Der Mann, der Tomaten anbaute
(The man who grew tomatoes)
von pandemonium _213, übersetzt von Cúthalion

Er schwang seinen Arm durch die Luft und zerhieb die Rakshas von Ravana mit seinem Schwert, genau so, wie Fürst Rama es getan hatte , als er und Prinz Lakshman Prinzessin Sita retteten. Sein Herz machte einen Satz, als er das Schreien und Kreischen von König Hanumans Soldaten hörte, weit entfernt im Wald; die tapferen Affen waren unterwegs, um sich ihm im Kampf anzuschließen! Doch dann krabbelte ein blaugrüner Käfer über den Pfad. Er vergaß ganz, dass er gerade Rakshas erschlug, kauerte sich hin und sah dem Insekt zu, wie es eine Spur durch den roten Staub zog. 

„Navin, komm jetzt mit,“ rief ihn die weibliche Stimme von weiter voraus. Er blickte auf und sah Ältere Schwester, die mitten auf dem Pfad stand und auf ihn wartete. Er sprang auf, trabte in ihre Richtung und nahm ihre ausgestreckte Hand. Sein Trab wurde zu einem Hüpfen. Sie hob den Saum ihres gelben Saris und hüpfte mit ihm. Ihr Diener, Biju, folgte ihnen; er hüpfte nicht, sondern trug ihr Gepäck auf seinem starken Rücken. 

Mama würde bald ein Baby bekommen, also hatte Papa Ältere Schwester gebeten, mit ihm gemeinsam für eine Weile Sri Aman und Frau Revati zu besuchen. Papa hatte ihn geküsst und ihm gesagt, dass er, wenn er zurückkam, einen neuen Bruder oder eine Schwester haben würde. Navin war sich nicht sicher, was er davon hielt, aber er freute sich, mit Ältere Schwester zu gehen und hier bei Sri Aman in den kühlen Hügeln zu bleiben. 

Sie kamen um eine Biegung auf dem Pfad. Vor ihnen lag das weitläufige Gebäude, beschirmt von einem Wäldchen aus Neem- und Mangobäumen. Er hielt die Hand von Ältere Schwester, während sie den weißen Steinweg entlang zu der breiten Veranda des Hauses gingen. Der Diener, der im Schatten neben der Tür döste, erwachte, stand rasch auf und verschwand, nachdem er die Handflächen aufeinander gelegt und sich verneigt hatte, im dämmrigen Inneren des Gebäudes. Bald darauf kam Frau Revati – eine rehäugige Frau mit silbernen Strähnen in ihrem dunklen Zopf – auf die Veranda hinaus; ihr Sari schimmerte wie das blaue Gefieder des Pfaus, der unter den Bäumen herum stolzierte. Zwei Dienerinnen folgten ihr; eine trug ein Tablett mit einer Teekanne und Tassen, die andere eine Platte, die voll beladen war mit Dosas,eingelegtem Gemüse, Früchten und Süßigkeiten. 

Ältere Schwester legte die Handflächen zusammen und verbeugte sich vor ihrer Gastgeberin: „Namaste,Revati.“ 

„Namaste,Priyamani,“ entgegnete Frau Revati. „Bitte, setzt euch.“ Sie deutete zu den Weidensesseln mit den dicken Polstern zu ihrer Rechten hinüber, die im Schatten der Veranda standen. „Hättest du gern etwas Süßes, Navin?“ 

„Ja, bitte,“ erwiderte Navin; er war glücklich, dass Frau Revati ihn gefragt hatte, denn erinnerte sich noch von seinem ersten Besuch, dass sie wunderbare Süßigkeiten machte. Er nahm sich ein kleines Stück Badam-Kuchen, als er ihm angeboten wurde, hüpfte in einen der Sessel und aß den Leckerbissen rasch auf. Ältere Schwester und Frau Revati plauderten eine Weile über dies und das, während er still saß und versuchte, brav zu sein. Doch bald fing er an, sich umzuschauen; er fragte sich, wo er war. Er baumelte kräftig genug mit den Beinen, dass der Stuhl quietschte. 

Frau Ravati blickte ihn an, aber weder sie noch Ältere Schwester schalten ihn für seine Zappelei. 

„Hast du den Wunsch, Sri Aman zu sehen?“ fragte Revati, Er nickte eifrig. Sri Aman erzählte die besten Geschichten, und weil er und Ältere Schwester mehrere Tage bleiben würden, hoffte er, viele davon zu hören. 

„Dann komm mit mir, Navin. Er ist draußen im Garten.“ 

„Die Tomaten?“ fragte Ältere Schwester. 

„Ja! Die Tomaten. Sie werden jetzt reif. Du weißt, was für ein Aufhebens er darum macht.“ 

Ältere Schwester lachte. „Oh ja, ich weiß, wie er ist! Und ich liebe die Ergebnisse seines Aufhebens.“ 

Sie verließen die Veranda und gingen den Steinpfad entlang zur Rückseite des Gebäudes. Revati öffnete das Tor in einem hohen, geflochtenen Zaun und sie betraten einen üppigen, wundersamen Garten, voller Blumen und Gemüse. Lilien, Oleander, Paradiesvogelblumen und rote Ingwerblüten schwankten in der leisen Brise. Stangenbohnen schlängelten sich um zusammen gebundene Bambusstangen und bildeten Blättertempel. Zwiebelstrünke sprossen graugrün aus der rostroten Erde. Dicht neben den blassgrünen Rundungen der Kohlköpfe öffneten sich die Dolden der Möhrenblüte wie Spitzengekräusel. Purpurne Auberginen fingen das Sonnenlicht ein. Dort, mitten im Garten, stand vorgebeugt ein weißhaariger, alter Mann. Sein bloßer Rücken war golden und glänzte in der Sonne. Als er Navin sah, richtete er sich auf.

„Komm, Navin! Komm und schau dir meine Tomaten an!“ rief er ihm mit seinem lustigen Akzent zu. 

