Ein Segen in Verkleidung (A Blessing in Disguise)
von Singe Addams, übersetzt von Cúthalion

Da war ein wildes Klopfen an der Küchentür und Jung-Merry verschluckte sich fast an seinem belegten Brot mit Huhn, als er von seinem Stuhl hochschoss, um es zu beantworten. Er riss die Tür weit auf und fand drei kleine Mädchen, die auf der obersten Stufe standen. Ihre Kleider waren sauber und ordentlich, aber sie hatten rote Gesichter, sie keuchten und sahen aus, als wären sie zu Tode erschrocken. Die blonde Anführerin hob den Kopf und Merry schaute erstaunt in ihr schmuddeliges, nasses Gesicht. „Hallo?“ wagte er sich vor.

„H...hallo“, antwortete sie. „D... dürfen wir Herrn Beutlin sehen, bitte?“

„Normalerweise verstecken sich die Kinder in den Büschen, wenn sie einen kurzen Blick auf den Verrückten Beutlin erhaschen wollen, wie er den Mond anheult.“ Merry grinste auf sie hinunter. Sie brach in Tränen aus und er machte einen entsetzten Schritt rückwärts.

„S’ IS’ N NOTFALL!“ kreischte sie.

„ENTSCHULDIGUNG! Entschuldige, wein doch nicht. Ich hab’s nicht so gemeint. Wein nicht, komm herein.“

Sie wagten sich nach Beutelsend hinein, als beträten sie eine Trollhöhle; die Blonde rang ihre Hände und schluchzte, die anderen beiden wünschten sich ganz offensichtlich, tot zu sein. Erstaunt gestekulierte Merry in ihre Richtung. „Onkel Frodos Studierzimmer ist hier entlang. Kommt schon.“ Sie verließen die Küche, durchquerten das prächtige Esszimmer und gingen den holzgetäfelten Korridor hinunter. „Das ist ja riesig hier“, schniefte eines der Mädchen und wurde auf der Stelle zum Schweigen gebracht.

Merry, der praktisch den gesamten Weg rückwärts lief, war mehr als gespannt und klopfte kräftig an die Tür. „Onkel Frodo?“

„Herein.“ antwortete Bürgermeister Samweis, was die Mädchen in frische Panik versetzte.

„Schsch, ihr Lieben, schon gut.“ Merry versuchte mit aller Macht, nicht zu lachen, während er die Tür öffnete. „Papa wird euch schon nicht über offenem Feuer kochen. Mama würde, aber Papa nicht, ich schwör’s.“

Sein Vater und Onkel ließen ihr Kartenspiel liegen und schauten ihn fragend an, aber er konnte bloß grinsen und die Achseln zucken. Das blonde Kind holte tief Luft, um sich Mut zu machen, straffte die Schultern und näherte sich Frodo.

Er schenkte ihr sein schönstes Lächeln. „Hallo. Mit wem habe ich denn das Vergnügen?“ Er beugte sich vor und sein unerwarteter, ganz und gar nicht gruseliger Charme war so groß, dass sie sich noch dichter heranwagte und ihre Hand auf die Armlehne seines Sessels legte.

„Gus Gutkind.“ Sie schloss die beiden anderen mit dem Daumen ein. „M... meine Schwestern Maie und Junie.“

„Gus?!”

„Kurzform für Augusta,“ Merry lachte darüber, aber sie achtete nicht auf ihn. Sie schaute Frodo flehend ins Gesicht und ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen.

„Meine Mama war eine Gutkind...“ begann Sam, aber Gus unterbrach ihn. „Wir wollten nicht, das was Schlimmes passiert. Wir haben ihn bloß ein bisschen geärgert!“

Die gute Laune im Zimmer kühlte sich ab, während Frodos Lächeln verblasste. „Wen geärgert?“

„Klein-Sam.“

Frodo wurde bleich und Jung-Merry wechselte einen besorgten, zornigen Blick mit seinem Vater. „Was ist passiert? Ist er verletzt?“ fragte Frodo.

