hat, bevor er verschwand. Seit wir Bree verlassen haben, hat Sam diesen großen, fremden, verwitterten Mann Tag für Tag mit misstrauischen Augen angestarrt. Er hat dauernd etwas vor sich hin gemurmelt, Sachen wie: „Wo bringt der uns wohl hin, dieser seltsame Kerl, über den wir rein gar nichts wissen?“ oder „Das alles wird noch in einer schrecklichen Schweinerei enden, gar keine Frage.“ Ich bin ziemlich sicher, dass Streicher das Meiste davon gehört hat, er hat erstaunlich scharfe Ohren. Aber es schien ihm überhaupt nichts auszumachen. Er lief einfach immer weiter auf diesen langen Beinen, und ich bin sicher, ohne ihn wären wir in dieser Wildnis schon lange verloren gegangen.

„Merry…?”

Deine Stimme, heiser und verwirrt. Ich beuge mich über dich und berühre deine Stirn.

„Ich bin hier, Frodo. Wie fühlst du dich?“

Am liebsten möchte ich mich selber treten. Was für eine dumme Frage – als ob ich nicht sehen könnte, wie die Schmerzen dich auffressen. Einmal mehr nehme ich deine Hand, und einmal mehr schrecke ich vor der Kälte zurück, die von deiner Schulter herunter strömt und auf meiner Haut brennt wie Eis.

Eine plötzliche Erinnerung schießt mir durch den Kopf, ohne Zusammenhang, aber schlagartig lebhaft und stark. Als ich ein Kind in Bockland war, in einem der beiden wirklich kalten Winter, an die ich mich erinnern kann, da hatten wir ein Loch in den gefrorenen Teich in der Nähe von Bockenburg gehackt und die Eisbrocken in einen alten Eimer gefüllt. Dann waren wir im Kreis darum herum gestanden und hatten Wetten abgeschlossen, wer am längsten seine Hand hineinstecken konnte. Und ich wollte nicht verlieren, was vielleicht an Pippin lag. Er war damals fünf Jahre alt und ich war sein Held, und sein Blick wich keine Sekunde von meinem Gesicht. Erst verlor ich alles Gefühl in den Fingern, gefolgt von einem wachsenden Schmerz, der mir den Arm hinaufkroch und mir die Tränen in die Augen trieb. Als wir zum Brandyschloss zurückkamen, sah meine Hand wie etwas aus, das nicht länger zu meinem Körper gehörte. Während meine Mutter völlig die Fassung verloren hatte und nach warmen Decken und heißem Tee schrie, hattest du nur den Kopf geschüttelt, warst hinausgerannt und hattest den schicksalhaften Eimer mit Schnee gefüllt. Du riebst meine misshandelten Finger mit Fäusten voller Schnee ein, bis das Blut wieder zu kreisen begann; ich saß wimmernd auf deinem Schoß, mein Gesicht an deiner Schulter vergraben. Endlich nahmst du eine der Decken, wickeltest mich darin ein und erzähltest mir die Geschichte von einem tapferen Hobbitbauern, seinem Hund und einem gefährlichen Riesen, und ich vergaß den stechenden Schmerz, die Angst und den grausigen Anblick meiner fast erfrorenen Finger und schlief in deiner Umarmung ein.

Ich schaue in dein müdes, bleiches Gesicht. Es ist seltsam... obwohl Pippin mir so nahe ist, als hätte eine Laune des Schicksals uns zu einem Geschöpf mit zwei Köpfen und Körpern gemacht, bist du immer jemand ganz Besonderes für mich gewesen... der Erste, der mich gerettet und vom Boden aufgelesen hat, als ich aus dem Kinderzimmer und den langen Korridor entlang stolperte, während meine Mutter sich ein wohlverdientes Nickerchen gönnte und keine Ahnung von meinem ersten wagemutigen Ausflug hatte. Du hast mir Lieder vorgesungen, erst die von Großvater Rory, dann die von deinem legendären Vetter Bilbo. Da lebtest du schon in Hobbingen, und ich vermisste dich schrecklich und nahm es Bilbo nicht wenig übel, dass er dich aus dem Brandyschloss entführt hatte. Du hast mir lange Briefe geschrieben, voll bebilderter Geschichten über Elben und Drachen, und als ich das mit dem Ring herausfand, war ich nicht sehr überrascht... es fühlte sich irgendwie richtig an, dass du einen Teil der Legende des „Verrückten Beutlin“geerbt hattest.

Und nun hat sich dieses Erbstück, dieser schlichte Goldreif, als entsetzliche Gefahr herausgestellt, ein mächtiges Spielzeug des Dunklen Herrschers, und es droht, Mittelerde zu zerstören. Und – was noch viel wichtiger ist für mich, auch wenn das dumm und selbstsüchtig sein mag – es droht dich zu zerstören... meinen Vetter, meinen Freund, den geliebten Bruder meines Herzens.

Ich wünschte, Streicher käme endlich zurück.

******

Du hast ein bisschen geschlafen, und Pippin wechselt den Verband aus angewärmtem Stoff um deine Schulter. Sam hat über dem kleinen, flackernden Feuer ein wenig Tee gebraut. Er hat dir trinken geholfen und deinen Körper so sorgsam festgehalten wie ein Vater sein leidendes Kind halten würde, und es gibt keinen Tee für irgend einen von uns, bis er dein Flüstern hört, dass du genug hast. Ich nehme den dampfenden Becher dankbar entgegen und lege meine Hände darum, um mir die Finger zu wärmen.

Du murmelst etwas. Dein Gesicht verliert mehr und mehr an Farbe, und als ich mich über dich beuge, verstehe ich nur ein paar vereinzelte Worte.