Navin ging an den Reihen von Okra und Kalebassenkürbissen entlang dorthin, wo Sri Aman stand. Der Junge kauerte sich auf die Fersen, um die roten Früchte zu betrachten, die zum Teil unter gezackten Blättern verborgen waren. Dann stand er auf und wandte sich zu den Frauen. Ältere Schwester lächelte und winkte ihm zu, zum Zeichen, dass er bei Sri Aman bleiben durfte, wenn er wollte. Er winkte zurück. Ältere Schwester und Revati verließen den Garten und schlossen das Tor hinter sich. 

„Siehst du? Ein paar sind jetzt vollständig rot und bereit zur Ernte,“ sagte Sri Aman. Navin starrte weiter die Tomaten an, die in dem hellen Licht beinahe rot glühten. Er streckte die Hand aus, kniff in ein Blatt und atmete den bitteren, grünen Duft ein, der durch seine Berührung frei gesetzt wurde. 

„Würdest du gern eine essen?“ fragte der alte Mann. Navin blickte auf, lächelte seinen Freund an und gab ihm damit die Antwort. 

Sri Aman pflückte eine Tomate von ihrem Stängel, wischte sie an einer sauberen Stelle seines Baumwoll-Dhoti ab und reichte sie ihm. Die Frucht war warm von der Nachmittagssonne. Navin biss hinein. Heißer Sommersonnenschein explodierte in seinem Mund; hell, süß und herb, alles gleichzeitig. Saft rieselte ihm das Kinn hinunter, während er Bissen auf Bissen aß und glückliche, schlürfende Laute von sich gab, bis nur noch der Stiel übrig blieb.

„Gut, ja?“ Sri Aman lächelte strahlend mit seinen großen, weißen Zähnen. Der Mann legte Navin seine Hand auf die Schulter. „Wir werden dich sauber machen müssen. Und mich gleich mit, damit ich mit Revati und Priyamani Tee trinken kann. Außerdem müssen wir noch mehr Tomaten und Auberginen für unser Abendessen pflücken; wieso suchen wir die also nicht zuerst aus?“ 

Navin suchte zwischen den Trieben, um die reifsten Tomaten und dann die Auberginen zu finden. Sorgsam legte er jedes einzelne Stück Gemüse in den Korb, den Sri Aman für ihn hielt. Danach pflückte Sri Aman feuerrote Pfefferschoten von buschigen Pflanzen und legte sie ebenfalls in den Korb. 

Navin folgte seinem Freund. Ihm fiel auf, dass er trotz des dichten, weißen Haars auf seinem Kopf und dem Silberhaar auf seiner Brust noch immer kräftig war, nicht so verkrümmt wie manche alte Männer in dem Dorf, wo Navin mit seiner Familie lebte. Tatsächlich war Sri Aman sehr alt; er lebte schon mehr als dreihundert Jahre, wie er Navin erzählt hatte, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren. Als Navin ihn fragte, wieso seine grauen Augen so strahlend hell waren, erklärte er ihm, dass das Blut der Yakshas in seinen Adern flösse, und sogar noch mehr; dass eine Devata seine Großmutter gewesen sei. Aber das, sagte Sri Aman, sei schon viele, viele Generationen her. Navin fand das aufregend, denn einer seiner eigenen Großväter war ein Yaksha,der tief in den Wäldern nördlich von Fürst Ramas Stadt lebte; Papa sagte, er würde ihn eines Tages kennen lernen. 

„Vielleicht sind wir ja verwandt!“ hatte er gekräht, an Sri Aman gewandt. 

„Vielleicht,“ hatte der alte Mann gesagt. „Du erinnerst mich an meine Enkelsöhne, als sie kleine Jungen waren, also will ich an dich als mein Enkelkind denken.“ 

Navin gefiel das sehr, denn seine eigenen Großväter waren tot; einer war in hohem Alter gestorben und ein anderer war während einer Tigerjagd getötet worden. Sri Aman ist mein Großvater,dachte er, während er dem Mann zur hinteren Veranda des Gebäudes folgte, wo Sri Aman den Korb mit Tomaten und Gemüse dem Koch überreichte. 

Dann stellte sich Sri Aman auf die Bodenfliesen, damit er erst den Tomatensaft aus Navins Gesicht und dann den Staub und Schweiß von seinem eigenen Körper waschen konnte. „Frau Revati sagt, dass ich nach der Gartenarbeit zu schmutzig bin, um die Badekammer zu benutzen,“ sagte er und wickelte seinen Dhoti ab. „Aber das macht mir nichts aus. Ich bade gern im Freien.“ 

Navin setzte sich abseits auf eine Fliese und versuchte, Sri Amans nackten Körper nicht anzustarren. Es war nicht höflich, aber der Kontrast von Sri Amans Haut zu seiner eigenen, Milchkaffeefarbe – gebräunt, wo die Sonne sie berührte und weiß, wo sie das nicht tat – verfehlte es nie, Navin zu fesseln. Die Haut von Älterer Schwester war ebenso bleich, obwohl ihr Gesicht und ihre Arme zuweilen „von der Sonne geküsst“ wurden, wie Navins Mutter meinte. Als er sie nach ihrer weißen Haut fragte, hatte Ältere Schwester ihm gesagt, dass viele Leute aus den Ländern, wo sie geboren worden war, so bleich waren wie sie. Navin dachte, dass das seltsam wäre, und er fragte sie, ob es Geister wären. Ältere Schwester hatte gelächelt und gesagt, nein, Geister wären sie nicht.

Nachdem er mehrere Urnen warmes Wasser über seinen Körper ausgegossen hatte, trocknete Sri Aman sich mit einem dicken Baumwolltuch ab und rieb sich Haar und Haut mit Sandelholzöl ein. Er wand sich einen sauberen, weißen Dhoti zwischen den langen Beinen hindurch und um seine Hüften, Dann streifte er sich ein langes Seidenhemd über, das ein Diener für ihn gebracht hatte; es war rot wie eine reife Tomate. 

