Nächte wie diese
von Uta

Es gibt sie wirklich.

Jene Nächte, in denen man Fenster und Türen versperren, alle Lichter löschen und sich tief unter der Bettdecke verbergen sollte, schlafend... oder zumindest sich schlafend stellend.

Jene Nächte, mondlos und wolkenverhangen, wenn sanfter Regen fällt und alle anderen Geräusche zu verwischen scheint. Den Klang von Schritten draußen auf der Straße. Das leise Quietschen des Gartentors. Die flüsternden Stimmen jenseits des Lampenscheins.

Jene Nächte sind es, in denen SIE den Weg in unsere Welt finden.

Nächte wie... diese.

Als es begann, wusste ich noch nicht, wie sie uns aufspüren. Mich, und meinesgleichen. Zunächst hatte ich wohl das Kerzenlicht in Verdacht und ließ die Bullerbü-Teelichthalter im Lönneberga-Küchenschrank verschwinden. Die Welt, meine Welt, wurde unromantisch. Wenig später verbannte ich Howard Shore und das London Philharmonic Orchestra ersatzlos von der eigens für sie angeschafften CD-Anlage. Meine Welt wurde stumm. Dann, voller Verzweiflung, tat ich, was ich niemals zu tun geschworen hatte, und nahm meine Latex-Elbenohren ab. Mit einem feuchten Plopp verlor meine Welt ihren restlichen Zauber.

Nichts davon hat SIE aufhalten können.

SIE finden uns immer. Überall.

"Sei gegrüßt." Er ist stets höflich.

"Sei gewarnt." Er ist stets pragmatisch.

Beide zusammen sind genauso, wie ich sie mir niemals vorgestellt habe.

"Mae govannen", murmele ich und schiele an ihnen vorbei. Wenn ich sie schon ertragen muß – ob sie diesmal endlich, endlich Leggi mitgebracht haben? Ich habe da so ein Fragment auf der Festplatte, wo er die Prinzessin der Schwarzen Nixen (es sind übrigens neun) im Meer von Rhûn vor der Schlamm speienden Seeschlange rettet, und ich müsste ganz dringend persönlich ausprobieren, ob er schwimmen - aber nein, sie sind allein. Und sie sind schon wieder mitten durch die Blumenbeete gestapft.

"Was tust du da?"

Sie kommen näher. Von rechts und links lehnen sie sich über meine Schultern, tropfnass und irgendwie nach Pferd riechend, und starren auf den Bildschirm. DAS ist es, was sie fasziniert. Der kalte, blaue, verräterische Schimmer meines Tchibo-Monitors, für ihre Augen weithin sichtbar wie ein Peter-Jackson-Leuchtfeuer. DAS weist ihnen den Weg... und stürzt mich ins Verderben.

"Diese Stelle kenne ich bereits.“

Seit Faramir die Scroll-Tasten entdeckt hat, habe ich mir angewöhnt, jedes Kapitel einzeln abzuspeichern.

"Ich weiß. Ich komme gerade nicht so richtig weiter...“

"Gut!“ nickt er.

"So, findest du?"

"Unbedingt. Das wird unseren Aufenthalt hier erheblich verkürzen."

Zufrieden richtet er sich auf und strebt mit langen Schritten davon, Richtung Badezimmer. Im Korridor hält er an. Faramir liest gerne. Und nicht nur das – Faramir liest einfach alles. Meine Post zum Beispiel, die draußen auf dem Schuhschrank liegt. Die Pflegeanleitungen in meinen T-Shirts. Die Zutatenliste auf den leeren Fertigsuppendosen im Mülleimer. Er weiß, daß ich das hasse, und deshalb tut er es immer, wenn er sicher ist, daß ich ihn beobachte.

"Wo liegt das Land Mall-Ork-A?" fragt er jetzt, eine bunte Ansichtskarte schwenkend, "Und was bedeutet hasta luego?"

"Letzteres klingt mir seltsam vertraut..." brummelt Boromir.

Ich beachte ihn nicht (das ist schwer, aber nicht unmöglich), sondern brülle zurück:

"Das-geht-dich-gaaar-nichts-an!"

Ohne Eile legt Faramir die Karte zurück an ihren Platz, verschwindet im Bad und taucht gleich wieder auf, ein Handtuch über dem Kopf. Mein düsterwaldgrünes Legolas-Tribal-Handtuch! Na warte... Vor dem original Galadriel-Wandspiegel im Lothlorien-Design frottiert er sein Haar trocken. Dann, plötzlich, lässt er die Arme sinken.