„... wie in diesem Winter damals. So kalt...“

Haben deine Gedanken den selben Weg genommen wie meine?

„Was kann ich für dich tun? Möchtest du noch mehr Tee?“

Du runzelst die Stirn und ich kann Pippin neben mir spüren; Furcht und Unsicherheit strahlen so stark von ihm aus, dass ich den Kopf wende, um ihm ins Gesicht zu schauen. Ich sehe den Muskel, der in seiner Wange zuckt... ein deutliches, wohl vertrautes Zeichen von Panik. Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und drücke sie beruhigend.

Wieder höre ich deine Stimme, ein heiseres Seufzen, das klingt wie das zerrissene Bruchstück eines... Liedes? Ich beuge mich so dicht wie möglich hinunter und Pippin tut das Gleiche; seine Locken kitzeln meine Wange, sie riechen nach Holzrauch und Schweiß, während wir uns beide bemühen, dich zu verstehen.

„Winteratem, so weiß und kalt...“

Pippin schnappt kurz und scharf nach Luft. Unsere Augen begegnen sich über deinem Körper, und ich sah, wie sich meine blitzartige Erinnerung in seinem Blick spiegelt.... die Erinnerung an den zweiten kalten Winter in Bockland, ein Jahr nach dem ersten mit der Geschichte rund um diesen Eiseimer. Frodo kam zu Besuch aus Hobbingen; er war vor sechs Jahren dort hingezogen. Ich war vierzehn*, und Tante Rosamunde verpasste mir eine ordentliche Abreibung, aus gutem Grund.

„Meriadoc Brandybock...“

*****

„... Meriadoc Brandybock, was ist in dich gefahren, du unverbesserlicher Lümmel?!? Als meine Tochter ihre neue, bestickte Bluse anziehen wollte, hat sie gemerkt, dass jemand die Ärmel zugenäht hat – beide Ärmel.“ verbesserte sie sich. „Und zwei von den Hausmädchen schwören, dass sie dich in der Nähe der Gästezimmer haben herumlungern sehen. Wie um Himmels Willen konntest du so was bloß tun?“

Merry stand vor seiner umfangreichen Tante (nun, nicht wirklich seine Tante, aber er war noch zu jung, um die komplizierten Verzweigungen seines riesigen Familien-Stammbaumes zu verstehen). Im Stillen verfluchte er die Angewohnheit seiner Mutter, ihre gesamte Verwandtschaft mit Anekdoten über seine lustigsten Streiche und Einfälle zu unterhalten. Eine davon war erst gestern Abend während des Essens erzählt worden; wie Merry darauf bestanden hatte, Esmeralda dabei zu helfen, den Saum von ihrem besten Rock zu flicken, als er sechs war. „Und er machte die winzigsten, geradesten Stiche, die ich je gesehen habe; ich musste den Saum nicht einmal auftrennen und neu nähen!“ sagte seine Mutter mit einem Kichern, und Merry stand hinter einem Stützpfeiler und wünschte sich, der Boden würde sich auftun und ihn verschlucken.

Und besagte Anekdote war jetzt der Grund für sein Missgeschick; Tante Rosamunde war eine von denen gewesen, die am lautesten über den bloßen Gedanken an Merry mit Nadel und Faden in den rundlichen Kinderfingern gelacht hatte, und jetzt nagelte ihr bohrender Blick ihn am Boden fest. Hinter ihr stand ihre Tochter Estella, deren Bluse der Hauptgrund für diesen Auftritt war; ihr Gesicht war rot angelaufen, ihre Augen schossen Blitze und ihre Hände waren zu Fäusten geballt.

„Du... du ekliges Scheusal du!“ schrie sie; ihr hübsches Gesicht mit den dunkelgrünen Augen war eine Grimasse der Abscheu. „Das war meine Lieblingsbluse!“ Sie wirbelte herum und verließ eindrucksvoll schluchzend den Raum. Merry (der sich trotz seines üblichen Mutwillens in der Rolle als Schurke des Tages reichlich unwohl fühlte) war gewitzt genug, den Ausdruck „Dumme Gans!“ herunter zu schlucken, der ihm auf der Zunge lag. Schließlich hatte er die Blusenärmel tatsächlich zugenäht... mit sehr sauberen Stichen, und es hatte eine Menge Spaß gemacht. (Er war auch gewitzt genug, dieses Detail nicht zu erwähnen).

Es war seine Mutter, die ihn rettete... nicht, dass er sich irgendwelche Illusionen machte; die ganze Angelegenheit würde wahrscheinlich ein ziemlich unerfreuliches Nachspiel haben, sobald sie miteinander allein waren. Aber wenigstens war sie rücksichtsvoll genug, ihn nicht öffentlich zu demütigen.

„Wirklich, Rosamunde, dein Ärger ist sehr begreiflich. Aber ich würde die Sache jetzt gern selbst in die Hand nehmen“, sagte sie liebenswürdig, aber fest. Sie schenkte Eglantine Tuk, die am nächsten Tisch saß, ein strahlendes Lächeln. „Ich bin sicher, Estella kann sich für heute Abend und für das Fest morgen eine Bluse von Petunia leihen.“ Eglantine beeilte sich, zuzustimmen. „Und Merry“, ein Blick, unter dem sein Herz sich mitten in seiner Brust verflüssigte, „Merry wird Estella mit seinen geschickten Händen eine neue Bluse nähen, und ich werde sie selbst besticken; Estella kann sich die Blumen aussuchen, die sie gerne darauf sehen würde. Komm jetzt, mein Sohn.“ Und mit diesen Worten segelte sie aus der Großen Halle, Merry im Kielwasser.----