„Unghhh,“ schluchzte Gus und zerfetzte vor lauter Verzweiflung beinahe ihr Kleid. „Wir sind ihm nachgerannt, als er die Abkürzung über das Fernfeld genommen hat, un’ wir ham ihn geschnappt, und wir ham ein altes Brunnenseil gefunden und ihn an’ n Baum gebunden...“ Sie holte wieder tief und mühselig Atem. „Und er is’ mit ihm weggelaufen.“

„Wer ist was?“

„Der BAUM!“

Merry machte unwillkürlich einen Satz. „Der Baum ist was?“

„Wir sind gleich hierher gerannt. Ihr müsst was tun!“ Sie krallte sich in Frodos Arm und Merry sah, wie ihre Knöchel weiß wurden. „Wirklich! Er is’ weg gelaufen! Er is’ einfach weg gelaufen!“

„Ihr habt meinen Sohn an einen Ent gebunden?“ fragte der Bürgermeister mit einer sehr kleinen, sehr ruhigen Stimme.

„Nein, wir haben ihn an einen laufenden Baaaaauuum gebunden! Ihr müsst mir glauben!“

„Die glauben dir aber nicht, Gus!“ zischte Junie. „Wir müssen hinter ihm her!“

„Und was sollen wir mit ihm MACHEN??“ antwortete Gus und schaute ihre Schwester an. „Ihn zu Feuerholz zerbeißen?“ Maie fing mit großem Enthusiasmus an, zu heulen, während Gus und Junie sich gegenseitig angifteten.

Frodo hob seine Hand. „Wartet, wartet, wartet... bitte.“ sagte er beruhigend und das Geschnatter hörte auf. „Ich glaube euch, ganz ehrlich. Könnt Ihr mir sagen...?“

„HUM HOM!“

Die Mädchen kreischten, stürzten sich auf der Suche nach Schutz ausgerechnet auf Jung-Merry und klammerten sich an ihm fest, während das Echo dieses Rufes wie ein Hornstoß über dem Bühl widerhallte. Sam hastete ans Fenster und schaute hinaus. Frodo trat neben ihn und starrte. „Was ist das?!“ schnaufte Merry. „Papa? Onkel Frodo?“

Frodo wandte sich zu Merry zurück und grinste ihn an, mit einer Mischung aus Entzücken und schierer Erleichterung. „Na, das ist ja ein Ding! Es ist Flinkbaum!“

Sam machte eine lockere Faust, als würde er etwas in seiner Handfläche verbergen. „Und er trägt Klein-Sam in seiner Hand. Ich kann das Strahlen von dem Jungen von hier aus sehen!“

„Flink... wirklich? Was – wartet!“ Die Erwachsenen ließen ihre Würde gänzlich fahren und schossen hinaus aus dem Studierzimmer. Merry wollte nichts mehr, als ihnen zu folgen, aber er musste erst mit gleich drei Problemen fertig werden. „Also gut, ihr Kotzmaden.“ Er schüttelte sie ab und sie schauten schockiert zu ihm auf. Was war mit ,Ihr Lieben’ passiert?

„Ihr wart...mhm... garstig! Und ihr habt verdammtes Glück, dass es Sammie gut geht!“ Hätten seine Freunde Merry Gärtner dabei beobachtet, wie er andere für garstiges Benehmen schalt, sie wären vor Lachen zusammengebrochen. Die Ironie der Sache war urkomisch, aber Merry hatte es mit der Angst zu tun bekommen und er würde einem Schmunzeln jetzt nicht so leicht nachgeben. Er hustete und fand zu seinem anständigen Grimm zurück. „Kommt mit. Ihr könnt einem der Herren vom Fangornwald erklären, warum ihr unbedingt einen Hobbit an ihm festbinden musstet.“ Er konnte hören, wie sich überall im Smial Türen öffneten, als seine Familie dem Spektakel eines Ents im Garten entgegenstürzte. Ein Ent! Ein richtiger, lebendiger Ent!