"Ich stelle nicht gern solche Fragen..." beginnt er und schaut zu mir herüber. Das ist nicht fair. Keine Frau könnte diesem Hundeblick widerstehen.

"Was gibt es denn?" frage ich also artig.

Er zupft zweifelnd an seinen wirren Locken.

"Buch, oder... Film?"

Es dauert einen Moment, bis ich begreife.

"Film", antworte ich schließlich, so gut sich das im Lampenlicht eben beurteilen läßt.

"Und im Buch?"

"Schwarz."

"Ah. Aber Schwarz ist doch die Farbe des Dunklen Herrschers und seiner Diener?"

"Trotzdem. Dein Haar ist schwarz."

"Wohlan, so sei es. Einen Augenblick." Er stemmt die Arme auf die Kommode und beugt sich vor, seinem Spiegelbild entgegen, fixiert es mit entschlossenem Blick und zusammen gebissenen Zähnen. So ungefähr, nein, genauso muss es aussehen, wenn er hoch oben an den Festungsmauern von Minas Tirith steht, und sein rabenschwarzes Haar flatterte wild im eiskalten Ostwind, der erbarmungslos von den düster drohenden Hängen des mächtigen Schattengebirges herunterwehte, gigantische Wolkenwirbel staubgrauer Asche aus dem brodelnd blubbernden Höllenschlund des unsäglich schrecklichen Schicksalsberges mit sich reißend, die den himmelblauen Himmel über Gondor mit tödlicher Wucht in finsterste Hoffnungslosigkeit hüllten, während-

Er fährt herum, mit vorschriftsmäßig schwarzem Haar und ganz unvorschriftsmäßig gehetzter Miene.

"Schreibst du wieder über mich?"

"Aber nein!" Verflixt, kann er jetzt etwa schon Gedanken lesen? "Wie kommst du denn darauf?"

"Sie tut nichts dergleichen", bestätigt Boromir, "ich habe sie beobachtet."

Dann legt er die Hand schwer auf meine Schulter. "Der große Bruder schaut dir zu. So sagt man doch hierzulande, nicht wahr?"

Ich nicke, wortlos, denn gerade läuft mir etwas eiskalt den Rücken hinunter. Hoffentlich, hoffentlich ist es nur ein Schwall Regenwasser aus seiner durchweichten Ledermontur.

Boromir spaziert davon. Er erwartet nicht wirklich eine Antwort von mir. Die Frau, die ihn mehr als drei Minuten lang interessieren kann, muss erst noch gebacken werden. Aber auch daran wird bereits gearbeitet...

Bei seinem letzten Besuch hat Boromir meinem Legolas-Standup ein blondes Zöpfchen abgeknickt. Einfach so, im Vorbeigehen. Unabsichtlich, behauptet er. Diesmal macht er voll theatralischer Sorgfalt einen großen Bogen um meinen Papp-Prinzen.

Es kommt so, wie es kommen muss. Noch bevor er ganz vorbei ist, entdeckt er das, was neuerdings dekorativ von Leggis Bogenspitze baumelt. Nein-nein-nein...

"Was soll das sein?"

Fest zusammengeknüllt wirft er es Faramir zu, der gerade wieder ins Zimmer kommt.

"Scheuklappen", befindet dieser nach einer ersten, schnellen Untersuchung, "schwarze... äh... Spitzenscheuklappen Größe 75 B. Und ich denke, ich weiß, was das bedeutet."

Mit einem tiefen Seufzer wendet er sich zu mir um.

Sein durchdringender Blick und dazu die Art, wie er meine... Scheuklappen auf seinem Zeigefinger balanciert, sind mehr als irritierend.

"ER war hier, nicht wahr?"

"Nein! Jedenfalls noch nicht. Aber wenn du es irgendwie einrichten könntest..."

"Das kann unmöglich dein Ernst sein!", wehrt er ab, "Langsam mache ich mir aufrichtige Sorgen um dich. Zwar habe ich bereits vernommen, dass er diese... diese unerklärliche Anziehungskraft auf einige von euch ausübt, aber dass ausgerechnet du..."

"Ich finde ihn eben süüüß!" – Wie kann Faramir nur so schrecklich unsensibel sein? Wo steht das??