Esmeralda war sich im Klaren darüber, dass die wirkliche Strafe die Näharbeit war, zu der sie ihn verdonnert hatte, daher fiel der Rest seiner Bestrafung ziemlich milde aus. Statt den Rest der Julfeierlichkeiten mit den Jungs in seinem Alter zu verbringen, hatte er nun die Aufgabe, sich um Peregrin zu kümmern, seinen sechsjährigen Tuk-Vetter. Es hätte schlimmer sein können, denn Merry hatte eine Schwäche für diesen kleinen, unberechenbaren Wirbelwind, aber er würde die Wanderungen mit seinem angebeteten Vetter Frodo vermissen, auf die er heimlich gehofft hatte. Der Sohn seiner Großtante Primula (die er nie kennengelernt hatte), war immer ein Quell interessanter Geschichten, neuer Lieder und Gedichte, und Merry fühlte sich in seiner Gegenwart sehr wohl.

Er war allerdings weise genug, sich in sein Schicksal zu fügen, und er genoss seine Zeit mit Klein Pippin so gut es ging. Das einzige Problem war die Tatsache, dass Pip dazu neigte, von Zeit zu Zeit spurlos zu verschwinden; am Tag vor dem großen Julfest erwischte Merry ihn endlich in der größten Speisekammer, Mund, Wangen und Kinn über und über mit Erdbeermarmelade und Zitronenzuckerguss beschmiert. Eine der Jultorten befand sich in einem beklagenswerten Zustand. Merry schleppte den kleinen Übeltäter so unauffällig wie möglich nach draußen und schrubbte ihm das Gesicht unter der Pumpe in einem der Hinterhöfe. Das Wasser war eiskalt, aber Pippin beschwerte sich nicht; er wusste ganz genau, dass Merry ihn nicht verraten würde.

Der Jultag dämmerte herauf, und Brandyschloss war voll von würzigen Düften, lachendem Flüstern und Geheimnissen in jedem Raum. Merry segnete die Tatsache, dass Pippin noch schlief und schlich sich in Frodos altes Zimmer; aber das Bett war leer und bereits gemacht. Seine Mutter sagte ihm, dass Frodo seinen Vater auf einem Ritt die Hecke entlang begleitete. Saradoc wollte kontrollieren, ob der unerwartet lange Frost irgendeinen Schaden an der Barriere angerichtet hatte, die Bockland vom Alten Wald abschirmte.

Merry seufzte, versüßte sich die Enttäuschung mit einer Handvoll Saatkuchen und gebutterter, mit Marmelade bestrichenen Mandelbrötchen und schlenderte aus der Küche, den Korridor hinunter und in die Schlafstube der Kleinen.

Er wurde von einem schrillen Tohuwabohu aus kreischenden Stimmen begrüßt. Klein Pippin war gerade aufgewacht und hatte beschlossen, dass dies kein guter Tag sei. Er saß auf dem Schoß seiner Mutter Eglantine and eröffnete den Morgen mit einem ziemlich unangenehmen Konzert. Ein halbes Dutzend anderer Kleinkinder, die eigentlich noch wenigstens eine halbe Stunde länger hätten schlafen sollen, fügten ihr Schluchzen und ihre reichlich vergossenen Tränen denen von Pippin hinzu, und als Merry um die Ecke bog, beschloss Eglantine, ihre wahrscheinlich letzte Chance zu nutzen, die verfahrene Lage zu retten.

„Merry, mein Junge, komm her und nimm ihn mit raus.“ Sie musste die Stimme erheben, um den wachsenden Aufruhr zu übertönen. „Vielleicht würde er gern ein bisschen mit dir im Schnee herumwandern.“

„Was immer dieser lärmende kleine Schreihals auch will oder nicht“, fügte Minnie, die alte Kinderfrau vom Brandyschloss, hinzu, „tu mir einen Gefallen und komm mit ihm nicht vor dem Elf-Uhr-Imbiss zurück, in Ordnung?“

Merry sah, dass Pippin die Arme nach ihm ausstreckte, brachte ein breites Lächeln zustande und hob seinen übellaunigen Vetter vom Schoß seiner Mutter herunter.

„Ich seh dich beim Mittagessen, Tante Eglantine... und dir einen schönen Tag, Minnie!“ sagte er, drehte sich um und ging davon, während der kleinere Junge auf seinen Schultern ritt.

„Er ist doch ein guter Kerl.“ sagte Eglantine und trocknete sich die Stirn.

„Ja, das ist er“, gab die Kinderfrau trocken zurück. „Aber wenn er erst einmal in die Zwanziger kommt, wird er seiner Mama ganz schön Kopfweh machen... alle beide, wage ich zu behaupten.“ ---

Mittlerweile hatten die beiden Vettern einen der großen Schränke erreicht, wo all die Pullover, die warmen Winterwesten, die Strickhandschuhe, Schals und Wollmützen aufbewahrt wurden. Dieses Jahr waren sie ungewöhnlich oft in Gebrauch, und jeden Tag wurde eine neue Ladung davon auf einem Gestell über dem großen Kamin in der Küche getrocknet. Merry staffierte Pippin mit zwei Pullovern, seinem dicksten Wintermantel, einem langen Schal und einer rotweiß geringelten Pudelmütze aus, dann verpackte er sich selbst so warm wie möglich in eine Strickjacke, einen mit Schaffell gefütterte Weste, eine dazu passende Kappe und einen zweiten Schal. Sie trotteten den Gang hinauf, und als sie den Haupteingang erreicht hatten, war Pippin leicht außer Atem. Die dicke Winterkleidung hatte nicht seine Höhe verdoppelt, dafür aber seine Breite, und er atmete die eisige Luft draußen mit allen Anzeichen der Erleichterung ein.