„Also gut,“ sagte Sri Aman und nahm Navins Hand. „Es ist Zeit für meinen Tee.“ 

Als Sri Aman auf die Veranda hinaus trat, kam Revati mit einer dampfenden Tasse duftenden, schwarzen Tees zu ihm. Er nahm sie ihr aus den Händen, dann küsste er sie auf die Stirn. Er flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie erröten und kichern ließ. Sri Aman nippte an dem Tee und schmatzte vor Behagen mit den Lippen, dann setzte er sich in einen großen Ohrensessel aus Teakholz,  dem sich Polster türmten.  

Sri Aman und Revati plauderten müßig mit Älterer Schwester über die Neuigkeiten von Fürst Ramas Hof. Vor allem Revati genoss es, etwas über den Klatsch zu hören, während Sri Aman nachsichtig lächelte und meinte: „Manche Dinge ändern sich nie, ganz gleich, wo man ist. Hofklatsch ist eines davon.“ Dann wandte sich die Unterhaltung dem Handwerk von Ältere Schwester zu, etwas, das Sri Aman immens interessierte. Ältere Schwester hatte viele von Sri Amans Gartenwerkzeugen angefertigt, ebenso wie die raffinierte Pumpe, die Wasser aus den tiefen Brunnen ins Haus beförderte. 

Nach einer Weile erschlaffte Navin in seinem Sessel und gähnte so ausgiebig, dass er ein leises, müdes Geräusch von sich gab. Sri Aman sagte: „Jemand langweilt sich. Komm her, Navin, lass uns eine Partie Parcheesi spielen."

Also taten sie das. Später machten sie einen Spaziergang über das Grundstück rings um das Gebäude. Sie besuchten Jiya, die Kuh, die die Milch gab, aus der man den Joghurt machte. Sie lachten über die Possen des Wiedehopfs, dann schlenderten sie zum Kamm des Hügels hinauf, wo sie den Arbeitern zuschauten, die mit ihren Elefanten weiter unten auf der Straße an ihnen vorüber kamen. Sri Aman liebte Elefanten; er wurde so aufgeregt wie ein Junge, wenn er sie mit massiger Würde dahinstampfen sah. „Tiro! Andabon!“ rief er in der fremden Sprache aus, die ihm manchmal über die Lippen kam. 

Bald war es Zeit für das Abendessen. Die reifen Tomaten und die Auberginen, die Navin gepflückt hatten, waren jetzt im Sambar mit den feurigen Pfefferschoten gewürzt. Sie aßen auch Reis, der mit Tomaten und gerösteten Cashewnüssen gemischt war. Nach dem Abendessen gingen sie alle wieder auf die Veranda hinaus, um zuzuschauen, wie die Sonne hinter den westlichen Hügeln unterging. 

Der Himmel wurde sehr rot, und Navin sagte: „Das sieht aus, als wäre eine Tomate vor der Sonne geplatzt!“ 

Ältere Schwester, Sri Aman und Revati lachten alle. Dann entschuldigte Revati sich; sie sagte, dass sie sich um die Dienstboten in der Küche kümmern müsste.

Wieder gähnte Navin. Sri Aman öffnete seine Arme, also rutschte Navin aus seinem Sessel und kletterte Sri Aman auf den Schoß; er ließ den Kopf an der Brust des alten Mannes ruhen und lauschte auf das stetige Poch Poch seines Herzens. Bald dachte er, er würde Gesang hören, bis er begriff, dass es Sri Aman und Priyamani waren, die in der fremden Sprache miteinander redeten, die so klang, als wäre es Musik. Obwohl seine Augen halb geschlossen waren, gab er gespannt acht und versuchte, neue Wörter zu lernen. Er verstand ein paar – Gilgalad war Sternenlicht, Aer hieß Meer und Taur bedeutete Wald. Er hörte, wie Sri Aman Ältere Schwester bei einem anderen Namen nannte: Melamire. Und er hörte, wie Ältere Schwester seinen adoptierten Großvater bei einem Namen nannte, der dem sehr ähnlich klang, den er jetzt benutzte. 

Nach einer Weile waren Sri Aman und Ältere Schwester beide still, und Revatis leise Schritte kamen wieder auf die Veranda zurück. In diesem Moment fragte Navin so höflich, wie er konnte: „Erzählst du mir bitte eine Geschichte?“ 

„Ah! Also bist du nicht eingeschlafen! Sehr schön. Soll ich dir erzählen, wie die Tomaten nach Bharat gekommen sind?“ 

„Was meinst du denn damit? Es hat hier doch immer Tomaten gegeben!“ 

„Tomaten, Chilis und Kartoffeln sind nicht immer in diesem Land gewachsen,“ sagte Sri Aman, „aber jetzt gibt es sie hier. Möchtest du wissen, wie sie herkamen?“

„Ja!“ 

„Es ist eine lange Geschichte, und manches davon ist beängstigend.“ 

„Das macht mir nichts aus!“ Navin versuchte, tapfer zu klingen. „Und bei dir bin ich doch sicher,“ fügte er vorsichtshalber hinzu.

„Dann will ich es dir erzählen.“

*****

„Vor vielen Jahren,“ begann Sri Aman, „lebte ich mit meiner Familie auf einer großen Insel inmitten der westlichen Meere, weit, weit entfernt von Bharat. Die Insel war ein wunderschöner Ort, an manchen Stellen mit felsigen Küsten, an anderen mit sanften Sandstränden; grüne Felder gab es in der Mitte und eine raues Hochland, das zu einem riesigen Berg anstieg. Einer der Namen für diese Insel war das ,Land der Gabe'. Die Götter hatten es meinen Vorfahren geschenkt, zum Dank für ihren Anteil an Hilfe für das Volk deiner älteren Schwester, in einem schrecklichen Krieg gegen einen dunklen Gott.“ 

„War das Ravana?“ Navin liebte die Geschichten über die Schlachten von Fürst Rama und Prinz Lakshman gegen den dunklen Herrscher, der Fürstin Sita geraubt hatte. 

