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Tinúviel, Tinúviel
von Cúthalion

Die Strömung des Flusses schaukelt ihn kühl und beruhigend wie eine Wiege, und er überlässt sich dankbar diesem unerwarteten Trost. Er hat den Zorn der Schlacht hinter sich gelassen, den roten, hitzigen Blutdurst. Er hat das ungläubige Entsetzen vergessen, das ihn überkam, als der Boden unter ihm verschwand und den Abgrund freigab. Er weiß nicht mehr, wie lange er fiel, den einen Arm noch immer hilflos an die heulende Bestie gekettet, die Hand in ihr struppiges, stinkendes Fell verkrallt. Er erinnert sich kaum an den Augenblick, als sie gemeinsam ins Wasser stürzten, ein knochenerschütternder Aufprall, der ihm die Luft aus den Lungen trieb, und er weiß noch immer nicht, wie er freigekommen ist... irgendwie war der Warg plötzlich verschwunden und er war allein und trieb mit dem raschen Strom dahin, für lange Zeit gänzlich für die Welt und sich selbst verloren.

Sein Geist treibt ebenso wie sein zerschlagener Körper, und er streift träge Bilder, die wie farbenfrohe Juwelen vor seinem inneren Auge aufblitzen. Gandalf, der aus einem weiß flammenden Strahlenkranz heraustritt... das schwache, graue Licht in der Halle von Meduseld, das sich plötzlich erhellt, als die verkrümmte, entstellte Gestalt auf dem Thron sich wundersam in einen edlen Krieger und König seines Volkes zurück verwandelt... das braune, kurze Deckhaar von Brego unter seinen Handflächen und das blasse, schöne Gesicht einer Frau mit Haaren wie Weizen, ihre forschenden, suchenden Augen blau wie vereiste Kornblumen.

Selbst jetzt, da seine Seele auf der Schwelle des Todes zaudert, spürt er einen kurzen, vagen Stich des Bedauerns darüber, dass er das dringliche Flehen in diesen Augen nicht erwidern kann... dass es ihm unmöglich ist, ihr zu geben, was sie von ihm verlangt. Er ist nicht, was sie nötig hat, dessen ist er sich ohne jeden Zweifel sicher... ihr erstarrtes, bitteres Herz muss auf eine Weise geheilt werden, die ihr zu bieten nicht in seiner Macht liegt.

Plötzlich spürt er, wie sich das Flussbett unter ihm abflacht. Steine, rund und glatt gewaschen, gleiten an seinem Rücken entlang, und in einem entfernten Winkel seines Geistes begreift er, dass der Strom ihn gnädig an sein Ufer gespült hat. Er kann sich nicht rühren, und der Schmerz wird noch immer in Schach gehalten... vielleicht durch den Schock (und die Stimme, die ihm diese nüchterne Schlussfolgerung einflüstert, klingt der seines Ziehvaters verdächtig ähnlich). Er würde lächeln, wenn er nur imstande wäre, die Lippen zu bewegen.

Ada, du hast gedacht, ich wäre eine Gefahr für deine Tochter, denkt er, noch immer erfüllt von dem irritierenden Drang zu lachen, aber im Augenblick bin ich für niemanden eine Gefahr. Vielleicht hat das Schicksal deinen schlimmsten Befürchtungen ein ganz unerwartetes Ende bereitet.

Vielleicht hat der tiefe Sturz noch mehr zerstört, als er spüren kann, vielleicht wird er hier sterben, sein Gesicht gekühlt von der eisigen Luft dieses Märztages, und für einen langen, schwerelosen Moment überwältigt ihn eine tiefe, schuldbewusste Erleichterung, und er begreift voll und ganz, warum Sterblichkeit von manchen Menschen zuweilen so dankbar empfangen wird wie ein unerwartetes, befreiendes Geschenk.

Er empfindet seinen Atem als langsame, zögerliche Brise, ein und aus, ein und aus... und dann trägt ihn eine seltsame Laune der Erinnerung an einen Ort und in eine Zeit zurück, in der das Wissen um sein Erbe und sein Geburtsrecht neu war und glänzend, keine Bürde, sondern eine Ehre, von der sein Herz in heftigem Stolz überströmte. Die Erinnerung ist so klar und intensiv, dass er das weiche Gras wieder unter den Stiefeln spüren kann und die sanften Winde von Imladris im Frühling, schwer vom Geruch nach dem ersten Salbei, nach Waldmeister und Thymian.

Er ruft sich die eigene Stimme ins Gedächtnis, erhoben zu einem Lied... nicht der gesenkte, behutsame Klang, den er sich über die Jahre hinweg angewöhnt hat, sondern ein klarer, junger Bariton. Die Worte brennen sich eine süße, schmerzhafte Spur durch sein Herz und lassen seinen ausgelaugten, unterkühlten Körper noch stärker erzittern.

Sie floh – er rief den Namen schnell,
Mit Elbenlaut rief er sie an:
Tinúviel, Tinúviel!
Da hielt sie ein in raschem Lauf...