Merry blinzelte; der Himmel war von einem strahlenden, tiefen Blau, die Sonne war eine weißgoldene Lampe, die von oben herab wärmte. Die vertraute Landschaft erstreckte sich vor ihm unter einer dicken, weißen Decke. Der Weg zum Brandywein hinunter war frei; zwei Hobbits schaufelten jeden Morgen den frisch gefallenen Schnee weg. Merry lächelte auf seinen kleinen Vetter hinunter.

„Die Welt riecht nach Abenteuer,“ sagte er in verschwörerischem Tonfall. „Hab ich dir jemals vom Juwelenbaum erzählt?“

„Der Juwelenbaum?!?“ Pippin war auf der Stelle begeistert. „Was ist das?“

Es war ein Märchen, das Merry von Frodo gehört hatte, und er musste sich eingestehen, dass er nur noch die Hälfte davon wusste. Aber er beschloss, seine eigene Einbildungskraft zu nutzen, um zu ergänzen, was fehlte.

„Der Juwelenbaum gehört dem Winterkönig. “sagte er und machte dabei Frodos singenden Geschichtenerzähler-Tonfall nach. „Er trägt eine Krone aus Eiszapfen und ein Zepter aus Diamanten...“

„Was ist das – ein Zepptah?“ fragte Pippin neugierig.

„So eine Art Stock“, versetzte Merry, ein bisschen erbost darüber, dass seine Beschreibung unterbrochen wurde. „Er benutzt ihn, um lästigen kleinen Naseweisen wie dir eins überzuziehen. Willst du die Geschichte jetzt hören oder soll ich mir den Atem sparen?“

„Oh Merry... bitte!“

„Also schön... der König trägt eine Krone aus Eiszapfen, ein Zepter aus Diamanten und eine Halskette aus Saphiren, und...“

„Was für eine Farbe---? ”

„Blau.“ Ein gefährlicher Blick, dem von Tante Esmeralda beängstigend ähnlich.

„Oh... dankeschön.“

Sie gingen zwischen den hohen, glitzernden Wällen aus festem Schnee hindurch, Pippins kleine Hand in der größeren von Merry, und bald waren sie außer Sicht.

*****

Die Schwierigkeiten fingen mit zwei winzig kleinen, weißen Wolken am Horizont an, weich und fein wie Watte. Eine Viertelstunde später hatten sie sich zu einer Linie den gesamten Horizont entlang erweitert, und um elf Uhr herum zeigte der halbe Himmel ein tiefes, kaltes Anthrazit. Und jetzt kam der Sturm – starke Windstöße zuerst, die scheinbar gleichzeitig vom Norden und von Süden her bliesen, dann ein eisiges Heulen, dass die Gevatterinnen rennen und jedes einzelne der berühmten hundert Fenster vom Brandyschloss verriegeln ließ. Die Zimmer wurden dunkel, und überall wurden Kerzen angezündet.

Plötzlich legte Eglantine ihren nur halb gegessenen Rosinenkuchen hin, schluckte hinunter, was sie im Mund hatte und stellte die schicksalhafte Frage.

„Wo ist Pippin?“

Die lebhaften Gespräche rings um sie herum erstarben zu einem völligen Schweigen... ein Schweigen, das nur von dem schrillen Klang des Sturmes draußen unterbrochen wurde.

Esmeralda erbleichte und stellte ihre Teetasse sorgsam auf der Untertasse ab.

„Er ist mit Merry zusammen. Sie sind gegen neun Uhr heute morgen zusammen hinausgegangen; Minnie Eichenblatt hat mir das gesagt. Sie sind noch nicht wieder zurückgekommen, oder?“

„Nein, sind sie nicht.“ flüsterte Eglantine. Sie schob mit zitternden Händen ihren Teller von sich.

In der nächsten Minute geschahen drei Dinge beinahe gleichzeitig. Die Tür zur Großen Halle flog auf, und die Hälfte der Hobbits, die an den Tischen saßen, sprangen auf und starrten mit offenem Mund. Zwei weiß verkrustete Gestalten erschienen auf der Schwelle und schüttelten sich wie große Hunde. Die Schneeschicht fiel herunter und jetzt erkannten alle den Herrn von Bockland und seinen jüngeren Vetter, Frodo Beutlin.

„Entschuldige, Esmeralda, meine Liebe“, sagte Saradoc munter und schob die dunklen Locken beiseite, die ihm in die Augen fielen. „ich weiß, wir hätten uns draußen abtrocknen sollen, aber alles, was wir wollten, war ein warmes Feuer, und das ist der gemütlichste Platz im gesamten Schloss. Ihr werdet nicht glauben, wie kalt es draußen ist, und wir hatten große Schwierigkeiten, selbst den kurzen Weg zwischen den Ställen und dem Haupteingang zu finden. Man sieht nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze. Gib uns einen Lappen und wir wischen die Schweinerei auf, versprochen.“ Er schaute sich um und bemerkte plötzlich die unbehagliche Stille. Er straffte den Rücken, und langsam wich das Lächeln aus seinem geröteten Gesicht.

„Esmie, was ist los?“

„Merry.“ erwiderte seine Frau, ihre Stimme unnatürlich ruhig. „Er ist vor etwa zwei Stunden zu einem Spaziergang aufgebrochen, zusammen mit Pippin. Und sie sind nicht zurückgekommen.“

Ihr Mann warf ihr einen alarmierten Blick zu; Frodo öffnete den Mund und machte ihn wieder zu, sein Gesicht weiß vor Schreck. Saradoc holte tief Luft.