„Ja, ganz genau der. Das Land der Gabe war die Belohnung für meine Vorfahren. Es gab auch Städte und Dörfer auf der Insel, und die, die wir Armenelos nannten, hatte hohe Türme und Häuser mit Kuppeln und hoch aufragenden Säulen. Die Zitadelle des Königs befand sich in dieser Stadt.“ 

„Hast du da gelebt? War sie so wie die Stadt von Fürst Rama?“ 

„Auf manche Weise so wie sie, auf andere aber ganz und gar nicht. Ich besaß dort ein Haus, weil ich oft viel Zeit in der Zitadelle des Königs verbrachte, aber geboren wurde ich in Andunië, einer wunderschönen Stadt an der Westküste dieser Insel. Als ich noch sehr jung war, sah sich meine Familie gezwungen, in einen Hafen im Osten umzuziehen, eine Stadt mit Häusern und Kais aus weißem Stein. Damals war ich ein Seefahrer – ein Schiffskapitän. Ich segelte nicht nur auf meinem eigenen Schiff, ich kommandierte auch eine Flotte.“

„Ich war mit einem Prinzen dieses Landes befreundet; sein Name war Pharazôn. Wie waren seit der Knabenzeit Freunde, genauso wie du Haris Freund bist. Pharazôn war ebenfalls ein Seefahrer, also sind wir oft gemeinsam gesegelt. Weil ich der Fürst meines Volkes war – das von Andunië – war ich auch im Rat des Königs, genau wie es mein Vater vor mir gewesen war. Doch obwohl der Prinz und ich Freunde waren, gab es ein paar Dinge, die uns trennten. Zum Beispiel kannte und las meine Familie die Elbensprachen. Es hatte einen Bürgerkrieg in meinem Land gegeben. Diese Sprachen zu sprechen wurde als Zeichen des Wiederstandes betrachtet; und so wurde es verboten.“

„Ist das die Sprache, in der du und Ältere Schwester miteinander reden? Die, die sich so hübsch anhört?“ 

„Ja, das ist eine der Elbensprachen, die deine ältere Schwester und ich benutzen. Während Pharazôn und ich aufwuchsen, gab es viele Dinge, die zwischen uns ungesagt blieben, und das ist für eine Freundschaft nicht immer gesund... doch trotz unserer Meinungsverschiedenheiten standen wir uns weiterhin nahe. Dann wurde Pharazôn König, und er war ein mächtiger König. Er sandte seine Schiffe überall in die Welt, genau, wie die Könige vor ihm es getan hatten. Manchmal reisten die Männer meines Landes zu neuen Ländern, um Handel zu treiben und Geschäfte zu führen, aber mit der Zeit eroberten wir sie und machten sie uns untertan.“ 

„In einem anderen Land auf der anderen Seite des Meeres, weit östlich von meiner Heimat, gab es einen anderen – einen Zauberer von großer Macht – der sich selbst zum König erhoben hatte. So groß waren seine Macht und sein Wissen, dass viele Menschen in den Äußeren Landen ihn als Gott anbeteten.“ 

„War er ein Dämonengott wie Ravana?“ 

„Nein, das nicht, obwohl er einst der Diener des Dunklen Feindes gewesen war,“ sagte Sri Aman. „Er war wie Fürst Rama – das, was du einen Devata nennen würdest, und mein Volk und das deiner älteren Schwester einen Maia.“ 

„Maya,“ wiederholte Navin. „Ein Traum.“ 

„Was hast du gesagt?“ Sri Aman klang überrascht. 

Da mischte Ältere Schwester sich ein. „In Bharat bedeutet Maya genau das – Täuschung und Träume. Es bedeutet noch mehr, aber ich denke, Navin würde lieber die Geschichte hören, als über Philosophie zu diskutieren.“ 

„Navin, du bist ein kluger Junge, dass du solche Ähnlichkeiten in diesen Worten erkennst,“ sagte Sri Aman. „Ja, der Hexenkönig der Länder im Osten war ein Maia, und tatsächlich ein Meister der Täuschung. Mehr und mehr brachte er unter seine Herrschaft. Als er seine Aufmerksamkeit auf unsere größte Hafenstadt in den Äußeren Landen richtete – Umbar – da entschloss sich Ar-Pharazôn zu handeln. 

„So groß war Ar-Pharazôns Macht, dass der Hexenkönig kam, um Verhandlungen anzubieten, anstatt ihn mit Krieg zu bedrohen. Ar-Pharazôn wusste, dass diesem König nicht zu trauen war, also nahm er – wie es bei vielen siegreichen Führern üblich war – den Hexenkönig als Geisel. 

Es dauerte nicht lange, bis der Hexenkönig, der nicht nur handwerkliches Wissen besaß, sondern auch sehr überzeugend war, zu Ar-Pharazôns bevorzugten Vertrauten und Berater wurde. Er sprach gegen mich, also verbannte Ar-Pharazôn mich vom Hof.

„Also... der nächste Teil ist sehr beängstigend, Navin. Bist du sicher, dass du das hören möchtest?“ 

„Ja! Ich bin tapfer genug dafür. Papa hat mir die Geschichten von großen Schlachten erzählt.“ 

Sri Aman blickte Ältere Schwester an, die die Lippen fest zusammen presste und einmal nickte. Er fuhr mit seiner Geschichte fort: 

„Die, die gegen Ar-Pharazôn und seinen obersten Ratgeber sprachen, wurden bestraft; zuerst mit Kerkerhaft und Folter, um Informationen von uns zu erlangen. Später wurden die aus dem Widerstand, die gefangen genommen wurden, zum Tode verurteilt, als Opfer für den Gott, den man den ,Geber der Freiheit' nannte. Der Zauberer befahl, dass der Weiße Baum, der Nimloth hieß, ein Symbol der Freundschaft meines Volkes mit den Erstgeborenen – den Yakshas – zerstört werden sollte. Aber mein Enkelsohn Isildur stahl unter großen Opfern eine Frucht von dem Baum und übergab sie in meine Hände.“  

„Was ist mit deinem Enkelsohn passiert? Ist er hingefallen und hat sich das Knie aufgeschlagen? Hat er geweint?“ Navin war besorgt, als er sich den kleinen Enkel vorstellte, wie er einen abgestorbenen Baum hinauf krabbelte, um die letzte lebende Frucht zu erwischen. 

