Todmüde

von Cúthalion

„Dieser Sommer war einer von der fruchtbaren Sorte, für Gemüse ebenso wie für Kinder. Rosie wurde ebenfalls schwanger, aber sie verlor das Kind und beinahe auch ihr Leben, als sie beim Schwimmen einen Schwächeanfall erlitt. Frodo saß an ihrem Bett und dachte an seine Mutter und seinen Vater.“
(„Ein wirklich gutes Jahr"/ Westlich vom Mond)

Dieser Sommer war wie eine Explosion neuen Lebens, er duftete nach reifen Früchten, würzigen Kräutern und sonnengewärmter Erde. Juweline und Estella wurden zum ersten Mal Mütter. Merry und Pippin saßen neben den Wiegen und erzählten ihren Frauen Geschichten über die beiden Helden aus Gondor, denen die beiden neugeborenen Hobbitbabys ihre seltsamen Namen verdankten.

Es war nach einem Besuch in Bockland, als Rosie zum ersten Mal spürte, dass sich etwas verändert hatte. Eine ganz bestimmte Wärme erfüllte ihren Bauch, wie ein sanft glühender Samen, tief in ihr eingepflanzt. Spät in dieser Nacht stand sie am offenen Fenster. Eine süßduftende Brise kühlte ihr das Gesicht; hinter ihr waren Frodo und Sam zwei stille Erhebungen unter den dünnen Leinendecken auf dem Bett. Rosie legte beide Hände über ihren Unterleib, wie ein Schild. Sie hatte bis jetzt fünf Kinder bis zur Geburt ausgetragen, und jedes Mal hatte sie das Wochenbett leicht hinter sich gelassen. Sie wusste, wie sehr sie dafür gemacht war, Mutter zu sein, und wie mühelos ihr Körper neues Leben hervorbrachte. Sie war zutiefst dankbar dafür... ihre Schwägerin Marigold war ein besonders trauriges Beispiel, was mit einer Frau passieren konnte, wenn ihr Leib leer blieb.

Plötzlich fühlte sie mitten in ihrer ruhigen Zufriedenheit einen kleinen, eisigen Stich der Furcht in ihrem Herzen. Für eine seltsame, erschreckende Sekunde war die Luft erfüllt von dem scharfen Geruch nach Poleiminze, und ihr Körper schien sich ängstlich an einen alten Schmerz zu erinnern.

Was, wenn...

Nein. Sie war stark, und sie war gesund. Es konnte nicht zweimal passieren.

*****

Die folgenden zwei Wochen waren ungewöhnlich heiß. Rosie kämpfte mit den vertrauten Anfällen von Morgenübelkeit. Sie versuchte es vor dem Rest der Familie zu verbergen, ohne dass sie genau wusste, warum; Sam hatte sie schon fünfmal schwanger gesehen und war mit den Begleitumständen vertraut. Sie war sicher, dass er bei der Aussicht auf das nächste Kind, das durch die Zimmer von Beutelsend krabbelte, überglücklich gewesen wäre. Trotzdem sagte sie nichts. Sie stand sogar noch eher auf als ihr Mann und wahrte ihr Geheimnis.

Tag für Tag brannte die Sonne auf Maisfelder und farbenflammende Blumenbeete nieder, und die grünen Bohnen, die sich wie ein Heer von Gemüsekriegern an den Stangen hochrankten, warfen scharf umrissene, schwarze Schatten. Rosie fand heraus, dass sie den Großteil ihrer Hausarbeit nur bis kurz nach der Morgendämmerung erledigen konnte. Mittags war selbst simples Geschirrspülen eine unerträgliche Pein.

Sie dürstete nach Wasser. In jedem freien Moment war sie in ihrem Lieblingssessel zu finden, wo sie ihre Füße in einer bis zum Rand gefüllten Blechwanne kühlte. Endlich konnte es nicht länger aushalten. Sie ließ Frodo in seinem Studierzimmer, die Kinder im Garten und Sam dort, wo er in endloser Pflichterfüllung die Erde wässerte, und flüchtete sich hinunter zum Fluss.

Der Wasserspiegel war tief unter seine übliche Höhe gesunken. Große, glatt gewaschene Steine lagen frei und boten ihren müden Füßen eine natürliche Treppe. Die Wasseroberfläche glitzerte im grellweißen Sonnenlicht wie ein Strom aus Diamanten.