„Aber das heißt---“

„Ja“, sagte seine Frau; ihre Augen waren dunkel vor Angst, ihre Stimme zum ersten Mal unsicher. „Natürlich heißt es das.“

Und in diesem Moment vergrub Eglantine Tuk das Gesicht in ihrer weißen Leinenschürze und brach in Tränen aus.

*****

Während Eglantine an der Schulter ihres Schwagers schluchzte (und Saradoc still die Tatsache verfluchte, dass Paladin in den Groß-Smials geblieben war), und während Esmeralda Brandybock neben Merrys leerem Bett stand und sein Lieblingsspielzeug, ein kleines Holzpferd, zwischen ihren Fingern hin- und herdrehte, dachte ihr einziger Sohn über seine Lage nach und fand, dass sie ziemlich verzweifelt war.

Es war ein sehr angenehmer Spaziergang gewesen, selbst, als sie den Weg verließen, durch den Schnee stapften und bis zu den Knien einsanken. Pippin plapperte fröhlich davon, den Juwelenbaum zu finden und darüber, Edelsteine in allen Farben des Regenbogens zu pflücken und endlich so reich zu sein wie „Onkel Bilbo Beutlin von Beutelsend“. Sie bemerkten nicht, wie sich der Himmel verdüsterte, bis Pippin sagte: „Ich hab Hunger. Hast du ein Picknick mitgebracht, Merry?“ Merry hob den Kopf, und jetzt sah er die massive Wolkenwand, die die Sonne verbarg. Er bezähmte seine plötzliche Nervosität und tätschelte Pippin die Schulter.

„Nein, hab ich nicht, du kleiner Nimmersatt.“ bemerkte er, „Weißt du was? Lass uns wieder nach Hause gehen; Mama wartet mit einem Elf-Uhr-Imbiss, mit dem bist sogar du zufrieden.“

Sie machten sich auf den Heimweg, und zuerst kamen sie gut voran; Merry konnte ihren eigenen Fußspuren folgen, und er wusste, dass der geräumte Weg nicht weiter als 500 Meter weit voraus lag. Aber dann wurden Pippins Beine zuletzt doch schwer und müde, und er fing an, sich zu beschweren und zog seinen Vetter am Schal. Der Schnee war zu tief, um den Kleinen zu tragen, also versuchte Merry, Pip zu helfen, in dem er langsamer lief. Dann wurden sie von der ersten Sturmbö getroffen und Merry schwankte und wäre beinahe in eine tiefe Schneewehe gefallen. Jetzt begriff er die Gefahr, versuchte, sich schneller zu bewegen und zog Pippin hinter sich her.

„Merry, halt!“ wimmerte Pippin. Der Schnee hatte ihm Spaß gemacht, aber jetzt bekam er Angst. „Merry, halt! Meine Füße tun weh!“

Merry antwortete nicht. Der Wind brachte jetzt die erste Flocken mit; aber nicht die großen, schönen, die sanft vom Himmel herabschwebten. Diese hier waren hart wie Hagel, sie stachen sein Gesicht wie mit feinen, spitzen Nadeln. Mit plötzlichem Entsetzen erkannte er zwei Dinge; ihre Fußspuren verschwanden unter den eisigen Schauern und das Licht verblasste so rasch, dass er sich nicht langer orientieren konnte. Pippin strauchelte und fiel mehr als einmal (was die Sache auch nicht gerade leichter machte), und dann verwandelte sich die Welt rings um ihn her in ein heulendes Schwarz mit Schnee und Wind aus allen Richtungen gleichzeitig.

Was ihnen das Leben rettete, war ein umgestürzter Baum, den Merry gerade noch sah, bevor alles andere außer Sicht verschwand. Er packte Pippins Handgelenk mit festem Griff und zerrte ihn dorthin hinüber, wo der Baum – eine riesige Eiche – seine Wurzeln wie lange Krallen in die Luft reckte. Darunter befand sich ein tiefes Loch im Boden, wo für wahrscheinlich mehr als hundert Jahre die Wurzeln gewesen waren. Die beiden stolperten über den gefrorenen Boden, verloren das Gleichgewicht und stolperten kopfüber in das Loch, blind und zitternd vor Panik. Merry fand sich auf dem Rücken liegend wieder; Pippin war quer über seiner Brust zusammengesackt, schluchzte hysterisch und vergrub die kleinen Fäuste in den dicken, nassen Locken seines Vetters.

„Autsch, Pippin! Autsch – lass los!“ Aber gleichzeitig drückte er ihn fester an sich, von bohrender Furcht erfüllt. Niemand weiß, wo wir sind, dachte er, niemand wird uns finden. Er löste die eisigen kleinen Finger aus seinem Haar und hielt sie zwischen seinen Händen. Ich hätte ihm Handschuhe geben sollen... Seine Augen füllten sich mit Tränen und er rang mit aller Macht darum, nicht zu weinen.

*****

Am frühen Abend legte sich der Sturm. Der Weg, der vom Brandyschloss zum Fluss hinunter führte, war vollständig verschwunden; Saradoc schickte ein Dutzend Hobbits mit Schaufeln aus, um ihn wieder zu räumen. Er wusste, dass ihm erschreckend wenig Zeit blieb, um seinen Sohn und seinen Neffen noch bei Tageslicht zu finden, und innerhalb kürzester Zeit verließen Suchtrupps das Schloss und erkämpften sich ihren Weg in alle Richtungen.

