Sing mich nach Haus (Sing me home)
von shirebound, übersetzt von Cúthalion

Kapitel 7:
Wiedervereinigung

“Die Sonne zieht doch ihre Bahn, der Stern den milden Lauf, solang der Tag noch nicht vertan, geb ich den Sieg nicht auf.“
(Samweis Gamdschie, Die Rückkehr des Königs)

Frodo blickte in den Palantír und versuchte zu verstehen, was er sah. Man hatte ihm nie die Bitte verweigert, in den Meisterstein im Turm von Avallóne zu schauen, und in seinen ersten Jahren auf Tol Eressëa hatte er die kurzen Ausblicke auf sein Heimatland und seine Freunde zu schätzen gewusst – aber es hatte nicht lange gedauert, bis sein Bedürfnis, nach Mittelerde zu schauen, erst nachließ und dann gänzlich schwand. Das Auenland gedieh, und die, die er liebte, waren zufrieden – das war alles, was zählte.

Er stieg kopfschüttelnd von dem Podest herunter und sah den Zauberer an. „Wie viel Zeit ist vergangen, Gandalf?“ fragte er verwirrt.

„Du bist seit fast sechzig Jahren hier,“ erwiderte der Zauberer. Er schaute durch eines der vielen juwelenbesetzten Fenster nach draußen. Der Blick ging von hier aus nach Osten; die Weite der See strahlte und funkelte und schien sich bis in die Unendlichkeit zu erstrecken.

„Sechzig Jahre?“ keuchte Frodo. „Ich wusste, dass mehrere Jahre verstrichen sind, aber---“

„Es ist, wie Galadriel es dir und Bilbo gesagt hat, an jenem Tag an Bord des Schiffes.“ sagte Gandalf sanft. Er half Frodo auf den Sims unter dem Fenster, so dass sie beide aus dem hohen Turm auf die glitzernde See hinaus schauen konnten. „ Hier im Westen vergeht die Zeit tatsächlich, aber sachte und zum größten Teil unbemerkt.“ Er lächelte seinen Freund an. „Du alterst langsam, und der liebe Bilbo ist noch immer bei uns.“

„Dass Bilbo noch immer bei uns ist, ist dafür verantwortlich, dass ich glaubte, es wäre wenig Zeit vergangen,“ sagte Frodo nachdenklich. „Erstaunlich, Gandalf – aber jetzt begreife ich, was der Stein mir gezeigt hat.“

„Sam.“ sagte Gandalf sachte.

„Ja.“ Frodo grinste. „Er sieht so aus, wie ich den Ohm in Erinnerung habe – gealtert, aber rüstig und tatkräftig – und umgeben von zahllosen Kindern und Enkelkindern!“

„Er kommt.“ sagte Gandalf ruhig. „All das, woran er Hand gelegt hat, ist aufgeblüht, und das Auenland ist heil und ganz. Seine liebe Frau ist dahingeschieden, und jetzt bleibt nur noch eines für ihn zu tun.“

„Wann?“ flüsterte Frodo. „Oh... wann?“

„Bald,“ antwortete der Zauberer. „Ihm wird die Reise lang erscheinen, aber dir... dir wird es vorkommen, als wären es nur ein paar Tage, bis er hier ist.“ Er lächelte auf den Hobbit hinunter. „Du solltest besser deine Allgemeine Sprache aufpolieren, Frodo Beutlin – Samweis wird dich nicht verstehen.“

Frodo nickte. „Du und Bilbo, ihr solltet besser wieder anfangen, Westron mit mir zu sprechen, Gandalf! Es ist lange her.“ Plötzlich runzelte er die Stirn. „Wie alt bin ich?“

„Ich glaube, du hast gerade deinen 114. Geburtstag hinter dir gelassen, lieber Junge.“

„Lieber Junge?“ Frodo lachte. „Du bist ein Wunder, Gandalf.“

„Genau wie du, mein Guter.“ sagte der Zauberer liebevoll.