Rosie versteckte sich im trockenen Unterholz und streifte ihre Kleider ab. Rock und Bluse waren, obwohl aus dünner Baumwolle, den ganzen Morgen über eine allzu schwere Bürde gewesen, und Rosie seufzte in glückseliger Erleichterung, als sie sie losgeworden war. Sie ging behutsam vorwärts und unterdrückte einen kleinen Schrei, als die Kühle des Flusses überraschende Schauder ihre Beine hinauf und durch ihren ganzen Körper schickte. Endlich schwamm sie; langsame wohl geübte Bewegungen trugen sie köstlich schwerelos mit der sanften Strömung. Das Wasser roch irgendwie grün, und Blätter von den tief hängenden Zweigen der Bäume nahe am Ufer berührten ihren Kopf und ihre Wangen mit einer zarten Liebkosung. Sie lächelte zum Himmel auf und für einen wundervollen, trägen Moment war sie sicher, dass sie nie wieder aus dem Wasser kommen wollte.

In der nächsten Sekunde traf sie der Schmerz wie ein plötzlicher Hieb. Er war wie eine heiße, zornige Faust um ihren Bauch, er brannte mitten im kühlen Wasser und raste durch ihren Körper wie ein bösartiges Tier. Rosie rang nach Luft und versank, die Augen weit geöffnet dicht unter der Wasseroberfläche. Dann kam sie wieder hoch, Wasser spuckend und schluchzend. Der Schmerz nahm immer noch zu; er hielt ihren Leib grausam im Griff, und als sie es wagte, an sich hinunter zu schauen, da sah sie, dass das Wasser nicht länger grün war... es färbte sich rot, rot, rot.

Mit einer letzten Anstrengung brachte sie es fertig, zu schreien; es war kein lauter Schrei, aber er erreichte die Ohren von Frodo, der mit einem zerlesenen Buch unter dem Arm zum Ufer hinunter wanderte. Er stand still, die Augen weit aufgerissen in schierem Nichtbegreifen... er sah Rosies Kopf unter der Oberfläche verschwinden und ihr Gesicht, das für einen kurzen, schrecklichen Augenblick den Fluss entlang trieb wie eine fremdartige, bleiche Blüte.

Dann lag das Buch vergessen im trockenen Gras und er tauchte ins Wasser. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, sich auszuziehen, aber er scherte sich nicht um das Gewicht seiner Kleider. Nach drei oder vier Schwimmzügen bekam er ihr Handgelenk zu fassen; er kämpfte sich zurück und erreichte das Ufer, atemlos und zitternd in verzweifelter Panik. Ihr Körper war unglaublich schwer... ihr langes nasses Haar schien sie zurück in den Fluss zu ziehen.

Er kniete neben ihr, berührte das weiße, leblose Gesicht und murmelte ihren Namen mit einer Stimme, die eher ein würgendes Schluchzen war.

„Herr Frodo! Frodo! Was... Rosie!“

Sam. Wie immer da, wenn er gebraucht wurde. Sogar Rosie reagierte auf die tröstliche, geliebte Stimme. Sie bewegte den Kopf und stöhnte, dann hustete sie und erbrach Wasser. Sam hob sie auf seinen Schoß und sie vergrub ihr nasses Gesicht in seinem Hemd und stöhnte wieder. Ihr Körper verkrampfte sich vor Qual.

„Sam... Sam... das Baby...“

Sam sagte kein Wort. Er trug Rosie den Hügel hinauf und ließ Frodo für den Moment hinter sich, als würde er nicht existieren. Frodo setzte sich mühsam auf und starrte blind auf die Spur von Wassertropfen, die auf dem Gras zurückgeblieben waren. Mit einem Schock begriff er, dass es nicht nur Wasser war, was er sah. Sein Kopf fiel zurück und er begann hilflos zu weinen.

*****

Sieben Tage, seit es geschehen war.

Sie lag still, umgeben von einer dicken weißen Wand aus Schweigen. Sorgfältig eingepackt, mit Leinentüchern zugedeckt, den Kopf auf ein weiches Kissen gebettet. Sie wollte die Augen nicht öffnen. Sie wollte nichts mehr sehen. Sie wollte niemanden mehr sehen.

Der Schmerz war gestillt, aber er hatte sie erneut leer zurückgelassen. Einmal mehr hatte ihr Körper sie betrogen. Keine Schwester für ihre Kleinen. Keinen Bruder. Nicht dieses Mal.

Und was, wenn etwas Wichtiges zerstört worden war? Was, wenn sie ihre Kraft nie wieder zurückgewann? Sie sah sich selbst für Monate und Monate im Bett liegen, ein blasser Schatten der Frau, die sie gewesen war. Ein blasser Schatten wie Frodo.