„Er war kein kleiner Junge mehr, als er die Frucht nahm, sondern ein erwachsener Mann. Das ist eine Geschichte für ein anderes Mal, Navin. Diese hier muss ich dir zuerst erzählen.“ 

„Das Volk von Númenor verlangte lautstark nach neuem Land, denn unsere Insel war übervölkert von zu vielen; die, die dort geboren waren und die, die eingewandert waren. Also schlug der Hexenkönig Ar-Pharazôn vor, er solle nach Westen segeln und sich das Land der Götter mit Gewalt nehmen – ein Land nie endender Fülle, mit vielen wundersamen Dingen. Der Hexenkönig sagte unserem König, dass diese Geschöpfe, die das Land bewachten, sich abgekehrt hätten von den Geschäften im Rest der Welt, und dass sie leicht zu erobern wären.“ 

„Ich erfuhr von diesem Ratschlag, und ich fürchtete mich sehr davor. Der Hexenkönig mochte wohl Recht haben, dachte ich, aber wir lernen auch aus der Geschichte. Die, die sich die Wächter unserer Welt nennen, und die viele für Götter halten, können zu manchen Zeiten gütig sein und zu anderen gleichgültig, aber auch zerstörerisch in ihrer furchtbaren Macht. In anderen Worten: sie sind launisch. Wer konnte also wissen, was sie vielleicht mit meiner geliebten Insel tun würden, wenn mein König sich dem Bann der Götter widersetzte und ihr Land betrat?“ 

„Ich beschloss, zu versuchen, was mein Vorfahr Eärendil erreicht hatte: in den Westen zu segeln und die Valar, wie wir diese Geschöpfe nannten, um Gnade zu bitten. Mit dreien meiner Diener entschlüpfte ich des Nachts in einem kleinen Segelboot und segelte nach Osten. Aber dann, als wir nicht länger in Sichtweite des Landes waren, wandten wir uns westwärts, um das Segensreich zu suchen.“ 

„War Eär - “ Navin zögerte und überlegte, wie er den fremden Namen aussprechen sollte. „War Eärendil dein Großvater? Wie Khalnâ – mein Großvater?“ 

„Ja, ein Vorfahr ist ungefähr das, was du Großvater nennst. Eärendil war der Abkömmling von Sterblichen, von den Yakshas und einem Devata. Dein Großvater Khalnâ ist ein Yaksha, richtig?“

„Das ist, was Papa sagt. Hast du Eärendil gefunden?“ 

„Du musst bei meiner Geschichte zuhören, Kleiner, dann wirst du es herausbekommen!“ schalt Aman ihn sanft. Navin beschloss, den Versuch zu machen, ihn nicht mehr zu unterbrechen.

„Wir segelten viele Tage und kamen sogar in Sichtweite der verführerischen Nebel, die den Übergang zum Segensreich verhüllen, aber Wind und Wellen trieben uns immer wieder davon. Doch ich gab nicht auf, und an einem grauen Tag erspähte ich die weißen Türme von Avallonë, der grünen Insel, wo die Yakshas wohnen. Wir näherten uns der Insel, aber ein gewaltiger Wind wehte aus dem Norden. Wir wurden weit vom Kurs abgetrieben, und uns ging das Frischwasser aus, was für Sterbliche wie für Yakshas gleichermaßen der Tod ist, wenn sie auf dem Meer verloren gehen. Wieder setzten wir Kurs nach Westen, entschlossen, die Küsten von Avallonë zu erreichen, aber ein schrecklicher Sturm brach über uns herein.

„Der Wind heulte wie ein lebendiges Wesen, und die Wogen erhoben sich so hoch wie Berge. Eine verschlang das Boot und trieb uns unter das Wasser. Ich war bereit, meinem Tod im Meer ins Auge zu sehen, aber ich wurde wieder auf den Gipfel der Wellen gestoßen, während ich mich an die Trümmer meines Bootes klammerte. Meine Gefährten hatte ich verloren; der Zorn von Ossës Sturm hatte sie mit sich gerissen.

„Endlich beruhigte sich die See. Ich trieb zwei Tage, an die Überreste meines Bootes geklammert, und ich hoffte, dass Ossës Wölfe – die Haie – mich nicht finden würden.“ 

„Was sind Haie?“ platzte Navin heraus, unfähig, sich zurückzuhalten. 

„Riesige Fische mit vielen Reihen scharfer Zähne. Manche sind harmlos, manche gefährlich. Sie verschlingen Menschen, aber glücklicherweise waren sie nicht hinter mir her. Ich erspähte Land am Horizont. Ich paddelte darauf zu, aber dann brach noch ein weiterer Sturm über mich herein. Dieser war nicht so heftig wie der andere, aber er reichte aus, um die Wellen aufzuwühlen und mich an Land zu spülen.“

"Die Wellen warfen mich auf goldenen Sand, Ich war damals schwach und meinem letzten Atemzug nahe. Doch ich erhob mich auf die Knie und stellte  zu meiner großen Verblüffung fest, dass eine Truhe aus meinem Boot mit mir an Land getrieben worden war. Ich zerrte die Truhe weiter das Ufer hinauf und baute mir ein Lager. Dort fand ich eine Quelle mit frischem Wasser im Dschungel in der Nähe, und Mangos, die ich essen konnte. Ich fragte mich, ob ich wohl an der Küste des sagenhaften Bharat gelandet war, denn schon einmal zuvor waren mein Sohn und ich hierher gereist und hatten Geschenke von Fürst Rama und Frau Sita empfangen, obwohl es uns nicht erlaubt wurde, sein Reich zu betreten. 

