Der Ork der Königin (The Queen's Orc)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Einundzwanzig
Lothlórien vergeht

Vier Tage lang war Arwen nicht herunter gekommen, und endlich machte sich Canohando auf den Weg nach oben, um nach ihr zu sehen. Er setzte sich unten auf die lange, gewundene Treppe und schob sich aufwärts, mühsam und Stufe für Stufe; seine Krücken zerrte er hinter sich her. Oben lehnte er sich sich gegen die Wand, schweißüberströmt und atemlos vor Anstrengung. Er wartete darauf, dass er seine Kraft zurück gewann, und so fand die Königin ihn vor.

„Canohando! Lieber, wie bist du her gekommen, was hast du dir angetan?“ Sie beugte sich bestürzt über ihn und er blickte zu ihr auf und in ihre Augen. 

„Ich hatte Angst um dich, Herrin, als du nicht herunter gekommen bist,“ sagte er.

„Komm mit in mein Sonnenzimmer und ruh dich aus. Du wirst dich selbst wieder krank machen, wenn du nicht Acht gibst.“

Er kämpfte sich auf die Beine und folgte ihr auf seinen Krücken; sie ließ ihn sich auf einem flachen Sofa nieder legen und schob ihm Kissen unter den Kopf. Er protestierte, konnte aber einen erleichterten Seufzer nicht unterdrücken, und sie lächelte.

„Schlaf, Lieber. Mach die Augen zu,“ sagte sie, aber er schüttelte den Kopf.

„Dann kann ich dich nicht sehen, Herrin. Wenn du nicht herunter kommst, muss ich dorthin hinauf kommen, wo du bist.“

Sie setzte sich zu ihm und nahm seine Hand. „Wie geht es deinem Bein? Hast du noch Schmerzen?“ 

Er zuckte die Achseln. „Es heilt. Ich werde mich freuen, wenn ich die Krücken los bin. Wie geht es dir, Herrin? Warum kommst du nicht herunter und gehst in den Gärten spazieren, wie du es früher getan hast?“ 

Sie wandte den Kopf ab. „Ich traure. Ich werde niemals aufhören zu trauern, und der Garten ist voller Erinnerungen.“

Er befingerte den Juwel, der ihm um den Hals hing. „Mein Geist ist auch voller Erinnerungen, und sie sind sehr böse. Deine Erinnerungen würden gut sein, Herrin, Warum fliehst du vor ihnen?“ Sein Blick war flehend. „Komm wieder herunter, meine Königin. Lothlórien ist dein Zuhause, und hier bist du glücklich gewesen. Die Erinnerung an dieses Glück kann doch nicht böse sein.“

„Nein,“ sagte Arwen leise, „meine Erinnerungen sind gut und schön, aber sie tun  weh.“

Er hob ihre Hand an seine Lippen. „Du bist nicht feige, Herrin. Wenn ich Übungen für mein Bein mache, tut das auch weh, aber es bringt Heilung. Komm wieder herunter.“

Sie lächelte ironisch. „Und wenn ich es nicht tue, dann kommst du herauf, um mich zu sehen, auch wenn du dabei atemlos und zitternd oben auf dem Treppenabsatz endest?“ fragte sie, und er nickte.

„Also schön. Ich werde herunter kommen, und ich werde mit dir umher wandern, während du dein Bein kräftigst und stark wirst. Nur für eine Jahreszeit, Canohando! Denn ich bin nicht nach Lórien zurück gekehrt, um heil zu werden, sondern um Lebewohl zu sagen. Jetzt ruh dich ein wenig aus, ehe du wieder hinunter gehst.“

Danach kam sie jeden Nachmittag hinunter und ging langsam mit dem Ork die mit Steinen belegten Wege entlang, und Elladan ging mit ihnen. Als Canohando sicherer auf den Beinen war, verließen sie die Wege, um unter den Bäumen zu laufen, die an den Garten grenzten. Der Sommer war gekommen, und die Mallorns standen in vollem Laub, aber noch immer sahen sie aus, als wären sie halb kahl, so wenige Blätter gab es, und so klein waren sie. Von Zeit zu Zeit langte Arwen hinauf, um sie zu berühren, das Gesicht betrübt.

„Du hast Recht gehabt, Bruder, sie sterben. Ai! laurie lantar lassi súrinen , yéni únótime ve rámar aldaron!* Es gibt keinen Platz für die Älteren Kinder im Zeitalter der Menschen, nicht einmal für die Mallorns."