„Merry! Komm schon!“ schrie sein Bruder Pip aus dem Garten, mitten zwischen den entzückten Ausrufen seiner Brüder und Schwestern.

„Ich komme ja!“ Er öffnete die Tür und deutete nach draußen. „Gehen wir.“

Gus verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Oh nein. Wirklich. Nein. Wir gehen jetzt nach Hause.“ sagte sie mit dem allerwinzigsten Schwanken in der Stimme – so, als würde sie gerade vergifteten Tee ablehnen, also vielen, herzlichen Dank auch. Merry, der für die feinen Sitten der Gesellschaft wenig übrig hatte, zerrte sie an ihrem Ohr aus der Studierstube. „AAAAUUU! NEIN!“ Maie und Junie rangen vor Entsetzen nach Luft.

„Sag nicht ,Nein’ zu mir, du Göre.“ Er fing Junie ebenfalls ein, bevor sie außer Reichweite war und brachte es, da er nicht über drei Arme verfügte, fertig, Maie mit einem durchbohrenden Blick aufzuhalten. „Wir gehen in den Garten.“

„Wir haben doch gesagt, es tut uns leid!“ jaulte Gus.

„Nein, habt ihr nicht.“ korrigierte Merry. Sie schlug seine Hand weg und wäre weggerannt, aber sie war nicht älter als Sammie mit seinen neun Jahren und Merry war ein groß gewachsener, fixer Fünfzehnjähriger. Er fing sie leicht am Arm wieder ein. Junie versuchte nicht einmal, sich ihm zu entziehen, und Maie stand auch bloß da und gaffte mit offenem Mund angesichts so viel erschreckender Gewalttätigkeit.

„Lass uns GEH’N! Das kannst du nicht MACHEN!“ Gus versuchte ihn zu treten, aber ein gutes, knappes Schütteln von Merry bereitete dem ein schnelles Ende.

„Ich kann machen, was ich will. Drei feine Grobiane verdienen einander, hab ich Recht?“ Er zerrte sie den Flur hinunter. „Na, macht das Spaß?“

„Nein!“

„Also, ich habe jedenfalls welchen, Zu blöd, dass ich nicht auch noch ein Brunnenseil habe.“

Die Vordertür stand weit offen und Merry sauste hinaus, so schnell es die zitternden Mädchen zuließen. Nach dem Geräusch zu urteilen kam der gesamte Bühl gerade ins Freie. Ja, da war die Witwe Rumpel vom Neuen Weg Nr. 3, und da waren alle sieben Gutleibs aus Nr. 2 und alle vier Boffins aus Nr. 1; Folco Gutleib war gerade erst in diesem Frühling mit seiner Frau und zwei Söhnen eingezogen.

All diese Leute und die Gärtners hatten eine ganz schön aufgeregte Menge vor dem Ent gebildet, der die Straße blockierte, so stolz man es sich nur vorstellen kann. Merrys Mutter, die Frau Rose, war da und sprach mit dem Baumhirten, die Wäscheklammern noch immer in der Hand und einen strahlenden Glanz in den Augen. Als Flinkbaum sah, wie Frodo und Sam näher kamen, verbeugte er sich so tief, wie es sein steifer Leib zuließ, und die beiden Ringträger erwiderten die höfliche Geste voller Respekt. Dann richteten sie sich auf und winkten zu Sammie hoch, der begeistert zurückwinkte. Reisende auf dem Weg, mit Waren vom Markt beladen oder bloß auf einem Spaziergang unterwegs, waren dort eingefroren, wo sie standen, wie gelähmt und mehr als nur ein bisschen verängstigt. Wilfried Eichlers Pony stampfte streitlustig in seinem Geschirr. Wilfried war nirgendwo zu sehen.