Frodo brach zusammen mit Fredegar Bolger auf (der große Schwierigkeiten hatte, mit seinem Vetter Schritt zu halten, denn der war nur halb so breit und hatte entschieden die längeren Beine). Sie stapften um die Ställe herum und wandten sich nach Westen; dabei riefen sie nach Merry und Pippin. Ihre Stimmen trugen weit und mischten sich mit denen der anderen Suchtrupps, aber es kam keine Antwort. Nach einer halben Stunde fand Fredegars Teilnahme an der Suchaktion ein jähes Ende, als er über eine verborgene Wurzel stolperte und sich den Knöchel verstauchte. Frodo war gezwungen, nach dem nächsten Trupp in der Nähe zu rufen; der trug den unglückseligen Freddy zurück zum Schloss. Frodo sagte ihnen, er würde nur noch ein kleines Weilchen weitersuchen, and dann stand er allein unter dem rasch dunkler werdenden Himmel. Er wusste, dass es gefährlich war, zu lange zurückzubleiben; er konnte sich verirren und in der schneebedeckten Leere ebenso verloren gehen wie seine Vettern. Aber dann dachte er an Merrys lachende Augen, and Pippins Kichern und seinen Mutwillen, und er hatte schlichtweg nicht das Herz, zu früh aufzugeben.

Er kämpfte sich weiter in westlicher Richtung; von Zeit zu Zeit kreuzte er die Fußspuren einer anderen Suchtruppe und spähte mit zusammen gekniffenen Augen in das dämmerige Licht des Julabends. Jenseits des langen, weißen Abhanges sah er das graue Band des Brandywein, der sich zwischen seinen schneebeladenen Ufern dahin wand und kleine Eisschollen in der Strömung mit sich trug. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, dehnte die Schultern unter der Last des großen Rucksacks... und dann hörte er das Horn von Bockland. Der Klang hallte von den weißen Hügeln wider, ein trauriges Signal, die Suche einzustellen und nach Hause zurückzukehren. Beim Gedanken an die Gesichter von Saradoc, Esmeralda und Eglantine schloss sich eine kalte Faust um sein Herz, und sein Mund wurde zu einer schmalen, entschlossenen Linie. Nur noch ein paar Minuten, versprach er sich selbst. Ich bin sicher, allzu weit sind sie nicht gekommen... Pippin ist viel zu klein, um in diesem Schnee lange Strecken zu wandern. Oh Sterne, wo sind sie bloß?

„Merry? Pippin?”

Direkt voraus sah er eine sehr große, umgestürzte Eiche, die Baumkrone ein dunkler Schatten über einer Schneewehe. Er tastete sich an dem dicken Stamm entlang und erreichte den riesigen Wurzelballen.

„Merry? Pip?”

„H...Hallo? ist da jemand? Hilfe!“

Er stand stockstill, sein Atem eine weiße Wolke rings um seinen Kopf.

„Merry? Bist du das?“

„F…Frodo?”

„Merry!?!”

Er hastete um die Wurzeln herum und sah... nichts. Er schüttelte seinen Kopf in verwirrtem Unglauben.

„Merry? Wo bist du, Junge?“

„Hier – unter den Wurzeln!“

Jetzt begriff Frodo. Er fing an, mit beiden Händen zu graben und es gelang ihm, eine Öffnung zu schaffen, die groß genug war, um hindurch zu spähen. Und da waren sie... zwei zusammen gekauerte Gestalten mit weißen Gesichtern und blauen Lippen.

„Bist du verletzt?“ fragte er ängstlich. „Geht es Pippin gut?“

„Er ist so müde“, erwiderte Merry mit schwankender Stimme; jetzt, da die Rettung nahe schien, erlaubte er sich endlich, wenigstens ein bisschen von seiner Erschöpfung und Furcht zu zeigen. „Ich hatte Angst, dass er einschläft, und ich hab ihn wach gehalten, so gut ich konnte...“

„Gut gemacht, Merry.“ sagte Frodo mit einem Lächeln. „Ich schaffe den Schnee beiseite, dann kannst du herauskommen; ich trage Pippin nach Hause.“

Er ließ den schweren Rucksack von seinem Rücken gleiten und rieb sich die verkrampften Muskeln.

„Frodo…”

„Ja, Merry?”

„Ich fürchte, ich kann nicht laufen.“

„Wieso nicht... bist du verletzt?“

„Mein Knie.“ antwortete Merry unglücklich. „Ich hab’s nicht gleich gemerkt, aber ich hab mich wohl irgendwo angehauen, und jetzt ist es geschwollen, und es sieht furchtbar aus.“

„Fro…?”

Es war das erste Mal, dass Pippin etwas sagte.

„Was ist denn, Pipkin?“

„Ich hab Angst. Und mir ist kalt. Und ich will nach Hause.“ Seine Lippe begann gefährlich zu beben. „Ich... ich w-will meine M-Mama.“

Frodo seufzte. Was sollte er jetzt tun?

„Hör mal, Pipkin“, sagte er endlich, „ich kann dich jetzt nicht nach Hause zu deiner Mama bringen. Es ist fast dunkel, und es schneit schon wieder. Merry schafft den Weg nie im Leben, und ich werde ihn hier nicht alleine lassen, Und ich will auch nicht, dass wir in der Dunkelheit in die falsche Richtung laufen – zwei verloren gegangene Hobbits sind mehr als genug. Aber ich kann mir Holz holen von diesem umgestürzten Baum“, er segnete im Stillen die Tatsache, das er seinem enormen Gepäck eine kleine Axt hinzugefügt hatte, „und ich habe zu Essen und zu Trinken in meinem Rucksack... und ein paar Schaffelle. Und jede Menge Geschichten zu erzählen. Die Nacht wird vorbei sein, bevor du es richtig merkst, mein Kleiner.“ ----

Eine Viertelstunde später hatte Frodo die Situation verbessert, so gut es eben ging. Ein kleines Feuer knisterte in dem Loch unter den Wurzeln, er hatte eine schmale Öffnung in die Erde gegraben, um den Rauch herauszulassen und den Schneewall wieder geschlossen, um einen kleinen Raum mit so viel Wärme wie möglich zu schaffen. Merry und Pippin zitterten beide, ihre dicke Winterkleidung war kaum noch von Nutzen; sie war durchweicht und schützte sie nicht mehr vor dem Frost. Frodo dachte einen Moment lang nach, dann half er ihnen, alles bis auf die Unterhosen auszuziehen. Er streifte seinen eigenen nassen Mantel, den Pullover und das Hemd ab, setzte Pippin auf sein eines Knie und Merry auf das andere und wickelte sich und seine Vettern in drei riesige Schaffelle, die seinen Rucksack ausgebeult und zu einer schweren Bürde gemacht hatten. Jetzt war er mehr als dankbar, dass er sie mitgeschleppt hatte.