Ihre Augen flogen auf. Frodo saß neben ihrem Bett, den Kopf gebeugt, die Augen geschlossen. Eine seiner Hände lag bewegungslos in seinem Schoß, die andere war halb ausgestreckt, wie um ihre Finger zu erreichen. Es war, als hätte er nicht gewagt, sie zu berühren.

Sie schaute ihn an, dankbar für die Tatsache, dass er sie nicht sah. Ein verwirrendes Durcheinander der Gefühle war in ihrem Herzen – Trauer, Liebe, Verzweiflung, alles auf einmal. Und an allererster Stelle war da ein großer Zorn, der sie gleichzeitig überraschte und erschreckte.

Es wäre dein Kind gewesen. Es ist deine Schuld, nicht meine. Du bist es.

Eine kalte, grimmige Stimme in ihrem Kopf, wie ein Richter, der ein strenges Urteil fällte. Sie scheute vor dieser Stimme zurück.

„Frodo...?“

Sein Kopf zuckte hoch.

„Rosie.“

Sie erkannte seine Stimme kaum wieder. Selbst in seinen schlimmsten Momenten, wenn er nach einem seiner Anfälle wieder zu sich kam, hatte er sich niemals derart verzweifelt und reuevoll angehört. Ihr Zorn löste sich in nichts auf, als sie die tiefen, müden Linien in seinem Gesicht sah, die schmalen Lippen und umschatteten Augen.

„Rosie, es tut mir so leid. Das muss ich gewesen sein. Es war meine Schuld. Es tut mir so leid, Rosie.“

Es war wie ein Echo ihrer eigenen Gedanken, und das war mehr, als sie ertragen konnte.

„Komm her, Liebster.“

Sie öffnete ihre Arme. Für eine schmerzhafte Sekunde zögerte er, dann beugte er sich über sie und sie zog ihn neben sich auf das Bett herunter. Sein Gesicht lag auf ihrer Brust und sie spürte die Feuchtigkeit von Tränen, die durch ihr Nachthemd sickerten. Sie war todmüde, aber dieses Mal würde sie nicht weinen.

„So muss es gewesen sein, als meine Eltern ertrunken sind....“ Ein ersticktes Murmeln gegen ihre Haut. „Ich habe noch nie in meinem Leben solche Angst gehabt.“

Er – ausgerechnet er – hatte seine allergrößte Furcht ihretwegen ausgestanden?

Erstaunlich genug ertappte sie sich bei einem Lächeln. Ein blasses Lächeln, aber nichtsdestoweniger ein Lächeln.

„Du machst Witze, Lieber.“ flüsterte sie. „Was ist mit diesen Schwarzen Reitern? Und diesen Uruk-Hai?“

Er gluckste und schüttelte leicht den Kopf.

„Dies hier war schlimmer. Ich liebe dich, Rose, Und um dich in Zukunft zu schützen...“

Sie bedeckte seinen Mund mit einer Hand und lehnte ihr Gesicht gegen das seine. Sie sah ihr zweifaches Bild wiedergespiegelt in den traurigen, blauen Augen, die sie so innig liebte.

„Schhh, Dummkopf. Sei jetzt still.“

Die Tür ging auf. Sam eilte ins Zimmer, hinter ihm her alle ihre Kleinen... und etwas Graues, Flauschiges mittendrin, mit einem geschäftig wedelnden Schwanz und einem Maul, das aussah, als würde es grinsen.

„Was ist denn das? Wo kommt dieser Hund her?“

Sam nahm sie in die Arme und küsste sie. Alle Kinder fingen gleichzeitig an zu plappern.

„Mama, er ist neu... Sam-Papa hat ihn mitgebracht... er heißt Arky, Mama!“

„Nicht so laut, meine Kleinen.“ Sam lächelte, aber er klang entschlossen. „Eure Mutter muss sich ausruhen.“ Er stopfte die Decken sorgsam um ihren Körper fest und küsste sie noch einmal. Sie schloss die Augen, erfüllt von tiefer Dankbarkeit. Sie gingen alle auf Zehenspitzen hinaus, nahmen Frodo mit und die Tür wurde leise geschlossen.

Sie war noch immer müde und tief verwundet. Und sie war sicherlich geschwächt. Aber mitten in ihrem schmerzhaften Verlust wuchs wieder etwas Neues in ihr: ein winziger, warmer leuchtender Samen der Zuversicht.

Sie würde niemals aufgeben.

Und sie würde es wieder versuchen.


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