"Hör zu. Wenn er euch in dieser Welt weniger abstoßend, weniger furchteinflößend erscheint, dann nur, weil er euer Mitleid erwecken will. Er hofft, durch eure Geschichten in unserer Welt mehr Macht zu gewinnen, denn er weiß um die Macht des geschriebenen Wortes, und sein Auftrag bei der Jagd nach dem Einen Ring ist ihm nicht von ungefähr zugefallen. Du darfst nicht zulassen, daß er deine Gedanken beherrscht. Und mit solchen Dingen" – die... Scheuklappen schaukeln bedrohlich vor meiner Nase hin und her – "solltest du dich erst recht nicht umgeben. Soetwas zieht ihn unweigerlich an."

"Echt?!"

"Ihn, und seinesgleichen," nickt Faramir düster.

"Du meinst, es gibt noch mehr... wie ihn??" Wo ist das Höschen? Ich weiß, daß ich ein passendes Höschen dazu hatte. Und Strümpfe, und-

"Selbstverständlich. Warum würden sie sonst wohl die Neun heißen?"

"Neun?"

Mein Blick geht zwischen Papp-Leggi und Faramir hin und her. Hä?

Faramir rollt die Augen.

"Schwarzes Zaumzeug. Hexenkönig", erklärt er resigniert, während er die... Scheuklappen ordentlich zusammenfaltet, "N-a-z-g-û-l. Legolas dagegen ist ein E-l-b. Elben reiten o-h-n-e Zaumzeug."

"Aber... aber ich dachte die ganze Zeit, wir reden über Leggi! Du glaubst doch wohl nicht, dass ich mit dem Hexenkönig" – obwohl... – "Faramir? Stimmt es eigentlich, was man sich über die Nazgûl erzählt?"

"Hm?"

"Na, du weißt schon... daß sie drunter nichts anhaben?"

Statt einer Antwort senkt er den Blick und steckt die Finger in die Ohren.

"Nwalme," höre ich ihn murmeln, "Noldo, Malta, Númen, Unque..."

Inzwischen hat Boromir angefangen, meine Regale zu inspizieren.

"Wo ist das Buch?“

"Such dir eins aus“, seufze ich und deute vage auf die am Boden verstreuten, umgekippten Stapel.

"Ich meine DAS Buch. Das Buch der Bücher.“

"Ach so. Drüben auf dem runden Tisch.“

Der Stapel dort ist kleiner und bereits von einer feinen Staubschicht überzogen. Nachschlagen behindert, wie jeder weiß, den kreativen Prozess. Wer im Fan-Fiction-Bereich etwas werden will, der lässt das Original – nein, den Prototypen – daher möglichst rasch hinter sich.

"Dies ist zwar die Geschichte, aber nicht in den rechten Worten", befindet Boromir und legt die Carroux-Übersetzung beiseite.

"Ha! – Und das hier muss ein Werk des Dunklen Herrschers sein!"

Der giftgrüne Band landet heftig flatternd in der Ecke. Egal – ist eh bloß ausgeliehen, und wer auch immer ihn mir geborgt hat, er wird schon seine Gründe haben, warum er ihn nie zurückverlangt hat.

"Die englische Ausgabe ist ein Paperback mit pinken Post-its drin“, helfe ich.

Mitten in der Bewegung hält er inne, schockiert.

"Es ziemt sich nicht, das Werk des Meisters zu schmähen“, grollt er.

"Aber ich habe doch nur gesagt-"

"Ah. Hier ist es ja." Er schenkt dem verbogenen Cover ein strahlendes 1000-Watt-Lächeln, "Ich wünsche, etwas nachzulesen."

"Du – nachlesen?"

"So ist es, Ikea. Und sprich in ganzen Sätzen, wenn du das Wort an mich richtest. - Bier!"

"Kühlschrank!"

Ich schwöre, ich kann nichts dafür. Drei Bücher, drei Filme und unzählige herzzerreißende Fanfictions lang habe ich davon geträumt, wie es sein würde, wenn wir uns gegenseitig die Kleider vom Leib reißen, wenn seine bärtigen Lippen hungrig über meine nackte Haut streifen und wir in zügelloser Leidenschaft durch Elronds Obstgarten kugeln.

Jetzt, wo er vor mir steht, meinen Schurwollteppich verdreckt und meine Vorräte plündert, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als ihn an die Wand zu klatschen, auf daß er sich in einen Frosch verwandeln und im nächstbesten Tümpel versinken möge.

"Und nenn mich nicht immer Ikea!" rufe ich ihm nach.

Diesmal hat er zugehört.