Er gab ihnen heißen, süßen Tee aus einer in Fell verschnürten Tonflasche und fütterte sie mit verschrumpelten Äpfeln, Brot aus Esmeraldas Küche und Käse. Zu seiner großen Erleichterung spürte er, wie die Wärme langsam in Pippins eiskalte Hände und Füße zurückkehrte. Die haselnussbraunen Locken unter seinem Kinn trockneten langsam in der Hitze des kleinen Feuers, und Pippin entspannte sich in seiner Umarmung.

„Sing mir was vor...“ murmelte Pippin schläfrig.

„Hmmmm... mal sehen, ob mir etwas einfällt...“ Frodo schloss die Augen und spürte das Gewicht der beiden Körper an seinem eigenen. Gute Idee... es wird ihnen helfen, bei Laune zu bleiben. Plötzlich erinnerte er sich an ein Lied, das Bilbo ihm während des letzten Julfestes beigebracht hatte, als sie spätabends allein in der Großen Halle saßen. Er lächelte in die Flammen seines improvisierten Lagerfeuers.

Winteratem, weiß und kalt
Blauer Himmel, schwarzer Wald
Eisige Blume schmückt das Glas
Weißes Tuch bedeckt das Gras

Merry seufzte und lehnte seine Wange an Frodos Brust. Langsam schwand die Furcht aus seinen graugrünen Augen.

Schneeflocke schmilzt in meiner Hand
Wein, warm und würzig, wohlbekannt
all die Gesichter am Kamin
die mit mir vor der Kälte flieh’n.

„Ich bin so müde, Frodo. Aber ich hatte Angst einzuschlafen, bevor du gekommen bist. Ich dachte, wir würden sterben.“

„Ich lasse euch nicht sterben, Merry. Morgen feiern wir das Julfest zu Hause, ich versprech’s.“

„Wirklich?“

“Wirklich. Ist dir warm genug?“

„Ja. Frodo?“

„Hm?”

„Ich bin so froh, dass du da bist.“

Mag auch der Winter stolz regier’n
Im Eiseshauch der Teich gefrier’n.
Wir feiern Jul, mit Tanz und Sang
Das Jahr geht doch den rechten Gang.

Jetzt schliefen Merry und Pippin beide, zwei warme Bündel auf seinem Schoß, ihre Köpfe dicht beieinander. Frodo beugte sich so behutsam wie möglich vor und warf eine Handvoll dicker Äste ins Feuer. Er blickte hinunter und sah, dass Pippins Finger sich um Merrys braune Hand geschlossen hatten. Er lehnte sich gegen die Wand zurück und zog die Schaffelle so dicht um sie zusammen, wie er konnte.

Und wenn die erste Blume blüht
und uns hinaus ins Freie zieht
die Wiese prangt in grünem Kleid
mit Rosenknospen weit und breit

dann leb du wohl, auf Wiederseh’n
Fort, Winteratem, du musst geh’n.
Mit Hoffnung, Wärme und mit Glück
kehrt Frühling nun zu uns zurück.

Es war eine lange Nacht, aber das kümmerte ihn nicht. Von Zeit zu Zeit nährte er das Feuer; er summte oder sang leise vor sich hin, wann immer ihm eine alte Melodie in den Sinn kam. Er hielt seine beiden Vettern an sich gedrückt und bewachte ihren Schlaf.

*****

6. Oktober 1418, mitten in der Nacht

Ich komme wieder zu mir, als ein feuchter Scheit im Feuer knistert und spuckt. Du liegst noch immer bewegungslos zwischen mir und Pippin, dein Gesicht weiß und still im rastlosen Licht der zuckenden Flammen.

„Pippin... erinnerst du dich noch an das Jul, als wir uns verirrt haben?“ murmele ich, meine Gedanken immer noch tief in der Vergangenheit.

„Was... oh ja!“ Ein schwaches Lächeln auf dem vertrauten Gesicht mit der langen Nase. „Wieso?“

„Oh... Ich denke bloß gerade an die Stunden, nachdem Frodo uns in dem Loch unter den Wurzeln von diesem großen Baum gefunden hatte. Es ist komisch... ich fühle mich immer warm und sehr wohl, wenn ich an diese Nacht denke. Ich nehme an, ich sollte statt dessen frieren.“

Pippin gluckst, seine Augen unverwandt auf dein Gesicht gerichtet.

„Erinnerst du dich, wie sie uns am nächsten Morgen gefunden haben? Wie wir um die letzte Glut von Frodos kleinem Lagerfeuer saßen, und am Rest von seinem Käse kauten, in seinen Pullover und seinen Mantel gewickelt?“

„Ja, und plötzlich standen Papa und Onkel Merimac vor unserem Loch, und Papas Gesicht wurde erst weiß, dann rot und wieder weiß, und er sagte...“

„,...eines schönen Tages bist du noch mal der Tod deiner Mutter, Meriadoc Brandybock!’“ Pippins Grinsen ist ansteckend.