„Ich hatte allerdings nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn am nächsten Tag geschah etwas sehr Merkwürdiges – etwas, das mich beinahe das Leben kostete. Er war nicht lange nach der Morgendämmerung – die Sonne war blutig rot aufgegangen – als das Meer sich zurückzog und weiter und weiter von der Küste  fort getrieben wurde. Neugierig ging ich hinaus über den entblößten Meeresboden, auf dem viele Geschöpfe gestrandet waren, als das Meer schwand. Nachdem ich eine Weile zwischen ihnen dahin gewandert war, blickte ich nach Osten und sah, wie etwas Dunkles am Horizont anschwoll. Dann wusste ich, was es war: eine riesige Woge raste auf mich zu. Ich rannte in mein Lager zurück, so rasch ich konnte und bekam den Griff der Truhe zu fassen, als diese Wasserwand in mich hinein krachte. 

„Ich erinnere mich an nichts, was danach geschah, nicht, bis ich Stimmen hörte, die in einer Sprache redeten, die ich nicht kannte. Dann rief mich eine Frauenstimme in der Elbensprache an. Ich öffnete die Augen – und wie überrascht ich war, eine Elbenfrau zu sehen, gleich denen, die ich im Königreich meines Freundes Gil-Galad getroffen hatte! Das war sie, die du Priyamani nennst.“ Sri Aman hielt einen Moment mit seiner Erzählung inne und lächelte Ältere Schwester an. 

„Also bist du in Bharat gelandet!“

„Ja, aber ich war zu jener Zeit noch nicht sicher. Ich war weit in den Wald hinauf gespült worden; viel davon war von der riesigen Welle vernichtet worden. Durch irgendein Wunder war ich am Leben. Später fand ich heraus, dass Gerüchte über meine Gegenwart am Strand in Fürst Ramas Reich gelangt waren, so dass er einen Trupp Männer ausgesandt hatte, um mich zu finden. Doch ehe sie von den Hügeln herab kamen, sahen sie, wie die Welle das Ufer verschlang. 

„ Ich belauschte ein Streitgespräch, nachdem sie mich gerettet hatten, halb ertrunken und mit einem gebrochenen Arm. Prinz Lakshmans Ratgeber zögerte, mich in das verborgene Königreich zu bringen, aber Priyamani stritt für mich; sie sagte, dass sie dort doch wenigstens meine Geschichte hören müssten, ehe eine Entscheidung erreicht wurde. Sicherlich, sagte sie, wäre ich einer der Seefahrer aus dem Westen. Tatsächlich kannte sie sogar meinen Namen! Ich wunderte mich darüber, denn als ich uns mein Sohn Jahre zuvor hier gelandet waren, war ich hier weder ihr noch sonst irgend einem reinblütigen Yaksha.

„Ein kleines Maß Kraft kehrte zu mir zurück. Gestärkt von schwarzem Tee, der eine bittere Medizin enthielt, und von Priyamanis Ermutigung, erzählte ich meine Geschichte und sprach von der Bedrängnis meines Volkes. Ich sagte ihnen auch, ich hätte Geschenke in der Truhe, an die ich mich geklammert hatte. Der Ratgeber öffnete die Truhe; vielleicht erwartete er, Schätze zu finden. Was er sah, beeindruckte ihn nicht, aber er war nicht ohne Mitgefühl. Prinz Lakshmans Ratgeber sprach zu mir durch Priyamani, die die Worte in die Sprache übersetzte, die ich verstehen konnte. Er sagte: 

„Ich werde dich zu Fürst Rama und Frau Sita bringen, denn sie müssen hören, was du zu sagen hast; und du hast unsere Heiler nötig,“ sagte der Ratgeber. „Das bedeutet allerdings, dass du das Verborgene Königreich betreten musst. Fürst Rama bewacht es mit Sorgfalt; du wirst es also nicht mehr verlassen können.“ 

„Ich verstehe,“ sagte ich zu ihm. „Ich nehme dieses Schicksal hin, denn mir ist nun nichts mehr geblieben. Mein Herz sagt mir, dass die riesige Welle von der Zerstörung meines Heimatlandes herrührt.“ 

„,Ich fürchte, was du sagst, ist wahr,' sagte deine ältere Schwester zu mir. ,Wir spürten, wie die Erde bebte, und jetzt ist das Sonnenlicht gemindert. Nur etwas Schlimmes kann das verursacht haben. Ich würde vermuten, dass der Meneltarma ausgebrochen ist und Númenorë zerstört hat.' meinte sie, während sie meine Hand hielt, und dann nahm sie mich in die Arme, als ich um mein Volk weinte.“  

„Ältere Schwester hat mich in den Arm genommen, als ich geweint hab, nachdem mein Hündchen gestorben war.“ Das war eine sehr traurige Zeit gewesen. „Sind sie jetzt alle tot? Sogar deine Enkelkinder?“ 

„Nach den Erzählungen, die Bharat in den letzten Jahren erreicht haben, nein. Meine Enkel und Elendil – mein Sohn – sind nicht tot. Sie entkamen und leben jetzt im Nordwesten der Welt.“ 

"Willst du sie nicht sehen?“ 

„Natürlich, aber ich habe mich einverstanden erklärt, in Fürst Ramas Königreich zu bleiben. Ich kann nicht fortgehen.“ 

„Oh.“ Navin hatte nie viel darüber nachgedacht, was jenseits von Fürst Ramas Grenzen lag, aber nun war er neugierig und ein wenig betrübt, dass Sri Aman seine Enkelkinder nicht wiedersehen würde. „Was geschah als nächstes?“ 

„Ich ging mit Priyamani, dem Ratgeber und den Wachen zurück in das Verborgene Königreich. Die Wächter-Rakshas in den Nebeln gestatteten mir den Durchgang. Hier wurden durch die Künste der Heiler meine Knochen eingerichtet und ich erlangte allmählich meine Kraft zurück. 

„Fürst Rama und Frau Sita stellten mir viele Fragen, aber sie waren gütig. Frau Sita war besonders neugierig auf die Geschenke, die ich in der Truhe hatte, und anders als der Ratgeber war sie beeindruckt, als sie sie sah.

,Du sagst, diese Sämlinge kommen aus deinem Land? Dem Land der Gabe?' fragte sie und sprach meine Sprache so leicht, wie sie atmete. 