"So steht es auf deinem Hut geschrieben. Und was geschrieben steht, ist die Wahrheit. Leider", setzt er hinzu.

"Aber die Kappe war doch bloß ein Werbegeschenk", murmele ich.

"Jemand wirbt um dich?" – Faramirs Augen leuchten auf – "Das ist ja wunderbar! Vortrefflich! Das wird dich für eine ganze Weile vom Schreiben ablenken!"

"Nein, das verstehst du völlig falsch... aber selbst wenn es so wäre" – ich hole tief und feierlich Luft – "nichts könnte mich jemals vom Schreiben ablenken! Und wenn ich einmal bei einer Geschichte nicht weiter weiß, dann fange ich einfach ein oder zwei neue an! Ich habe schon eine ganze-" eine ganze Sammlung solcher Bruchstücke auf der Festplatte. Ja-a. Aber das brauche ich ihm ja nicht gerade auf die Nase zu binden. "... eine ganze Weile darüber nachgedacht", ende ich also ziemlich lahm.

Aus der Küche dringt ein unartikulierter Schrei, gefolgt von einem nassen Schzzzz.

Dieses Geräusch kenne ich inzwischen. So klingt es, wenn ein gondorianisches Breitschwert in einen holländischen Kopfsalat fährt.

"Boromir!" kreische ich.

Ich kann und will nicht glauben, daß ihn das Licht im Kühlschrank immer noch überrascht.

Irgendetwas fällt dort zu Boden und zersplittert. Dann taucht Boromir im Türrahmen auf.

"Obwohl ich nicht um Hilfe bitte, brauche ich sie", zitiert er, das Buch immer noch in der Hand, und ich bemerke, dass er die entsprechende Seite mit einem Finger festhält. Einen Moment lang sieht er glücklich aus, und irgendwie erleichtert. Mit der anderen Hand streckt er mir eine Bierdose entgegen.

"Dose aufrecht halten, Ring mit dem Daumen anheben und langsam nach hinten abziehen, bis die Lasche abgeht,“ beharre ich und verschränke demonstrativ die Arme.

"Aber ich habe gelobt, keinen Ring mehr zu berühren. Auch nicht mit dem Daumen.“

"Schon gut. SCHON GUT!!“

Jede Wette, dass daheim in Minas Tirith ein ganzes Heer von Dienstboten um diesen elenden Faulpelz herumschwirrt. Wäre er doch gleich dortgeblieben!

"Es ist wirklich-ganz-einfach“, fauche ich und mache mich wieder einmal an seine Arbeit. Die Lasche gibt nach, ein Bierstrahl spritzt mir mitten ins Gesicht.

"Geschüttelt, nicht gerührt“, murmelt Boromir mit leerem Blick, während ich noch nach Atem ringe, und nimmt mir die tropfende Dose aus der Hand, „äh – warum habe ich das soeben gesagt?“

"Wenn es mir erlaubt ist, eine Meinung zu äußern: vielleicht, um mich zu ärgern?!“

Ich hätte es wissen müssen. Jegliche Ironie ist verschwendet an Boromir.

"Ja. Möglicherweise. Seltsam.“ Er setzt die Dose ab, hebt die Hand und reibt sich mit zwei Fingern über die Stirn. Das macht er auch erst, seit der Film raus ist, und er macht es ziemlich häufig. Ob ich es ihm sagen soll? Jetzt tut er mir fast ein wenig leid... aber nur fast, denn im nächsten Augenblick kippt er achtlos die Gummibärchen aus meinem limitierten Auenland-Zinnkelch und gießt sich das restliche Dosenbier ein.

Währenddessen hat sich, mit einem stummen Aufblitzen, der Herr-der-Ringe-3D-Bildschirmschoner eingeschaltet. Faramir hebt interessiert die Augenbrauen.

"Und wie geht es den anderen so?" frage ich in der Hoffnung, ihn irgendwie von meinem Rechner abzulenken, "Was macht... was macht beispielsweise Aragorn?"

Faramir schüttelt den Kopf.

"Ich fürchte, es ist uns nicht mehr gestattet, dir von ihm zu berichten. Er ist über alle Maßen aufgebracht, seit du diese ruchlosen Reime-"

"Ballade!" werfe ich ein.

"... über ihn geschrieben hast."

"Aber das singt doch eh keiner außer mir."