Elladan antwortete nicht, und sie blieb vor ihm stehen und zwang ihn, es ebenfalls zu tun. „Was wirst du tun, Bruder, wenn du nach Gondor zurückkehrst?  Fährst du mit Elrohir gemeinsam über das Meer? Denn ich weiß, dass er sich das wünscht, aber ohne dich wird er nicht gehen.“

Er regte sich ungeduldig, legte ihr einen Arm um die Schultern und drängte sie, weiter zu gehen. „Ich weiß es nicht. Ich bin zwischen beiden Wegen hin und her gerissen – zu bleiben und diesem neuen Zeitalter zu geben, was immer ich an Stärke und Verstand anzubieten habe, damit wir an Gutem bewahren, was wir aus dem Feuer retten konnten, oder unserem Vater und unserer Sippe zu folgen. Und was würde ich zu tun finden im Segensreich, Arwen? Und doch weiß ich, dass Elrohir sich danach sehnt, zu segeln, und dass er nur um meinetwillen bleibt.“ 

„Dein ganzes Leben lang hast du für das Licht gekämpft, aber du weißt nicht, wie du dich am Sieg freuen sollst,“ sagte Arwen, und Elladan lachte säuerlich.

„Und das ist nach allem ein Sieg für den Dunklen Herrscher, nicht wahr? Der Krieger ist zum Gefangenen seines eigenen Schwertes geworden.“

Canohando hatte mit ihnen Schritt gehalten, so leise, dass sie beinahe vergaßen, dass er da war, aber jetzt sprach er. 

„Die Herrin hat ihr Geburtsrecht aufgegeben, um den König zu heiraten, und von solcher Art war er, dass er das Opfer wert gewesen ist. Aber wenn ich nach Valinor gerufen würde, Bruder der Königin, dann könntest weder du, noch alle je gezüchteten Orks, noch der Hexenkönig selbst mich davon abhalten! Ich möchte dich nicht einen Narren nennen, denn du bist in den meisten Dingen weise... aber nicht in diesem.“

„Dich verlangt danach, ins Segensreich zu gehen, Canohando?“ fragte Elladan überrascht. „Aus welchem Grund?“

„Weil es das Land des Lichts ist, und während ich lebe, kämpfe ich gegen die Finsternis. Ich war hungrig und wusste nicht, was es war, wonach ich hungerte, aber jetzt weiß ich es. Es ist der Ruf nach den Erstgeborenen, und ich fühle ihn, aber ich kann ihm keine Antwort geben, denn meine Rasse ist verflucht! Doch auf dir liegt kein Fluch, Bruder der Königin, der dich in den Schatten zurückhält.“ Die Stimme des Orks war rau vor Gefühl.

Arwen legte ihre Wange liebkosend an Elladans Schulter. „Was kannst du hier noch mehr tun, Bruder, das Eldarion und seine Kinder nicht genauso gut zu tun vermögen? Seltsam, dass du Elrohir von der Erscheinung her so sehr ähnelst, und dass du in dieser Sache so anders bist als er! Denn ich vermute, dass er so sehr danach hungert, dem Ruf zu folgen, wie Canohando es tut, und doch wird er nicht ohne dich absegeln.“

Elladan stand da und streichelte ihr das Haar, das Gesicht unentschlossen; Canohando ging ein paar Schritte weiter und deutete mit der Spitze seiner Krücke auf einen jungen Schössling, der durch die verrotteten Blätter auf dem Boden gestoßen war und nicht ganz bis zu seiner Hüfte reichte.

„Du sagst, dass die Bäume sterben, Herrin, und doch wächst hier etwas Neues.“

Sie kamen herüber, um es sich anzuschauen. Elladan hockte sich hin, um Blätter und Rinde zu untersuchen.

„Eiche“, sagte er. Er blickte sich ein paar Meter weiter um und betrachtete einen weiteren Baum, dünn wie ein Peitschenstecken und kaum mehr als eine Handvoll Blätter oben auf einem schlanken Stängel. „Und das ist eine Buche, denke ich.“

Sie fingen an, zwischen den riesigen, silbernen Stämmen der Mallorns zu suchen, und sie stellten fest, dass viele junge Bäume Wurzeln geschlagen hatten, Buche und Eiche und Kastanie, die größten davon höher als Elladans Kopf.