„Wir hätten meinen einundelfzigsten Geburtstag mit Feuerwerk feiern sollen,“ sagte Frodo, als sie den langen Abstieg das gewundene Treppenhaus hinunter begannen. „Haben die Elben hier sie jemals zu Gesicht bekommen?“

„Jetzt, da du es erwähnst,“ sagte Gandalf gedankenvoll, „ich glaube nicht, dass sie das haben.“

*****

Frodo saß auf dem in Stein gehauenen Sims, der einen der Springbrunnen einfasste und sah gemeinsam mit der Menge zu, wie das Schiff in den Hafen einlief. Es war vielleicht nicht so atemberaubend schön wie Gwaihir, aber jedes Schiff, das Círdan schuf, hatte seine eigene Anmut und Majestät. Die Ankunft eines Schiffes aus Mittelerde war ein seltenes Ereignis – dies war erst das erste, seit er selbst angekommen war, und Frodo fragte sich, wie viele Jahre – oder Jahrhunderte – es wohl dauern mochte, bis das letzte Schiff segelte. Ebenso wie an dem Tag, als Gwaihir anlegte, waren die Wege und die umliegenden Wiesen voller Leute, die darauf warteten, nach langer Trennung Verwandte wiederzusehen.

Ein stetiger Strom von Elben, dunkel- und goldenhaarig, strömten vom Schiff herunter, begrüßt mit Freudenschreien und Willkommensliedern. Frodo schwoll das Herz, als er endlich Sam entdeckte, der von einem lächelnden Elben an das obere Ende der Rampe geführt worden war, den er als Erestor aus dem Hause Elronds wiedererkannte.

Vo seinem Aussichtpunkt aus durchsuchte Sam ängstlich die Menge der Elben, die an der Küste dieses Ortes warteten – dieses Ortes, der schöner war als alles, was er je gesehen oder sich je in wachem Zustand ausgemalt hatte. Trotzdem kam ihm die Szenerie irgendwie vertraut vor. In den vergangenen Jahren hatte er angefangen, von weißen Küsten und sternenerleuchteten Springbrunnen zu träumen, und von einem süßen, liebkosenden Lied, dass für ihn langsam so willkommenheißend geworden war wie der Vogelgesang und die sanften Winde des Auenlandes.

Da waren so viele Elben, die entweder lachten, sangen oder aufgeregt mit neu angekommenen Verwandten redeten, dass Sam sich fragte, wie er Herrn Frodo jemals finden würde (wenn er noch lebte), oder irgend jemanden, der sich an ihn erinnerte.

„Samweis.“ sagte Erestor leise und deutete auf etwas. Sam beobachtete, wie die lächelnde Menge sich teilte und jemand vortrat.

„Herr Frodo!“ schrie Sam freudig. Er riss sich von Erestor Hand los und fing an zu rennen. Als er den Fuß der Rampe erreichte, war Frodo in seinen Armen; er lachte und weinte und murmelte immer wieder seinen Namen. Die Umstehenden sahen der Wiedervereinigung lächelnd zu.

„Oh,“ schnaufte Sam endlich und wischte sich das nasse Gesicht. „Also, du siehst einfach gut aus, Herr! Dieser Ort passt zu dir, gar kein Zweifel.“

„Das tut er ganz sicher,“ lachte Frodo, „und zu dir wird er auch passen, Sam. Mein lieber Sam.“

Sam schaute sich um, Frodos starke Arme immer noch um sich; er bemerkte, dass die Elben sich um sie versammelten.

„Was tun die denn alle hier, Herr Frodo?“ fragte Sam verwirrt.

„Sie wollen dich begrüßen.“ Und mit diesen Worten trat Frodo zurück und ließ Sam alleine stehen. Die große Vielzahl der Elben verbeugte sich wie ein Mann vor dem Freund ihres geliebten Frodo, von dem sie so viel gehört hatten. So erwiesen sie dem letzten der Ringträger die gebührende Ehre.

„Große Pracht und Herrlichkeit,“ murmelte Sam und wurde rot.

