Stern des Meeres (Star of the Sea)
von Diamond of Long Cleve, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 1
Das Märzleiden

„Im März war Frodo wieder krank, aber mit viel Mühe konnte er es verheimlichen. Sam ging anderes im Kopf herum.”
(Die Rückkehr des Königs/ J.R.R. Tolkien)

Der erste Hauch des Frühlings. Helles Sonnenlicht vergoldete die kahlen Bäume. Pralle Blütenkätzchen überzogen die Hecken, Büschel aus Primeln und Veilchen wuchsen an den Hängen vom Bühl. Ein matter grüner Schleier erschien schon in den Wäldern, und die schlanken Zweige der Weiden um den Wasserauer Teich standen gerötet und in reichem Saft, bereit, jederzeit Knospen hervorbrechen zu lassen. Stare und Sperlinge zwitscherten auf dem Grasdach von Beutelsend.

Sonnenlicht strömte durch das Fenster von Frodos Studierzimmer, das nach Südosten gerichtet war. Sonnenschein lag in breiten, goldenen Streifen auf den weichen Pergamentseiten. Frodos Feder flog darüber hin. Im Gegensatz zu der irgendwie fahrigen und spinnenhaften Handschrift seines Onkels Bilbo war seine eigene Schrift immer fest, fließend und ausgeprägt gewesen. Und trotz der leichten Behinderung seiner Rechten hatte er sich darin geübt, die Qualität seines früheren Schreibstiles wieder zurückzugewinnen. Und es gelang ihm... so lange er sich erinnerte, regelmäßige Pausen zu machen und die Muskeln in seinen Fingern und seiner Hand zu kräftigen, wie Merry ihm empfohlen hatte.

Sein Gesicht war angespannt vor Konzentration. Er machte gute Fortschritte mit dem Buch. Seit dem letzten Mittsommer hatte er all seine Notizen sortiert – ebenso wie die von Bilbo und Merry – und während der goldene Sommer von 1420 in einen milden Herbst hinüberschmolz, begann er, seinen Bericht über den Ringkrieg ernsthaft niederzuschreiben. Er war zuverlässig dabeigeblieben. Im frühen Winter hatte es einen Zeitpunkt gegeben, da Sam, beunruhigt über das kurze Unwohlsein seines Herrn im vorangegangenen Oktober, darauf bestanden hatte, dass er eine Schreibpause einlegte. Tatsächlich war Sam so besorgt darüber gewesen, wie Frodo in dem Buch aufging, dass er mit der Ponypost eine Notiz nach Krickloch geschickt hatte. Die Herren Meriadoc und Peregrin waren daraufhin rechtzeitig zum Julfest eingetroffen, mit Botschaften und Geschenken aus dem Brandyschloss und den Großen Smials bewaffnet, und mit einer Fülle guter Ratschläge für Frodo. „Nun, Vetter Frodo,“ sagte Pippin, „leg die Feder hin. Pack diese Seiten weg. Wir sind hier, um uns während des Julfestes um dich zu kümmern, und dich dem Anlass entsprechend zu unterhalten. Und anständig unterhalten sollst du werden!“

Es war ein fröhliches Julfest gewesen und Frodo war glücklich, sein Buch eine Weile zu vergessen und ganz einfach die Gesellschaft seiner engsten Freunde zu genießen, während sie lachten und tranken und gemeinsam Jul feierten. Sie genossen eine Fülle von gutem Essen... eine fette Gans und fünf Rebhühner eingeschlossen, die Rosies Bruder Nibs mitgebracht hatte. Und alle hatten sie Sam und Rosie zugeprostet, und dem Baby, das im Frühling geboren werden sollte.

Im Januar hatte Frodo die Arbeit am Roten Buch wieder aufgenommen. Seine Welt war praktisch auf sein Studierzimmer in Beutelsend zusammengeschrumpft, aber das machte ihm nichts aus. Körperlich mochte er in seinem Studierzimmer gewesen sein, aber geistig war er weit fort und durchstreifte die Berge und Ebenen von Mittelerde. Er schrieb mt einer grimmigen, alles verzehrenden Energie. Die Worte flossen leicht aus seiner Feder, klar und abgerundet. Seine Erinnerungen waren stark und deutlich; es gab so viel zu erzählen, so viel, so viel!