"Eowyn tut es. Was dachtest du denn? Sie, und ihre Freundinnen. Und nach drei, vier Krügen Bier... du kannst dir nicht vorstellen, was sich dann alles auf 'Aragorn' reimt. In ganz Minas Tirith kichern die Frauen, wenn er vorbeigeht. Deshalb hat er verfügt, fortan von jedermann 'Elessar' genannt zu werden."

"Ach, das... aber das will er doch sowieso, oder?"

"Aber nicht aus diesem GRUND! Du hast die GESCHICHTE verändert!" schimpft er und stampft davon.

"Na und? Das tun schließlich alle. Das macht doch nichts!"

Sie sagen kein Wort, aber jetzt schauen sie wirklich böse drein. Vorsichtshalber ducke ich mich tief hinter meinen Rechner. Durch den kleinen Spalt zwischen Monitor und Turm kann ich gerade noch sehen, wie die beiden einander Zeichen geben.

Boromir nickt bedeutungsvoll.

Faramir hebt abwehrend die Hand.

Los doch, formen Boromirs Lippen, und er ballt die Faust.

Was haben sie denn jetzt wieder vor?

Ein Seufzer entringt sich Faramirs Brust.

"Immer sagst du, das macht nichts", klagt er dann mit gesenktem Blick, "Und immer fragst du nach den anderen. Nach Aragorn, oder nach Legolas. Mein Befinden ist dir wohl ganz gleichgültig."

"Wieso, gibt's denn was Besonderes?" wage ich mich vor.

"Die... Bardinnen in dieser Welt. Sie... nennen mich... Fari", gesteht er stockend und birgt den Kopf in den Händen.

"Lari-Fari", äfft Boromir hinter vorgehaltenem Buch, ohne den Blick zu heben.

Ich frage mich, ob ihn wohl schon irgendjemand Bori genannt hat, und was aus ihr geworden sein mag, als er davon erfuhr.

"Und Boromir ist ja sooo gemein“, schluchzt sein kleiner Bruder, "immer ist er so gemein zu mir!“

"Ach, meinst du?" Boromir rückt sich zurecht. Er spricht jetzt sehr deutlich. "Soll ich Ikea einmal erzählen, wie oft wir in Gondor schlechtes Wetter bekommen, nur weil du deinen Teller nicht leer gegessen hast?"

Faramir blickt auf.

"Das wagst du nicht!"

"Tu ich doch!"

"Tust du nicht!"

"Tu ich doch!"

"Dann werde ich ihr berichten, daß du immer noch deine Zinnsoldaten mit ins Bett nimmst!" versetzt Faramir grimmig.

"Niemals!"

"Doch!"

"Nein!"

"Doch!"

"Wie du willst! – Aber wenn sie erfährt, daß deine-"

"Schluss damit! Sofort aufhören!" fahre ich dazwischen, "Ich bin ja manches von euch gewohnt, aber wie könnt ihr euch nur derart aufführen?!"

"Peinlich, nicht wahr?" nickt Faramir mit einem tiefen Atemzug, "Und würdelos."

"Und das ist erst der Anfang," versichert sein Bruder finster.

"Würdest du dir jetzt nicht wünschen, uns niemals kennengelernt zu haben?"

"Und beschließen, keine einzige Zeile mehr an uns zu verschwenden?"

"Sag doch etwas!"

"Ich... weiß nicht", weiche ich aus und drehe mich zum Fenster, um ein bisschen zeit zu gewinnen. "Das ist alles so verwirrend!"

Draußen ist es völlig dunkel. Alles spiegelt sich glasklar in der Fensterscheibe. Auch, daß Boromir seinem Bruder gerade triumphierend den Ellbogen in die Seite stößt.

Aha. So läuft das also. Doch was steckt bloß dahinter?

Tja, Jungs ... mag sein, dass ihr in Geschichten lebt. Aber ich mache welche.

"Ich meine, ihr kommt einfach so hier hereingepoltert", jammere ich also mit leisem Stimmchen, "und ihr schimpft mit mir und bringt alles durcheinander, und ihr macht mir Angst, und dabei bin ich doch nur ein Mädchen und weiß gar nicht, was das alles bedeutet!" – ein kleiner Schluchzer – "Faramir! Hast du denn nicht wenigstens ein bißchen Mitleid mit mir?"

"Hat er nicht!" schnappt Boromir hastig, aber es ist schon zu spät. Faramir und Mitleid ist und bleibt halt wie Pommes und Ketchup.