„Große Herrlichkeit, in der Tat“, sagte Frodo und trat wieder neben seinen Freund. „Aber nun, Sam Gamdschie,“ meinte er mit einem Lächeln, „wette ich, du hast Hunger.“ Er führte Sam dorthin, wo eine lächelnde Elbendame neben einem grauen Pferd stand. „Lass mich dir unser Zuhause zeigen, und dann können wir uns in Ruhe und schön lange unterhalten. Und Bilbo möchte dich sehr gerne wiedersehen.“

„Herr Bilbo ist hier?“ fragte Sam höchst erstaunt. „Ich hätte mir nie träumen lassen, dass er’s immer noch ist, Herr.“

„Er ist hier,“ sagte Frodo leise, „wenn auch vielleicht nicht mehr für lange.“ Die Elbenfrau hob erst Frodo und dann Sam auf den Pferderücken und stieg hinter ihnen auf.

Während sie ritten, betrachtete Sam voller Vergnügen die sanfte grüne Landschaft und stellte fest, dass selbst die Luft vor seinen geblendeten Augen zu glitzern schien. Er fragte sich halb und halb (und würde es noch einige Zeit tun), ob er sich in einem weiteren Traum befände, und ob er wohl bald aufwachen würde.

*****

Ein paar Tage später, als der Abend sich verdunkelte und die Sterne über ihnen glitzerten, traf Gandalf seine Vorbereitung für eine Reihe von Feuerwerken, die blenden und verblüffen würden.

Elben, die in der Nähe der schlichten Hobbithöhle wohnten, wo Frodo und Bilbo (und nun auch Sam) in Frieden und Zufriedenheit lebten, versammelten sich auf den nahe gelegenen Hügeln und Wiesen. Andere von überall auf der Insel suchten sich eine Stelle, um zu warten und zuzuschauen, gespannt darauf, was wohl kam.

„Dürfen wir uns euch anschließen, meine Freunde?“

„Natürlich!“ Frodo und Sam machten auf der großen Decke, die sie sich teilten, Platz für Herrn Elrond und Frau Celebrían. Sam schaute voll Entzücken auf das kleine Kind in den Armen der Herrin.

„Errätst du, wie sie heißt, Samweis?“ fragte Celebrían; ihre Stimme klang den Hobbits süß und musikalisch in den Ohren.

„Meine Herrin, ich weiß kaum, mit was für einem Namen man ein so wundervolles Mädelchen schmücken könnte,“ sagte Sam und berührte sachte das seidenweiche Gesicht des Kindes.

„Sam,“ sagte Frodo, „das ist Elanor.“

„Wahrhaftig?“ Sam strahlte vor Freude. „Ich liebe diesen Namen, Herr Frodo.“

„Ich weiß!“ lachte Frodo. Er sah, wie Gandalf ihm zunickte, streckte die Hand aus und berührte Bilbo sanft an der Schulter. Der hoch betagte Hobbit, der gegen Gildor gelehnt dasaß, öffnete die Augen und lächelte Frodo an.

„Gandalf ist soweit, lieber Bilbo.“

Und so begann die großartige Vorstellung in Herrlichkeit und Verzauberung. Für die Elben erweckte Gandalf die Zwei Bäume zum Leben; nur für einen Augenblick erblühten sie noch einmal und spendeten ein reines, strahlendes Licht, das alle, die es sahen, zum Weinen brachte. Für Frodo und Sam entfaltete die Kunst des Zauberers ihr geliebtes Auenland, einmal mehr heil und ganz und wunderschön. Und Bilbo, von dem nur Gandalf wusste, dass er keinen weiteren Geburtstag mehr erleben würde, gab es Berge – die Berge von Mittelerde, die der alte Hobbit so sehr geliebt hatte, und die Berge von Aman, die kein Hobbit jemals sehen würde – jede Gebirgskette und jeder Gipfel immer noch eindrucksvoller als der nächste.

Während das Feuerwerk über den Köpfen der Bewohner der Einsamen Insel explodierte, legte sich Sam zurück und seufzte vor Zufriedenheit. So sehr er es auch versuchen mochte, er konnte kein Gefühl von Zweifel oder Unsicherheit empfinden, oder irgend eine wehmütige Sehnsucht nach dem Leben, das er hinter sich gelassen hatte. Er war gerufen worden und gekommen, aber er hatte nicht erwartet, dass die Länder im Westen sich so rasch wie ein Zuhause anfühlen würden.

Doch genau so war es.


ENDE


Top           Stories          Home