Seine Methode war einfach; er schrieb soviel von der Erzählung, wie er konnte, während des Vormittags und Nachmittags - mit angemessenen Pausen – und dann, am Abend, fügte er Einzelheiten wie ein Gedicht oder ein Lied hinzu, oder bereicherte ein bestimmtes Kapitel mit einigen zusätzlichen Einzelheiten aus Bilbos oder Merrys kopierten Notizen. Manchmal hielt er sich dazu an, nicht vor dem Nachtmahl in sein Arbeitszimmer zurückzukehren; dann verbrachte er in der Wohnstube einen stillen Abend mit Sam und Rosie vor dem Kamin und plauderte mit Sam, während Rosie Häubchen, Decken und Kittelchen für das Baby nähte. Abendliche Besuche im Grünen Drachen und im Efeubusch waren selten geworden; Sam war jetzt zuhause nicht lange entbehrlich. Das Baby würde bald kommen.

Frodo hört auf zu schreiben. Er fährt sich mit einer Hand durch das Haar. Seine verwirrten Locken sind dunkel, mit der leichtesten Andeutung von Grau um die Schläfen herum. Er erwischt einen Blick auf sich selbst im Spiegel auf der anderen Seite des Zimmers und lächelt schief. Er sieht älter aus. Auch findet er, dass seine Augen reichlich müde wirken. Er schaut auf das neue Kapitel herunter, das er gerade begonnen hat. Cirith Ungol. Der Spinnenpass. Frodos Herz krampft sich zusammen.

Es war eine seltsame Sache, aber wie der Zufall es wollte, stimmte der Ablauf der Kriegsereignisse mit dem tatsächlichen Zeitablauf überein. Im September 1420 fing er richtig damit an, das Buch zu schreiben und fand sich selbst, wie er die Ereignisse zwei Jahre zuvor aufzeichnete, vom September 1418, als er seine Fahrt antrat. Als er das Schreiben in diesem Jahr wieder aufnahm, begriff er, dass er die stillen Momente, die die Gemeinschaft vor dem Aufbruch am 25. Dezember 1418 in Bruchtal verbracht hatte, schnell hinter sich lassen konnte, um geradewegs in ihre Reise zu den Nebelbergen und über den Caradhras im Januar 1419 einzutauchen.

Jetzt war es März im Jahr 1421; und er fand sich selbst dabei, die dunkelsten Kapitel seiner Geschichte für die Nachwelt zu erzählen, von vor zwei Jahren, im März 1419. Ja, die dunkelsten Kapitel, und die dunkelste Stunde in Sams Leben.

„Nicht für mich allerdings.“ murmelte Frodo. „Für mich kam der dunkelste Teil erst noch.“

Er legte seinen Federkiel nieder. Plötzlich fühlte er sich matt und elend. Instinktiv suchte er nach dem weißen Edelstein an der Kette um seinen Hals, Arwens hellen Juwel, den er niemals abnahm. Der 13. März.

Verdammt, dachte Frodo, aber er hätte sich erinnern sollen, er hätte vorbereitet sein müssen. Zwei Leidenszeiten in einem Jahr: März und Oktober 1420. Es hätte ihm klar sein müssen, dass das Elend wiederkommen würde. Heute morgen hatte er sich wohl gefühlt. Nun verschwammen die Worte auf der Seite jedes Mal, wenn er darauf hinuntersah. Er stellte fest, dass er schwer atmete, und dass ihm heiß wurde. Der Schweiß trocknete auf seiner Stirn und ließ ihn frösteln.

*****

Rosie war den ganzen Morgen in der Küche beschäftigt gewesen, wo sie einiges in der Speisekammer aussortierte und das Mittagessen für sich und Herrn Frodo vorbereitete. Sam war den ganzen Tag unterwegs und pflanzte Bäume: der letzte seiner Arbeitseinsätze in Schiefertonwald. Er würde näher an seinem Heim arbeiten, jetzt, da das Baby beinahe fällig war, und er hatte Herrn Frodo versprochen, dass der Garten von Beutelsend den Sommer über an erster Stelle stünde. „Es ist schon in Ordnung,“ sagte Herr Frodo freundlich, „der Rest des Auenlands hat deine Aufmerksamkeit ebenso nötig. Beutelsend kann warten!“ – „Nein, Herr Frodo,“ sagte Sam fest, „das Baby und Rosie und du, und der Garten von Beutelsend werden von diesem Augenblick an meine erste Sorge sein. Das Auenland ist jetzt geheilt. Zeit für mich, nach Hause zu gehen. Das ist, wo ich jetzt hingehöre.“ – „Das ist es wirklich.“ sagte Frodo.