„Dies wird noch immer Waldland sein,“ sagte Arwen endlich, „und doch nicht der Goldene Wald. Es gibt hier keine Mallorn-Setzlinge.“

„Aber die anderen sind trotzdem Bäume,“ sagte Canohando dickköpfig. „Ich weiß nicht, was auf der Ebene von Gorgoroth wuchs, ehe der Dunkle Herrscher nach Mordor kam, aber es ist jetzt gutes Land, mit all dem, was der alte Mann dort gepflanzt hat. Schön und voller Leben.“

„Und auch dieses Land wird schön sein. Vögel werden hier nisten, und Hirsche werden unter den Bäumen laufen, wenn sie groß gewachsen sind – aber es wird nicht Galadriels Wald sein, nicht Lothlórien“, sagte Arwen. Ihre Stimme war voller Kummer, und Canohando hatte keine Antwort für sie.

Doch später, als die Königin sich in ihre Kammer zurückgezogen hatte und Elladan zu den Elben gegangen war, die ihr aufwarteten, um mit ihnen zu reden,  da wanderte der Ork wieder in den Wald hinaus, um noch mehr Setzlinge zu suchen. Er hatte den verschiedenen Arten von Bäumen nie viel Aufmerksamkeit geschenkt – nur, wenn es darum ging, die richtige Sorte für seine Bögen und Pfeile zu suchen – aber jetzt berührte er zart die Blätter und verglich ihre Form. Er ging langsam von einem zum anderen, ließ seine Finger die Rinde hinab gleiten und bückte sich sogar, um an den Blättern zu schnuppern; er wurde von einer Sehnsucht bewegt, für die er keinen Namen hatte.

„Meine Mutter konnte sie reden hören,“ sagte eine Stimme über seinem Kopf; er blickte hoch und sah Malawen, auf einer Plattform in einem der Mallorns, etwa einen Meter über ihm.

Er war erschrocken, und ärgerlich auf sich selbst, weil er zugelassen hatte, dass sie ihn überraschte; in Mordor hätte er nicht überlebt, wenn ein Feind ihm ohne sein Wissen so nahe gekommen wäre! Doch sie war ein lieblicher Anblick, auf den Knien halb aufgerichtet wie ein Vogel, der sich gerade in die Luft erheben wollte; ihr kurzes Kleid hatte die Farbe der Blätter und ihr bleiches Haar umfloss ihre Schultern wie ein Mantel. Während er sie betrachtete, vergaß er seinen Ärger und lächelte.

„Und du, kannst du sie auch hören, Elbchen? Was sagen sie?“ 

„Sie sagen, sie mögen keine Orks! Was willst du in Lórien, Baumbrenner?“

Er seufzte und lehnte sich an den Stamm des Mallorn. „Sie haben deinen Wald verbrannt, ja? Aber ich würde das nicht tun, Kleine. Kennst du die Namen dieser neuen Bäume... die, die keine Mallorns sind?“

Sie deutete hin. „Da, neben dir, das ist eine Buche.“

Er bückte sich und untersuchte sie; er befühlte die Blätter und drehte sie um, damit er auf die Rückseite schauen konnte. „Bist du auch traurig, Elbchen, dass die Mallorns vergehen, und dass diese Bäume an ihrer Stelle wachsen?“

Sie antwortete nicht, und er blickte hoch. Sie nickte kummervoll, aber als sie sprach, war ihre Stimme hart. „Was macht es schon, wenn ich traure? Wozu ist es gut?“

Er zuckte die Achseln. „Wozu ist es gut, wenn man hasst?“ fragte er.

Sie starrte ihn einen Moment lang finster an, ehe sie sich von ihrem Flett herunter schwang und hinter dem Baum verschwand. Canohando brachte seine  Krücken unter sich, so rasch er es vermochte, und er folgte ihr, aber sie war verschwunden.

Doch spät in dieser Nacht erwachte er aus tiefem Schlaf, mit dem Gefühl, dass jemand im Zimmer war. Er lag still, er lauschte und wartete, bis sich seine Augen an die Schatten gewöhnt hatten. Malawen stand dicht am Fenster, aber als sie begriff, dass er sie gesehen hatte, schlüpfte sie davon.

Danach kam sie wieder und wieder, üblicherweise dann, wenn das erste Licht sich durch das Fenster schlich. Sie rollte sich in einem Sessel in der Ecke zusammen, und nach einer Weile drang ihr unverwandter Blick durch seine Träume, bis er sich aufrichtete und sie sah. Sie sprach nicht, aber ihre Augen waren voll von ungeheilter Pein, und Canohando begegnete ihnen, ohne weg zu schauen; er verbarg nichts vor ihr und ließ zu, dass sie sein Herz erforschte.

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* Ah! Wie Gold fallen die Blätter im Wind, lange Jahre, zeitlos wie die Schwingen der Bäume!
(aus: Der Herr der Ringe, Buch II, Galadriels Abschiedslied)


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