Ein Ent. Ein Ent, hier. Hier im langweiligen alten Hobbingen.

„Bregalad“, flüsterte Merry und blieb ehrfürchtig direkt vor der Tür stehen.

„Häh?“ flüsterte Junie.

„Das ist sein elbischer Name. In unserer Sprache heißt es ,Flinkbaum’.“ erklärte Merry und vergaß in der Aufregung des Augenblicks ganz, die Mädchen zu verschrecken.„Flinkbaum, der hastige Ent.“

„Was macht er denn?“

„Er... hastet.“ antwortete Merry abwesend, während er sich satt sah.

Flinkbaum war groß, beinahe so hoch wie Sandigmanns Mühle, und schlank. Er hatte lange Finger und schüttelte sein moosartiges Haar, während die Sonne auf seine glatte, graue Haut schien. Sam saß auf einer riesigen Schulter und klammerte sich fest, als ginge es um sein Leben, während Flinkbaum sich sanft vor- und zurückwiegte und einen Hobbit nach dem anderen betrachtete. Merry wunderte sich, wie ihn irgend jemand bei all seinen grazilen Bewegungen mit einem Baum verwechseln konnte. Aber wenn er sehr still hielt, dann, ja, dann war es möglich. Als nächstes deutete Merrys Papa zu Wilfrieds Pony hinüber und irgend etwas, das er sagte, musste das uralte Geschöpf sehr erheitert haben. Sein Gelächter strömte in einer solch freudig klingenden Welle über den Bühl, dass Merry dachte, er könnte in seiner Wärme schwimmen. Die Menge brach plötzlich auseinander und ging Flinkbaum aus dem Weg, als er sich in Bewegung setzte.

Mit nur wenigen großen Schritten hatte er Merry und die Mädchen erreicht (sein Schatten und der von Sammie fiel auf ihre nach oben gewandten Gesichter) und war an ihnen vorbei. Merry wollte dem fremdartigen Geschöpf etwas zurufen, oder doch wenigstens seinem Bruder, aber er konnte es einfach nicht. Weder Sammie noch Flinkbaum bemerkten sie, wie sie dort standen, klein und mit offenen Mündern wie frisch geschlüpfte Küken. Der Ent summte mit einer klaren Stimme glücklich vor sich hin, und Merry lauschte fasziniert. „Bum dahra ranna rum. Burarum bum!“ Der Ent stieg nach Beutelsend hinauf und ohne Eile darüber hinweg; dabei stellte er sicher, dass er sich nicht Frau Roses im Stich gelassener Wäsche verfing. Er war auf dem Weg zur Festwiese, und alle Hobbits vom Bühl folgten ihm voller Eifer. Die Hobbits vom Weg näherten sich mir sehr viel mehr Vorsicht.

„Mer, kannst du das glauben?! Kannst du es glauben?!“ fragte Pip und hastete zu ihm herüber. „Er ist aus Bockland gekommen und hat eine Woche in den Obstgärten vom Brandyschloss verbracht. Na ja, es ist ja nicht so, dass sie ihn in ein Gästezimmer stecken könnten, hm? Onkel Merry hat uns absichtlich keine Nachricht geschickt, dass er kommt! Er wollte, dass es eine Überraschung ist! Wer sind diese Mädchen?“

„Schmierige Gören. Bring die da mit und beeil dich!“ Merry zog Gus und Junie hinter sich her und rannte. Pip packte Maie um die Taille und folgte ihm, wobei die unglückselige kleine Gutkind auf und nieder hüpfte. „Was macht er hier? Einen Besuch?“

„Stimmt. Er sagt, es sei ein freigiebiges, liebevolles Land.“

„Was denn, Hobbingen?“ fragte Merry und Pip schüttelte bloß den Kopf.