Rosie war vertraut geworden mit dem Geräusch von Herrn Frodos Federkiel, der im Studierzimmer geschäftig kratzte. Er war so völlig eingenommen von seiner Arbeit. Es war solch ein langes und geheimnisvolles Buch, das er da schrieb – er hatte ihr versprochen, es sei ein Buch für sie und Sam, und dass sie es eines Tages selbst würde lesen können. Rosie konnte lesen: Sam hatte es ihr vor Jahren beigebracht, und mit Herrn Frodos Hilfe gelang es ihr jetzt sogar noch besser. Sie hatte sogar ein paar der elbischen Worte aufgeschnappt, die ihr Sam zu kennen schien, und Herr Frodo kannte sie am allerbesten. Sam hatte ihr wenig über die Fahrt und über den Ringkrieg erzählt – Herr Merry erzählte ihr mehr. Er und Herr Pippin waren voller wundervoller Geschichten über die Länder im Süden, wo der König und die Königin lebten, und wo das goldhaarige Volk auf den Ebenen seine Pferde ritt, und wo Bäume in den Wäldern wandelten und sprachen, und wo die Stadt des Königs mit ihren weißen Kreisen im Schatten der Berge stand. Wunderbare Erzählungen aus dem Süden. Die Kinder im Ort – und viele ihrer Eltern – kamen gern zu Besuch nach Beutelsend, wann immer Herr Merry und Herr Pippin da waren; sie lauschten mit offenem Mund den Geschichten von großgewachsenen Elben und Waldläufern und von einer großen Schlacht vor den Toren der Stadt des Königs.

Die Leute waren neugieriger geworden auf die Welt, seit die vier Reisenden heimgekehrt waren. Das Auenlandvolk hatte jetzt einen König; vielleicht würde er eines Tages kommen und sie besuchen. Herr Merry und Herr Pippin – und Sam – waren scheinbar in große Kämpfe verwickelt gewesen, viel größer als die in ihrem heimatlichen Auenland, and das war schlimm genug. Sam hatte Rosie gegenüber angedeutet, dass Herr Frodo in einem eigenen Krieg gewesen sei, was mit einem magischen Ring zu tun hatte, der dem alten Herrn Bilbo gehörte. Sam hatte gezögert, mehr über diesen Punkt zu sagen... und Rosie entdeckte dunklere Stränge im Gewebe der Erzählungen der vier Reisenden. So viel verstand sie: Es war genug, zu wissen, dass Herr Frodo während des Krieges auf geheimnisvolle Weise verwundet worden war, und dass er Zeit brauchte, um sich zu erholen. Also sprach Sam wenig, aber seine Zartheit Herrn Frodo gegenüber besagte eine Menge. Und Herr Frodo sprach noch weniger, aber er lächelte und scherzte mit Sam und Rosie über das Baby. Und er schrieb sein Buch.

Das erinnerte Rosie an etwas. Sie wollte ihm ein Glas Milch bringen, bevor sie mit dem Mittagessen anfing.

„Herr Frodo?“

Sie öffnete die Tür zum Studierzimmer.

Frodo blickte auf. Er hatte wieder zu schreiben begonnen.

„Ich habe dir ein bisschen Milch gebracht, Herr...“ Rosie hielt inne. „Geht es dir gut, Herr?“ fragte sie mit leiser Stimme.

„Ja, Rose, es geht mir gut.“ sagte Frodo mit einiger Anstrengung.

Er sah nicht gut aus. Sein Gesicht war weiß, und seine strahlend blauen Augen starrten Rosie an, als sei sie gar nicht da; sie starrten durch sie hindurch.

„Du siehst schrecklich blass aus.“ sagte Rosie ängstlich.