"Du musst verstehen," beginnt er erwartungsgemäß und faltet voll Verlegenheit die Hände, während Boromir sich mit einem hörbaren Paff die flache Hand vor die Stirn schlägt, "All die neuen Dinge, die sich in unserer Welt ereignen, all die Prinzessinnen mit lila Augen und grünem Haar, die immer wieder gerettet werden müssen, und dazu Legolas und Haldir, die vor – wie nennt man so etwas? – vor Erschöpfung kaum noch ihren Bogen spannen können... all die Balrogs mit schwerer Kindheit, dann die Verwandten, die plötzlich vor der Tür stehen und von denen man noch nie zuvor etwas gehört hat... da konnten wir nicht länger untätig bleiben."

"Wie meinst du denn das?"

"Nun, wenn... wenn deine Heimat in Schutt und Asche fiele, und du allein sie dadurch retten könntest, daß du die Waffen der Finsteren Fanfiction zu ihrem Wohl verwendest..." seine Stimme wird leiser und leiser und verliert sich schließlich im Surren der PC-Lüftung, "Was würdest du tun?“

Da ist sie – meine Lieblingsfrage! Und wie schön sie im Bauchnabel prickelt... ungefähr vier Dutzend mögliche Antworten habe ich auf Vorrat abgespeichert, in einer separaten Datei natürlich, sortiert nach Heldin und gestaffelt nach Dramatik der jeweiligen Situation.
Die Augen der süßesten Sahneschnitte von ganz Gondor ruhen erwartungsvoll auf mir. Dies ist mein großer Moment. Die Welt hält den Atem an.

"Pffft", höre ich mich sagen.

Er lässt den Kopf hängen.

"Wusstest du", flüstert es zwischen seinen dunklen Locken hindurch, "dass ich als Kind in den Ferien am Meer aus dem Boot gefallen bin, und daß mich eine kleine Meerjungfrau vor dem Ertrinken gerettet hat?“

"Ehrlich gesagt, nein“, muss ich zugeben. Interessant...

"Siehst du – ich wusste es auch nicht. Trotzdem kann ich mich seit ein paar Wochen daran erinnern, und wie es scheint, habe ich mich unsterblich in sie verliebt und muss nun viele Tage damit zubringen, einsam am Strand von Dol Amroth entlangzuwandern und voller Sehnsucht nach ihr Ausschau zu halten...“

"Und?“

Er zuckt hilflos die Achseln.

"Ich habe Mithrandir befragt, aber selbst er konnte mir nicht sagen, was 'Ferien’ sind.“

Hm. Die Story an sich ist natürlich grauenhaft (wer lässt sich bloß immer so einen Schwachsinn einfallen?), aber Faramir und Meerjungfrauen... Moment mal, das würde mir bei den Schwarzen Nixen von Rhûn helfen. Der kann doch mittlerweile bestimmt schwimmen, oder? Ist er nicht mal in Henneth Annûn von irgendeiner Brücke gekippt? – Perfekt!

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Suchen nach: Prinz Legolas.
Ersetzen durch: Faramir.

"Ich meine, wie geht es weiter?" flöte ich unschuldig. Nein, ich will keine Ideen klauen. Hab ich doch gar nicht nötig. Ich schöpfe nur ein wenig künstlerische In-spi-ra-tion. Genau.

"Ich bin mir nicht sicher. Es scheint sich alles ständig zu verändern. Wie es aussieht, hat irgendein Ungeheuer sie nach Osten verschleppt, nach Rhûn, und ich werde-" Gequält bricht er ab. "Es tut mir leid. Von halbfertigen Geschichten bekomme ich stets furchtbare Kopfschmerzen.

Mit gespreizten Fingern fährt er sich durch Haar und beißt sich auf die Lippen.

Also gut.
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Nein.

"Trink ein Bier", rät Boromir mitfühlend, "Ikea holt dir eins. Und sei unbesorgt, es gibt derzeit keine Ungeheuer im Osten. Vor wenigen Monaten erst habe ich mich dort gründlich umgesehen... Ich musste plötzlich ganz allein einige gondorianische Krieger aus einem Gefangenenlager im Urwald befreien. Ich nahm alle Waffen mit, die ich finden konnte, und verbrachte einen sehr vergnüglichen Nachmittag beim Kampf gegen die feindliche Übermacht. Und ich traf dort eine Ostlingsfrau, die mir unbedingt... den hier... schenken wollte!"

Aus seinem Wams zerrt er einen grünen Stein an einem Lederband.

Oh-oh. Das kommt mir irgendwie bekannt vor...