Von einem Moment zum anderen ist der vertraute, tröstende Geruch dahin, und plötzlich ist jede Fiber seines gesamten Seins erfüllt von ihr. Da ist Wärme und Licht und der schwache, anhaltende Duft von frisch erblühten Niphredil... der Duft, der sie umgibt, und der für ihn immer ein Teil von ihr sein wird, seit dem Augenblick, als er sie zum allerersten Mal in die Arme genommen hat. Etwas berührt ganz zart seine Lippen (Wärme und Licht und Zärtlichkeit oh Valar du bist es), und der Schock lässt ihn nach Luft ringen.

Arwen.

Auf einmal ist er imstande, die Augen zu öffnen, und unter schweren Lidern sieht er ihr liebliches Gesicht über sich schweben. Er ist von atemlosem Staunen betäubt und nicht einmal imstande, ihren Namen zu rufen.

Möge die Gnade der Valar dich beschützen.

Es ist keine wirkliche Umarmung, aber die Worte fühlen sich an, als würden ihre Finger seine Stirn liebkosen, und als die Berührung ebenso wie der traumartige Schemen vor seinen Augen verblasst, bricht die Qual wie eine Lawine über ihn herein... plötzliches Bewusstsein, durchdringende Pein und Leben. Mit einer schrecklich mühsamen Anstrengung beugt er Arme und Beine, und jeder einzelne Muskel in seinem Körper schreit auf vor Schmerz. Irgendwie gelingt es ihm, sich auf das Ufer des Stromes hinaufzuziehen; er kriecht langsam über trockene Kiesel und scharfkantiges Gestein. An einem bestimmten Punkt fällt seine schiere Willenskraft in sich zusammen und er überlässt sich wieder dem Trost einer stillen Finsternis.

Eine Ewigkeit später durchbricht er erneut die Oberfläche zur Wirklichkeit. Etwas – oder jemand? – stößt gegen seinen schlaffen Arm. Ein Schwall warmen Atems trifft auf seine blutig aufgeschürfte Schulter und lässt ihn zusammenfahren. Er wälzt sich herum, bleibt auf dem Rücken liegen und ringt darum, bei Bewusstsein zu bleiben. Und dann spürt er Lippen auf seinem Gesicht... und dies ist kein geträumter Kuss, sondern die ziemlich handfeste Berührung großer, weicher Nüstern, begleitet von einem leisen, drängenden Wiehern.

Brego?

Wie ist das möglich? Wie im Himmels Willen ist es dem Pferd gelungen, in das tief eingeschnittene Flusstal hinunter zu kommen? Wieder – und wieder völlig unerwartet – spürt er den hilflosen, benahe ausgelassenen Drang zu lachen.

... ein Pferd? Liebe meines Lebens, hast du dich tatsächlich entschieden, mir ein méara aus Rohan als Retter zu schicken?

„Brego…”

Es gelingt ihm, sich auf einen Ellenbogen zu stützen. Er öffnet die Augen und nimmt den Anblick eines breiten, kraftvollen Körpers und eines edlen Kopfes in sich auf, bevor die Welt sich so wild um ihn dreht, dass er beschließt, sie wieder zu schließen. Er spürt, wie sich Bregos lange Beine neben ihm beugen, und dann findet seine tastende Hand einen gewölbten Hals und die elegante Rundung der Kruppe, bevor sie tiefer gleitet und sich endlich um eine dicke Strähne von Bregos Mähne schließt.

Er schafft es irgendwie in den Sattel; er stöhnt und klammert sich endlich keuchend an Bregos Schultern und Nacken. Zum ersten Mal begreift er, wie sich die tatsächliche Last seines Alters und seiner Erfahrungen für jemanden ohne Númenor-Blut in den Adern anfühlen muss. Was, wenn er von Bregos Rücken herunterfällt, was, wenn der wachsende Schmerz in seinen Gliedern und seinem Rücken ihn im schlimmsten Moment ohnmächtig werden lässt, jetzt, da die größte Gefahr vor ihm liegt und seine Pflicht als drängender, angsterfüllter Ruf in seinem Herzen widerhallt... der Ruf, ein ganzes Volk zu beschützen, das gefangen sitzt in der Falle dieser uralten Festung?

Brego setzt sich in einen sanften Trab; er sucht sich vorsichtig einen Weg am Ufer entlang, und obwohl selbst die kleinste Bewegung weißglühende Funken der Qual durch jeden Zoll seines Körpers jagt, spürt er, wie eine hartnäckige Stärke in sein Rückgrat sickert. Plötzlich denkt er an Frodo; kleiner Held, sich seines Mutes gänzlich unbewusst, der der schrecklichsten Schlacht entgegentritt mit nichts in den Händen als einem kleinen Schwert, das er kaum gebrauchen kann, und einer Phiole voller Licht. Ich werde ihn nicht enttäuschen, verspricht er schweigend seiner weit entfernten Geliebten, und ich werde dich nicht enttäuschen, mein Abendstern, meine Nachtigall.

Die Erinnerung an ihr Gesicht ist ein entfernter Widerhall von Schönheit und Zuversicht in seinem Herzen, Tinúviel, Tinúviel... Und der Name ist ein Schwur und eine Anrufung und ein inniges Gebet, denn dies ist nicht das Ende seines Weges durch Finsternis und Ungewissheit, und der Tag, auf den er nun schon so lange wartet, mag noch immer kommen, und er wird die Hoffnung nicht aufgeben.

Tinúviel.


ENDE


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