„Und sie haben uns zum Brandyschloss zurück gebracht, und alle Zimmer waren mit Immergrün und Stechpalmen geschmückt, und ich hab das wundervollste heiße Bad meines ganzen Lebens genommen.“

„Und meine Mutter sagte: ,Ich lass dich nie wieder weiter weglaufen als bis zu den Tulpenbeeten in meinem Garten – nicht, solange ich deine Zimmertür abschließen kann.’“ Pippins Grinsen verblasst. „Sie war nicht sehr erfolgreich, oder?“

„Nein.“

Ich starre auf dich hinunter und nehme einmal mehr die Hand von dem verletzten Arm. Sie ist eiskalt. Plötzlich – ich weiß nicht wieso kommt deine Stimme zu mir zurück. Deine Stimme, wie ich sie gehört habe, als ich auf deinem Schoß saß, mein Gesicht an deine glatte Haut gelehnt, mein Körper in deinen Armen, gewärmt von weichem Fell und von deiner tröstlichen Gegenwart. Und ich spürte, wie das Lied durch deine Brust vibrierte und schlief ein, und die Worte folgten mir in meine Träume. Ich öffne den Mund und bin nicht sehr überrascht, als ich höre, dass ich anfange zu singen.

Winteratem, weiß und kalt
Blauer Himmel, schwarzer Wald

Ich fühle Pippins Blick, und dann stimmt er mit seinem klaren, hellen Tenor mit ein, sein Ton gedämpft, um dich nicht zu wecken.

Eisige Blume schmückt das Glas
Weißes Tuch bedeckt das Gras...

Plötzlich weiß ich, was ich tun muss. Streicher hat uns gesagt, wir sollen dich warm halten, und das werden wir, das werden wir wirklich. Ich ziehe den Mantel aus und fange an, das Hemd darunter aufzuknöpfen. Pippin hebt überrascht den Kopf , aber ich sehe, wie das Begreifen in seinen Augen aufdämmert, und er fängt ebenfalls an, sich auszuziehen.

„Herr Merry? Was um Himmels Willen tut ihr denn da?“

Das ist Sam Gamdschie. Ich kann ihm nicht übel nehmen, dass er verwirrt ist; wir sehen wahrscheinlich ziemlich eigenartig aus, wie wir mitten im beißenden Frost dieser Oktobernacht unsere Kleidung abstreifen.

„Frodo hat mein und Pippins Leben gerettet, als wir uns einmal in einem kalten Winter vor mehr als zwanzig Jahren verirrt haben.“ gebe ich knapp zurück. „Da waren wir noch kleine Jungs, und er hat uns eine ganze Nacht auf dem Schoß gehalten, damit wir nicht erfrieren; weißt du, er hat uns seine Körperwärme gegeben, und jetzt erwidern wir ganz einfach den Gefallen, nehme ich an.“

„Oh.“ Einen Moment lang ist Sams Gesicht vollkommen ausdruckslos, Dann nickt er und schält sich auch aus seinem Mantel. Er merkt, dass wir ihn anstarren, und plötzlich wird sein Gesicht von einem breiten, sonnigen Lächeln erhellt.

„Na ja...“ sagt er, „ich mein ja bloß, drei Hobbits sind besser als zwei, oder nicht?“

Wir nehmen die Decken und Mäntel weg, die wir über dir aufgehäuft haben. Es ist Sam, der dein Hemd mit sanften Fingern aufknöpft; er stützt deinen schlaffen Körper, als ich es dir über den Kopf ziehe. Die Haut auf deiner Brust und deinem Bauch ist sehr blass und unangenehm kalt. Ich lege mich rechts neben dir nieder und Pippin links, und Sam rollt sich über deinen Beinen zusammen und reibt deine eisigen Füße zwischen seinen großen, warmen Händen. Pippin hilft mir, uns alle zuzudecken, und ich lasse meinen Arm unter deine Schultern gleiten und halte seine Hand fest, wie ich es in jener Nacht vor zweiundzwanzig Jahren getan habe. Pippin wagt kaum, sich zu bewegen; er hat Angst, deine verbundene Schulter zu berühren. Aber nach einigen Minuten des Hin- und Herrutschens und unruhigen Geschiebes hat jeder von uns einen mehr oder weniger bequemen Ruheplatz gefunden, und wir beschirmen deine oh so leblose Gestalt gegen die Kälte und die Angst und die Verzweiflung... und gegen den Tod.

Es ist vielleicht nur Wunschdenken, aber ich habe den Eindruck, dass deine Haut ein kleines bisschen wärmer ist. Ich kann Pippins Gegenwart spüren und den vertrauten Druck seiner Finger, und Sam liegt wie ein lebendiger Ofen dicht an meinen Füßen.

„Frodo...“ Ich flüstere deinen Namen und ich höre deine Stimme, kaum mehr als ein leises Seufzen, aber du drehst den Kopf in meine Richtung; ohne nachzudenken beuge ich mich vor und küsse dich auf die Wange. Es ist mehr als bloß ein Wunsch... unsere Methode scheint zu wirken. Ich fühle das Lächeln auf meinem Gesicht und höre Pippin singen, seine Stimme weich und süß wie ein Wiegenlied.

... dann leb du wohl, auf Wiederseh’n
Fort, Winteratem, du musst geh’n.
Mit Hoffnung, Wärme und mit Glück
kehrt Frühling nun zu uns zurück.

Ich schließe die Augen und gleite in den Schlaf hinüber, meinen Kopf auf deiner Schulter, meine Hand auf deiner Brust.

Ich werde dich nicht sterben lassen.


ENDE


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