"Aragorn hat getobt, als er ihn sah", nickt Boromir zufrieden, "Meiner ist nämlich größer als seiner!"

"Es gab dabei nicht zufällig auch einen... Zwischenfall mit einem Fluggerät?" erkundige ich mich vorsichtig.

"Wie man es nimmt. Gwaihir, der uns abholen sollte, machte eine Bauchlandung im Fluß, und ich glaube, er hat sich dabei einige Schwanzfedern abgeknickt. Wir alle zusammen, und dazu noch mein neues Klapp-Katapult" – er zuckt die Schultern – "... das war wohl etwas zu schwer für ihn."

Faramir hat mich beobachtet.

"Ich glaube, Ikea kennt die Antwort auf das Rätsel, dem wir gegenüberstehen", meint er, "Ist es nicht so?"

"Vielleicht", gebe ich zu, "Das klingt alles sehr nach Cross-over."

"Und was soll das sein?"

"Eine Kreuzung eben, eine Vermischung von Geschichten aus verschiedenen Welten."

"Eine Vermischung von verschiedenen ...?" Faramirs Augen werden groß und rund vor Erstaunen. "Nein, wahrhaftig, ich glaube nicht, daß der Meister ein solches Ansinnen billigen würde. Was sagen die Bewohner dieser anderen Welten dazu?"

"Ich weiß nicht. Ich habe noch kein Cross-over geschrieben. Aber ich könnte mir vorstellen-"

"NEIN! – Nein, bitte, stell dir gar nichts vor. Sag mir nur, ob es jemals wieder aufhören wird."

"... und möge der Tag nicht zu fern sein", ergänzt Boromir düster. Er ist immer noch auf derselben Seite.

"Lasst mich mal rechnen..."

Jetzt haben wir Frühsommer. Zu Weihnachten wird es wohl viele DVDs geben, dann wären da die Osterferien, um zu schreiben...

"In einem Jahr etwa sollte es langsam nachlassen. Glaube ich."

"Noch... ein... ganzes... Jahr..." murmelt Faramir fassungslos.

"Wie auch immer – mein Krieg ist vorbei", verkündet Boromir, "und ich wünsche, fortan in einem einsamen Kloster in den Bergen zu leben, ein zerfranstes Stirnband zu tragen und nur noch hin und wieder in schummerigen Scheunen jemanden gegen Bezahlung zu verprügeln. Ja. Das würde meinem Leben einen neuen Sinn geben."

"Bist du dir da ganz sicher?" staune ich.

"Äh - nein. Denn gleichzeitig verspüre ich auch den Ruf der See... Da gibt es neuerdings diese rothaarige Frau, die mit mir in den Westen segeln will. Auf einem gigantischen Schiff mit Segeln aus grauem Rauch, wie sie sagt. Sie trägt einen großen blauen Silmaril an einer Kette um den Hals."

"Und weiter?"

"Weiter trägt sie nichts. Es ist wirklich höchst ungewöhnlich. Möglicherweise ist sie auch verrückt. Sie behauptet, daß das Schiff gegen das Schneegebirge fahren und versinken wird. Oh, und sie wünscht, dann von mir gerettet zu werden. Immerhin, es wäre ganz in der Nähe, und so könnte ich bis zum Abendessen-"

"Gegen das Schneegebirge?" unterbreche ich, "Aber das geht doch gar nicht! – Was genau hat sie gesagt?"

" 'Eisberg'. Jedoch gibt es keinen Berg in unseren Landen, der 'Eis' heißt, und so muß sie folgerichtig die Ered Nimrais meinen. Im Übrigen schätze ich es nicht, unterbrochen zu werden."

"Tut mir leid", murmele ich automatisch.

"Ikea", kommt es nun von Faramir, der sich von seinem Schock erholt hat, "jetzt, wo du die Wahrheit kennst, mußt du dich entscheiden. Das Wohl aller freien Völker und einiger nichtsnutziger Monster und Ungeheuer hängt davon ab, ob unsere Mission erfolgreich ist. Wie also soll es weitergehen mit deinen Geschichten?"

"Ich glaube, dass-" beginne ich. So habe ich die Sache noch nie betrachtet. Wie hätte ich denn auch ahnen können, daß sie alles, was ich schreibe, abarbeiten müssen? Warum haben sie das nicht gleich gesagt?

Okay. Die Lage ist verzweifelt, und sie verlangt einen heroischen Entschluss. Oder wie wäre es mit einem heroischen... Kompromiss?