„Ich bin müde, das ist alles.“ sagte Frodo und holte tief Atem. „Ich denke, ich bin bloß erschöpft vom Schreiben. Er werde mich ein bisschen hinlegen. Aber ich bin nicht krank.“

„Du siehst überhaupt nicht gut aus Herr. Bitte, lass mich jemanden holen.“

Frodo brachte ein Lächeln zustande. „Du gehst nirgendwo hin, Rose Gamdschie. In deinem Zustand marschierst du nicht den Hügel hinunter. Ruf den Heiler, wenn es mir bis heute Abend nicht besser geht, aber jetzt werde ich gehen, mich hinlegen und mich den ganzen Nachmittag ausruhen. Ich bin nicht krank, nur sehr müde.“

Die Leute im Beutelhaldenweg können die Heiler rufen.“ sagte Rosie. „Marigold oder ihr Mann können gehen. Es ist kein Umstand. Bitte, Herr.“

„Rosie.“ sagte Frodo sanft. „Nein. Alles, was ich brauche, ist Ruhe. Und ein Glas Milch.“ fügte er mit einem schwachen Lächeln hinzu. „Ich danke dir.“ Er stand auf und schwankte leicht.

„Herr Frodo...“ sagte Rosie. Sie kam und nahm seinen Arm.

„Hilf mir einfach in mein Zimmer.“ sagte Frodo. „Und dann musst du dich nach dem Mittagessen selbst ausruhen. Du musst deine Kraft für das Kind aufsparen.“ Er versuchte sie anzulächeln, aber es bereitete ihm offensichtlich Mühe; er sah überanstrengt aus.

„Hast du Kopfweh?“ beharrte Rosie. „Ich kann dir ein Brot mit Mutterkraut machen.“

„Nein, liebe Rosie.“ In Frodos Stimme klang die Andeutung eines Lachens, das wie ein Schluchzen klang – und wirklich fühlte er sich, als müsse er gleichzeitig lachen und weinen. Kein Hobbit in den vier Vierteln konnte sich wirklich mehr wünschen, als so umsorgt zu sein; zwischen Sam und Rosie lief Beutelsend wie ein Uhrwerk, und um keinen Edelhobbit im ganzen Auenland kümmerte man sich so sehr wie um ihn.

Aber es gab ein paar Dinge, bei denen Sam und Rosie ihm nicht helfen konnten. Und dieses Märzleiden war eines davon.

Er holte tief Atem und schaute hinab auf Rosies süßes, verwirrtes Gesicht, dann tätschelte er ihren Arm. „Ich werde mich ein paar Stunden ausruhen.“ sagte er. „Dann kannst du nach mir schauen. Falls es mir irgend schlechter gehen sollte, darfst du Marigold rufen, aber ich verspreche dir, das wird es nicht. Und dann möchte ich ein spätes Mittagessen haben. Jetzt muss ich mich einfach ein wenig zurückziehen.“

Und er schloss die Tür seines Schlafzimmers sanft hinter sich.

Rosie schaute besorgt hinter ihm drein. Er hatte ein paar eigenartige Zustände wie diesen gehabt, als er und Sam bei Ihrem Vater gewohnt hatten, nach dem Krieg, und bevor sie und Sam geheiratet hatten. Es hatte etwas mit der geheimnisvollen Verletzung zu tun, die er erlitten hatte... Sam sagte so wenig darüber, und Herr Frodo sagte gar nichts. Es kam Rosie so vor, als ob Herrn Frodos fehlender Finger das geringste aller Probleme sei. Es war, als läge diese Verletzung, was für eine es auch immer war, unerreichbar in seinem Inneren.

Sie kehrte kopfschüttelnd in die Küche zurück. Sie stellte Herrn Frodos Mahlzeit in den Ofen, um sie warmzuhalten, und setzte sich mit ihrem eigenen Mittagsessen hin; eine großzügige Portion Speck und Pilze.

Schreiben, schreiben, immerzu schreiben. Sein Gesicht angespannt und versunken, und voll von seltsamer, nervöser Unruhe. In diesen Tagen sah er immer dann am lebendigsten aus, wenn er schrieb... als ob ein Feuer ihn von innen erleuchtete. Sein Kiel flog mit eigenartiger Dringlichkeit dahin, als wollte er die Dinge so schnell zu Papier bringen, wie er konnte, bevor die Erinnerungen verblassten. Wenn Rosie ihm als Erfrischung Kuchen und etwas zu Trinken brachte, schaute sie oft in das gedankenvolle, von dunklen Locken eingerahmte Gesicht und wunderte sich zum tausendsten Mal darüber, dass so ein ansehnlicher Edelhobbit niemals geheiratet hatte. Und warum zu manchen Zeiten ein inneres Licht seine sensiblen, feingeschnittenen Züge zu erleuchten schien. Und warum die tiefe Stille in seinem Inneren nur noch tiefer geworden zu sein schien.


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