Flinkbaum war vor dem Mallorn stehen geblieben, der die Festwiese krönte. Es war ein anmutiger junger Baum und das Wunder und der Mittelpunkt des gesamten Auenlandes. Flinkbaum setzte Sammie ganz sanft auf den Boden. Er streckte sich, breitete weit die Arme aus, als wollte er den Baum umarmen und lachte wieder in einem entzückten Gruß. Es war sicher eine Täuschung durch das Sonnenlicht, aber Merry hätte schwören können, dass der Baum dem Baumhirten Antwort gab. Der Mallorn streckte jeden einzelnen seiner silberborkigen Zweige und Äste, und seine goldenen Blätter erzitterten in reiner Freude. Wieder lachte Flinkbaum, und die Hobbits stimmten mit ein. Selbst die schockierten Fußgänger von der Straße, die sich in sehr sicherem Abstand hielten, stellten fest, dass sie lächelten.

Flinkbaum wandte sich zu Frodo zurück, und Jung-Merry begriff, dass alle Gärtner ordentlich vorgestellt wurden. „Komm dir seine Augen anschauen, Mer.“ sagte Pip. „Sie sind genau so, wie Onkel Pippin sie im Roten Buch beschrieben hat. Aber noch mehr!“ Benommen ließ Pip Maie los und wanderte wieder dichter heran. Merry blieb zurück und wartete, bis seine dreizehn Geschwister, die Witwe Rumpel und die Hauptvertreter der Boffins und Gutleibs samt und sonders ihre Verbeugungen gemacht hatten, bevor er selbst vortrat. Er wollte auffallen. Und wichtiger noch (er zog seine Gefangenen kräftig hinter sich her), er wollte, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Sammie sah sie näher kommen und seine Augen wurden groß und erschrocken.

Sein Papa lächelte. „Ah... das hier ist mein zweitältester Junge. Heißt Merry, nach Herrn Meriadoc.“

Merry schaute auf, hinein in die grün und golden gesprenkelten Brunnen der Zeit, die freundlich auf ihn hernieder sahen, und geradewegs durch ihn hindurch. Pippin hatte Recht gehabt, und plötzlich hatte er das Gefühl, er sei ein winziger, unbedeutender Fleck, der den langen, strahlend reichen Wandteppich des Lebens verunreinigte, der durch Flinkbaums bodenlose Augen hindurchschien. Es war ein Wunder, dass der uralte Ent überhaupt geruhte, ihn zu bemerken, und mehr noch, dass er, wie sein freundliches Lächeln zeigte, von ihm entzückt war. Merry lächelte zurück und verbeugte sich, so gut er konnte, während sein Herz drohte, all dieser Wundersamkeiten wegen stehen zu bleiben. „Meister Bregalad“, murmelte er. Gus wimmerte ganz weit hinten in ihrer Kehle. Maie und Junie starrten ganz einfach mit hängendem Kinn, sie starrten und starrten, völlig verloren in diesem endlosen, weisen Blick.

„Hum, nun... noch ein Herr Merry. Hm... ganz wundervoll.“ Flinkbaum erwiderte die Verbeugung. „Noch ist die Welt nicht so sicher, dass sie nicht so viele Merrys willkommenhieße, wie sie tragen kann. Und du bist wahrhaft ein Segen.“ Jung Merry blinzelte in beglücktem Staunen.

„Und er hat Sammies... ehm... kleine Freunde bei sich. Ich glaube, ich darf dir Maie, Junie und Augusta Gutkind vorstellen.“ Sam schluckte ein Glucksen hinunter. Frodo schaute an seiner Nase entlang die Mädchen an. „Gutkind dem Namen nach jedenfalls, wenn schon nicht wirklich.“

Gus’ Gesicht lief rot an. „Wir wussten es nicht. Wir wussten nicht, dass er laufen kann.“ Frodo zeigte mit strengem Gesichtsausdruck auf den Ent. Gus verstand den Wink und wandte sich widerstrebend an Flinkbaum. „Es tu mir leid. Uns tut es leid. Wir machen es nie wieder.“

„Nun, das will ich doch hoffen.“ sagte Sam, was ihm ein Lachen von jedermann eintrug. Jedermann – eigenartigerweise ausgenommen Sammie, der die Mädchen mit einem Gesichtsausdruck anstarrte, der nach wachsender Panik aussah. Merry wurde wieder wütend. Was hatten diese garstigen kleinen Wiesel mit seinem Bruder gemacht, dass er selbst jetzt noch Angst vor ihnen hatte?