„Ja. Wir bringen die Sämlinge auf unseren langen Reisen mit, teilweise zum eigenen Gebrauch, falls wir stranden, und auch als Geschenk für andere. Manche Samen kamen als Geschenk aus Ländern tief im Süden der Welt, und andere wurden uns aus dem Land gebracht, das wir Aman nennen. Wir tragen sie immer bei uns, wenn wir das Meer befahren.“ 

„,Vielleicht aus Yavannas eigenen Händen', sagte Frau Sita zu mir. Ich muss verblüfft drein geschaut haben, denn sie erwiderte: ,Ja, ich bin aus dem Hause von Yavanna, ebenso, wie Fürst Rama zum Hause dessen gehört, den du Manwë nennst... obwohl mein Herr seine Dienst Brahma widmet, der bei euch vielleicht Ilúvatar genannt wird. Die Wächter nehmen in dieser Welt viele Gestalten an.' Sie wandte das Thema wieder meiner Notlage zu. ,Ich weiß, dein Herz wird das Meer vermissen, aber vielleicht hättest du gern ein Heim zu deinem Trost und einen Garten für deine Schätze?'

„Ich nahm ihr Angebot an. Ich kam hierher in die Hügel, wo ich mein Haus baute und die Sämlinge einpflanzte, die zu Tomaten und Chilis heran wuchsen. Ich grub die Augen der kleinen Knollen ein, aus denen Kartoffeln wurden. Mit dem Segen von Frau Sita wuchsen sie kräftig, und die Vögel und Tiere des Waldes wussten, dass sie sie nicht fressen durften, weil sie unter dem Schutz der Herrin standen. 

„Revati war die erste, die in meinen Garten kam und eine Tomate aß. Sie liebte sie genauso sehr wie du. Damm machte sie Sambar aus den Tomaten und würzte es mit den Chilis und dem schwarzen Pfeffer, der bereits hier wuchs. Revati kam wieder und wieder in meinen Garten; sie kochte viele schmackhafte Gerichte für mich und nahm dafür die Gemüse, die ihr neu waren. Die Pflanzen gediehen, und mit ihrer Hilfe verschenkte ich Samen, Setzlinge und Knollen an viele andere. Also, du hättest nie gewusst, dass Tomaten, Chilis und Kartoffeln aus fremden Ländern herkamen. Sie sind ein Teil der Faser dessen geworden, was Bharat ausmacht.“ 

Navin dachte darüber nach. Der Dichter, der in diesem Dorf lebte, hatte von einer schönen Frau gesungen, deren rote Lippen er mit reifen Chilis verglich. Es war schwer, sich vorzustellen, dass sie von woanders her gekommen waren. Dann stellte Navin eine sehr dreiste Frage: 

„Hast du dich da in Frau Ravati verliebt? Als sie Sambar für dich gemacht hat? Hat sie auch Süßigkeiten für dich gemacht?“ 

Sri Aman gluckste und blickte zu Revati hinüber, die sein Lächeln erwiderte. 

„Ja,sie machte Süßigkeiten für mich. Zwischen uns wuchs Freundschaft,“ sagte Sri Aman. „Sie begriff meinen Verlust, denn sie war selbst Witwe. Dann erblühte etwas mehr zwischen uns beiden. Ich hätte nie gedacht, dass ich wieder heiraten würde, nachdem meine erste Frau im Land der Gabe starb, aber mit einem neuen Leben hier kam eine neue Liebe.“ 

„Priyamani kam mich auch oft besuchen; sie bedeutete für mich ein gewisses Maß an Vertrautheit, denn auch sie stammt aus dem Westen, und wie ich war sie einst eine Fremde in einem fremden Land. Sie erzählte mir von einem anderen deiner Vorfahren, dem Mann, der Sharif hieß, und von seinem Stamm... wie sie ihr das Leben retteten und sie mitnahmen, wie sie die Schwester ihres Stammes wurde und es für seine Abkommen blieb, und das bist du, Navin. Von ihr – und von meinen Tomaten – lernte ich, dass man in fremder Erde eingepflanzt werden, von dem dort lebenden Volk angenommen werden und aufblühen kann.“ 

„Vermisst du das Meer?“ fragte Navin. 

„Manchmal, doch mein Leben hier ist reich. Ich bin es zufrieden, den Rest meiner Tage hier in den Hügeln von Bharat zu verbringen.“ 

Als Sri Aman seine Erzählung beendet hatte, war die Nacht herabgesunken, und Navin hatte es noch nicht einmal bemerkt. Eulen riefen zwischen den Bäumen, Grillen zirpten im Gebüsch und der Duft von Jasmin erfüllte die weiche Luft. Weit entfernt im Wald brüllte ein Tiger auf der Jagd. Navin schauderte vor Angst, aber Sri Aman umarmte ihn und drückte ihn fest an sich. 

„Mach dir keine Sorgen! Du bist sicher, mein Kleiner. Da! Schau über die Bäume – siehst du den Abendstern?“ 

Navin hob die Augen zum westlichen Himmel. Das war der Abendstern; er leuchtete hell. 

„Es gibt eine Geschichte, die sagt, dass mein Vorfahr Eärendil das Segensreich erreichte und den Zauberjuwel bei sich trug, den der Vorfahr deiner älteren Schwester geschaffen hat. Die Götter hießen ihn in ihrem Land willkommen und machten ein großartiges Schiff für ihn, mit dem er jetzt in den Himmeln segelt, den Juwel auf der Stirn.“ 

„Haben dich die Götter deshalb nicht in ihr Land gelassen?“ fragte Navin. „Weil du keinen Edelstein hattest?“ Navin wusste von anderen Geschichten, dass Götter und Herrscher oft Geschenke haben wollten, bevor sie einem Mann ihre Segnungen zuteil werden ließen. 