"Nur noch diese eine", erwidere ich feierlich, "Ich werde nur noch diese eine Geschichte zu Ende schreiben. Und auch nur, damit... damit niemand Kopfschmerzen bekommt, weil sie unfertig bleibt. Und dann... höre ich auf. Für immer. Versprochen!"

"So sei es. Wir danken dir."

Die beiden stehen auf und streben auf die Terrassentür zu.

"Faramir? Eins muß ich noch wissen, bevor ihr geht. All die Missgeschicke, die euch passiert sind, wenn ihr hier wart, und diese merkwürdigen Zwischenfälle, wenn ich gerade beim Schreiben war... Du weißt schon. So wie damals das Feuer im Backofen..."

"Absicht", nickt er, "um dich vom Schreiben abzuhalten."

"Die Überschwemmung im Badezimmer?"

"Boromir hat die kleine silberne Krone mit dem Schwert abgeschlagen."

"Und der Pfeil in meiner Lautsprecherbox?"

"Den habe ich durch den Briefschlitz geschossen."

"Und alles, was ihr gesagt habt, war gelogen?"

"Nun, nicht alles. Deine Geschichten finden wir wahrhaftig abscheulich, ausnahmslos und von Anfang an. Aber das liegt ja nun bald hinter uns, den Valar sei Dank." Er lächelt und klopft mir unromantisch auf die Schulter. "Ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Und jetzt muss ich fort. Möge die Macht mit dir sein!"

Mit einem einzigen Schritt ist er durch die geschlossene Glastür, einen Lichtkranz in allen Regenbogenfarben hinter sich lassend. Wow.

"Dieses Buch", sagt Boromir und drückt das zerbeulte Paperback an seine Brust, "Gestatte mir, es mitzunehmen. Es würde uns ein Licht sein in dunklen Zeiten, wenn alle anderen-"

"Geschenkt", winke ich ab, "Ich gucke da sowieso so gut wie nie rein. Aber du schuldest mir einen Gefallen, abgemacht?"

Er neigt den Kopf.

„Ich komme wieder“, brummt er dann mit gewohnt strenger Miene und wendet sich zum Gehen. Plötzlich, er ist schon bunt schillernd halb durch die Terrassentür, bleibt er stehen und blickt zurück. Suchend rollt er die Augen hin und her, bewegt stumm die Lippen. Jetzt ist es ihm wieder eingefallen.

„Hasta la vista, Baby!“

Ein knappes, grüßendes Nicken, und er ist fort.

Beeindruckend. Boromir lernt jetzt also Fremdsprachen. Ganz so sinnlos waren diese Cross-overs offenbar doch nicht. Und wenn Aragorn demnächst nicht mehr der Einzige ist, der mit exotischen Sprüchen um sich werfen kann -

Moment mal. Was hat Boromir da eben gesagt? Was hat... er... zu... mir ... gesagt?!

Ohgottohgott. Ich spüre, wie mir die Knie weich werden. An der Fensterbank entlang hangele ich mich zurück zu meinem Drehstuhl.

Kann es sein, daß er... die ganze Zeit...?

Und daß er nur nichts sagen wollte, solange ich...?

Aber das bedeutet ja, dass...

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„Baby“, flüsterte er, während sich das sanfte Silberlicht des Vollmonds tausendfach in den Tauperlen auf den rosa Blütenblättern der Valinor-Seerosen in Elronds Gartenteich spiegelte, „bis zu dieser Nacht habe ich es niemandem einzugestehen gewagt. Dir nicht, und auch mir selbst nicht.“

Zwischen den weißgekrönten, wogenden Wollgrashalmen am nachtdunklen Teichufer begann eine einsame Grille zu zirpen.

„Es waren deine Ohren. Damals, als ich mit Legolas durchbrennen wollte und feststellen musste, dass er ein... Junge... ist – damals habe ich geschworen, nie wieder mein Herz an jemanden mit spitzen Ohren zu verlieren.“

Im betörend duftenden Blütenmeer der Kirschbaumzweige, die sich wie ein schützendes Dach über unsere engumschlungenen Körper breiteten, begann eine Nachtigall zu trällern, und dann noch eine, und noch eine.

„Aber jetzt, wo ich weiß, dass du gar keine Elbin bist, kann ich nicht länger dagegen ankämpfen. Ja, Ikea, ich liebe dich! – Also, wo geht’s hier zum Obstgarten?“

ENDE


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