Er knuffte Gus hart gegen die Schulter. „Entschuldige dich auch bei meinem Bruder, du Schlange.“ Sammies Mund arbeitete, aber kein Ton kam heraus.

„Tut mir leid, Sammie.“ flüsterte Gus, die Schultern verkrümmt. Maie und Junie kamen lang genug aus ihrer faszinierten Lähmung heraus, um ebenfalls ein entschuldigendes Wimmern von sich zu geben.

„Ist schon gut! Es ist schon gut, wirklich!“ sagte der Junge atemlos.

„Jetzt macht, dass Ihr wegkommt und lasst Euch von mir nicht mehr in seiner Nähe erwischen!“ Gus weinte wieder; sie schnappte sich die nächste Schwester und wandte sich ab, um wegzulaufen, aber eine enorme graue Hand versperrte ihr den Weg. Sie blieb stehen und die Mädchen drängten sich aneinander.

„Hum, nun, lasst uns nicht hastig sein.“ Flinkbaum schüttelte seinen moosigen Kopf in Merrys Richtung, „Bei meinen Zweigen, nie hätte ich gedacht, dass ich das sagen würde, aber wir dürfen über diese Sache nicht zu hitzig werden, Meister Merry.“

„Herr?“

„Hm... es wäre kaum recht von dir getan, die Guten Kinder fortzuschicken, nachdem dein Bruder den ganzen Morgen über hart daran gearbeitet hat, sie auf sich aufmerksam zu machen.“

„Was?!“ rief Merry aus und vergaß seine Manieren. Eine kleine Welle ging durch die Gärtners. Was war denn das jetzt? Sammie biss an einem Daumennagel herum.

„Er muss dieses Feld ein halbes Dutzend Mal überquert haben, bevor sie endlich hervorbrachen und hinter ihm her rannten. Du kannst die Kleinen nicht dafür bestrafen, dass sie ordentlich an der Nase herumgeführt wurden, oder?“

„Aber wir dachten...“ begann Frodo, sein Gesicht schuldbewusst. „Siehst du, wir dachten... Sammie wird oft belästigt, weil er...“

„Onkel Frodo“, unterbrach ihn Sammie elend. „Bitte.“

„Wir gehen jetzt nach Hause.“ verkündete Gus und ihre Stimme klang endgültig. Sie hatte offenbar mehr als genug.

Flinkbaum neigte sich in ihre Richtung und die Mundwinkel seines leuchtend roten Mundes hoben sich. „Ich bitte um Vergebung, meine Kleine, dass ich dir dein Spiel verdorben habe.“

Sie musterte den Ent lange Zeit mit großer Eindringlichkeit. Dann streckte sie langsam die Hand aus und tätschelte seine Hand, die noch immer in ihrer Nähe schwebte, scheinbar mehr aus Neugier, wie sie sich anfühlte, als um ihn zu beruhigen. Ein Ent ist alles andere als ungeduldig, aber es dauerte wirklich nicht lange, bis Gus Gesicht sich entspannte. „Ich hab bloß Angst gehabt, als du dich bewegt hast. Wir sind gerannt, um Hilfe zu holen.“

Sie atmete tief und erleichtert aus.

„Es siehst so aus, als ob wir auch dir eine Bitte um Vergebung schulden.“ begann Frodo.