Sri Aman antwortete nicht sofort, doch dann sagte er: „Das mag sein. Wenn ich ihr Land betreten hätte, selbst mit einem Juwel, hätten sie mir wohl Gnade erwiesen? Oder hätten sie mich erschlagen? Ich weiß es nicht. Aber was ich weiß, ist, dass ich überlebte, an diese Küsten gelangte und ein neues Leben anfing. Vielleicht ist das das beste Geschenk von allen.“ 

„Erzählst du mir die Geschichte von deinem Vorfahr und dem Zauberjuwel?“

„Nicht heute Abend. Es ist eine lange Geschichte, und dunkel ist sie auch. Ich will dir statt dessen ein Lied über ihn vorsingen.“ 

Dann sang Sri Aman mit seiner vollen Stimme in der Sprache von Bharat, damit Navin die Strophen verstehen konnte. Der Junge drückte das Ohr an Sri Amans Brust; nun hörte er das Lied von innen und von außen und betrachtete, wie der Abendstern zu strahlen anfing, als das letzte Licht hinter den westlichen Hügeln verging.

Eärendil stieg auf, wo der Schatten fließt
Am stillen Meeresrand
Durch den Mund der Nacht als ein Strahl des Lichts
An schroff dämmerndem Uferband
Wie ein Silberfunke die Barke stieß
Vom letzten, einsamen Sand
im Sonnenlichtatem des sterbenden Tags
Segelt er von Westerland.

Er suchte den Weg sich auf der Spur
Des Strahls, den die Sonne nährt
Und trieb vorbei am nahen Stern
In seinem schimmernden Gefährt.
Auf der schwellenden Flut des Dunkels fahren
Des Himmels große Galeeren
Und schmücken die Nacht mit Segeln aus Licht
Wenn den wandelnden Stern sie queren.

Trotz aller Anstrengung, sie offen zu halten, fielen Navin die Augen zu, und er träumte von einem kristallenen Schiff, das zwischen den Sternen hindurch segelte. Starke Arme hoben ihn hoch, doch Sri Amans Stimme schwankte nicht. 

Er zieht an den blinkenden Schiffen vorbei
Ein Geist, der ruhelos schnellt
Auf endloser Fahrt durch den dämmrigen Westen
Bis über den Rand der Welt;
Und er durcheilt die blitzende Weite
Das Dunkel, aus dem er stammt
Das Herz erfüllt von heißem Verlangen
Und das Antlitz silbern umflammt.

Nun lag er in einem weichen Bett. Sanfte Hände deckten ihn mit einem Baumwolltuch zu, und noch immer wob die Stimme die Geschichte. Navin träumte, dass er über Wolken dahinflog, die im silbernen Licht des Mondes badeten.

Rasch naht das Mondschiff vom Osten heran
Wo im Hafen  die Sonne wohnt
Weiß glänzen die Tore im Strahle dann
Vom mächtigen Silbermond.
Sieh! Schwellende Wolkensegel gehißt
Hoch den Anker, wo tief es dämmert
Mit schimmernden Rudern vom Flammenufer
In der Barke, aus Silber gehämmert.

Dann ging das Lied zu Ende, und ein Kuss berührte warm seine Stirn. Navin öffnete die Augen halb und sagte: „Gute Nacht, Großvater.“ Danach, als er sich auf die andere Seite drehte, sah er durch das Moskitonetz, das rings um sein Bett drapiert war, den Abendstern in sein Fenster scheinen. „Gute Nacht, Sri Eärendil,“ flüsterte er. Und obwohl er den Tiger wieder hören konnte, weit entfernt im Wald, fürchtete er sich nicht. Er kuschelte sich in sein Bett und fühlte sich sicher und geliebt von dem alten Mann, dessen Vorfahr der Abendstern war, und der die besten Tomaten anbaute.

ENDE

Anmerkungen der Autorin:   

Aman ist ein traditioneller Name in Indien. Er bedeutet Friede.

Sri ist ein Ehrentitel.  

Priyamani ist kein richtiger Name (und wahrscheinlich nicht ganz korrekt), aber zusammen gesetzt aus den Sanskrit-Worten Priya (Geliebte) und Mani (Juwel) gibt es eine ungefähre Übersetzung von Melamirë.

Yakshas sind in der Hindu-Mythologie freundliche Waldgeister; in pandemoniums AU werden die Erstgeborenen (die Elben) so genannt. 

Rakshas sind Dämonengeister, und nicht ganz so freundlich.  

Devatas sind in der Hindu-Mythologie und -Lehre so etwas wie Schutzengel. Hier habe ich diesen Ausdruck benutzt, um die Maiar zu beschreiben, die so genannten „geringeren“ Ainur.

Obwohl vermutet werden kann, dass Ravana derselbe ist wie Melkor, ist er im Hindu-Epos „Ramayana“ nicht ganz und gar böse. Er wird als großer Gelehrter betrachtet, und viele Frauen liegen ihm zu Füßen.

Tiro! Andabon! (Sindarin): Schau! Elefanten!

Khalnâ (primitives Elbisch) „edel, erhaben" 

Das Gedicht über Eärendil ist dem Book of Lost Tales II entnommen. Ich habe die Schreibweise von Earendel (Tolkiens Original) zu Eärendil geändert, weil das den meisten Lesern vertrauter ist.  

Anmerkung der Übersetzerin:

Melamirë ist ein OFC von pandemonium, der nicht nur in einer Reihe eigener Geschichten, sondern auch in den Universen anderer Autoren auftaucht, die ich sehr schätze. Und ihre Idee, dass Bharat (ein alter Sanskrit-Name für Indien) irgendwo östlich von Númenor und Mittelerde liegt, und dass viele Früchte, die man von dort kennt, ursprünglich aus dem „Land der Gabe“ kamen, hat mir so gut gefallen, dass ich diese Geschichte auf meine Seite genommen haben. Sri Aman ist übrigens Amandil, Vater von Elendil und Großvater von Isildur und Anárion. Seine verzweifelte (und erfolglose) Mission in Richtung Valinor kann man im Silmarillion nachlesen. Und das Gedicht, das Sri Aman Navin vorsingt, ist Éalá Éarendel Engla Beorhtast. Ich habe mir gestattet, die ursprüngliche Übersetzung ins Deutsche (abgesehen von Strophe 2) zu überarbeiten; sie ist lieblos und holperig, und sie ignoriert die Poesie des Originals so sehr, dass es weh tut (Sorry, Wolfgang Krege!)


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