„Hmpf.“ machte Gus wegwerfend, noch immer verloren in den uralten Augen. Der Ringträger zog sich mit einem reumütigen Lächeln zurück und Frau Rose lachte ihn aus. „Wie kommt es, dass du laufen kannst? Ist das Zauberei?“ Wieder erzitterte Flinkbaum vor Vergnügen.

„Gus, ich will nach Hause.“ wimmerte Maie, die sich fest an Junies Schürzenbändel klammerte.

Sammie kam näher und legte eine Hand auf Gus’ Arm. Sie zuckte zusammen. „Er ist ein Ent. Ich kann dir alles über Ents erzählen.“ versicherte er ernsthaft. Aber ihr Gesicht hatte sich wieder verschlossen und sie zog sich sowohl von Sammie als auch von Flinkbaum zurück. „Wir müssen weg.“ Sammies Gesicht verfiel, und Merry wäre am liebsten in einen Straßengraben gesprungen und hätte sich darin ersäuft. Der arme Sammie hatte versucht, einen seltenen Fisch an Land zu ziehen, einen Freund – tatsächlich drei Freunde – aber jetzt waren sie verschreckt. Gus seufzte, von großen, bittenden Augen nicht ungerührt, aber sie war noch immer fürchterlich entschlossen. „Nein, ich meine wirklich, dass wir weg müssen. Von Hobbingen. Wir sind aus Hafergut und wir waren bloß eine kleine Weile hier, weil wir unsere Leute auf dem Weg zu den Tukländern besucht haben. Die Brauns vom Fernfeld. Wir fahren morgen, und die Brauns nehmen wir mit. Sie haben schon ihr Haus verkauft und alles.“

„Ich habe mich schon gewundert, warum ich dich noch nie vorher gesehen habe.“ sagte der Bürgermeister. Gus nickte, wischte sich mit einem Arm über das Gesicht und wandte sich zurück an Sammie. „Da zieht bald eine neue Familie ein. Die Mutter ist hier irgendwo aufgewachsen, und sie wollte immer wieder zurück kommen. Lila. Die Grabenbläsers. Die haben Kinder. Vielleicht ist eins davon gut für dich.“ sagte sie in beschwichtigendem Tonfall. Sammie starrte zu Boden. Gus sah aus, als würde sie gleich wieder anfangen zu weinen. „Also... mach’s gut.“

„Mach’s gut.“ Sammie klang hoffnungslos, und Jung-Merry seufzte. So daneben. Er hatte so... er lag immer noch so daneben.

Wieso Flinkbaum dachte, er wäre ein Segen für irgendwas, das ging ihm über die Hutschnur. „Ich bring Euch zum Fernfeld zurück, ihr Lieben.“ sagte er mit seiner allerbesten, ehrlichsten, bußfertigsten Stimme. Gus neigte ihren Kopf langsam in seine Richtung. Dann wirbelte sie herum und trat ihn gegen das Schienenbein... trat ihn so schnell und so hart, wie sie es mit ihrem starken, kleinen Fuß fertig brachte, und Merry knickte vor Schmerz ein. „AAAAAUUUU!“

„HA!“ Sie winkte ihren Schwestern vor sich zu. „RENNT! RENNT!“ Sie sausten los und alle drei verschwanden schneller, als Merry jemals irgend jemanden hatte laufen sehen, hinter dem Horizont. Die Menge bejubelte ihren Abgang und es gab auch jede Menge Gelächter, sehr auf Merrys Kosten. Er winkte lässig mit einer Hand, lächelte und akzeptierte das Glucksen und Wiehern, aber der übliche Funke in seinen Augen fehlte. Er rieb sich das Bein und vermied es, seinen kleinen Bruder anzuschauen.

Frau Rose hörte lang genug auf zu kichern, um zu erklären, dass man genauso gut ein Fest zu Ehren ihres Gastes feiern könnte, da sowieso schon alle da waren. Sie rief nach Essen und nach Fässchen mit Bier, und ihre Kinder verteilten sich, um die Dinge zu arrangieren. Die Menge jubelte zustimmend und verteilte sich ebenfalls, um Freude und Verwandte zusammen zu rufen und alles an Leckerein und Musikinstrumenten einzusammeln, was vollkommen zu einer anständigen Festwiesenfeier passte. Flinkbaum klatschte in die Hände und lachte über die kleinen Hobbits, die wie kleine Kaninchen in bunten Farben herumsausten.

Im Schutz des ganzen Durcheinanders kroch Sammie dicht an Merry heran, und der ältere Junge seufzte. „Lass mich einfach Dreck fressen, Sammie...“

„Weißt du, nicht jeder auf der Welt behandelt mich schlecht.“ Sammies Stimme klang traurig und verwirrt.

Merry hob widerwillig den Kopf. „Manchmal sieht es so aus. Manchmal mache ich einfach... ich... es tut mir leid. Es ist ganz und gar mein Fehler, dass dir deine Mädchen weggelaufen sind.“

Sammie setzte sich neben ihn und schlang die Arme um seine mageren Knie. „Oh, sie ist schon in Ordnung. Flinkbaum hat die Sache auch nicht besser gemacht. Und sie wollten die Stadt sowieso verlassen.“ Merry schüttelte den Kopf. Auf der ganzen Welt gab es nichts Schmerzhafteres als die bereitwillige Vergebung eines Kindes, das einen liebte. Aber er war dankbar. Sammie rutschte dicht heran und legte seinen Kopf auf Merrys Arm. Merry hob den Arm hoch, legte ihn Sammie um die Schultern und zog ihn eng an sich. „Und wir werden Gus wiedersehen.“

Merry hob sein Bein. Die rote Beule, die Gus hinterlassen hatte, sah aus wie ein Erdhörnchen mit Hut, und es würde ein riesiger Bluterguss werden. „Das hoffe ich ganz sicher nicht.“

„Du wirst schon mit ihr klar kommen, Merry.“ Sammies Stimme wurde abwesend und verträumt. „Du bist ein Segen, du wirst schon sehen.“ Ja, richtig. Merry kraulte Sammies lockiges Haar, ohne zu antworten.

Sie erschraken ein wenig, als zwei riesige, graue Hände sie hochhoben und wieder auf die Füße stellten. Jung-Merry schaute in Flinkbaums freundliches Gesicht und lächelte unwillkürlich. Der Ent bemühte sich diesmal sehr rücksichtsvoll, nicht zu lachen.

Schnell war das Fest in vollem Gange und jedermann stürzte sich ins Vergnügen. Jung-Merry hatte wegen seiner beschämenden Niederlage gegen die Hände – oder besser den Fuß – eines neunjährigen Mädchens eine ganze Menge Neckerei zu ertragen. Er lachte bloß, weil er das Gefühl hatte, dass er alles verdiente, was wer auch immer austeilen wollte, und er tanzte mit so vielen Leuten, wie sein lädiertes Bein es zuließ. Flinkbaum lachte oft und laut und erzählte packende Geschichten über sein Volk, und er berichtete, fast noch faszinierender, davon, wie Hobbits aus dem Auenland den Ents während des Großen Krieges heldenhaft beigestanden hatten. Bregalad tanzte natürlich nicht, aber er sang in seiner uralten, rollenden Sprache für das elbische Geschenk, den Mallorn, und er wiegte sich unter dem aufsteigenden Mond. Sammie und die anderen Kleinen machten es ihm nach, indem sie anmutig mit den Armen in der Luft herumwedelten, während der Wind durch ihre Locken blies. Und es gab die, die schworen, der Mallorn habe sich gleichzeitig mit ihnen allen gewiegt, vor und zurück, vor und zurück im Sternenlicht, aber es war ganz bestimmt das Bier, das da aus ihnen sprach.

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