Der Aufstieg der Lerche (The Rising of the Lark)
von Cúthalion

Eine Winterfeuer-Geschichte

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Für Rabidsamfan. (Natürlich.)

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Kapitel Eins
Unten am Fluss

Ithilien, 1447

Der junge Mann zügelte sein Pferd und holte tief Atem. 

Die Luft war warm und süß, der Himmel klar und so blau wie Rittersporn. Die Landschaft schien ihn zu umarmen; jeder Hügel und Abhang, jedes bewaldete Tal sang daheim, eine geliebte Weise, die er Note für Note kannte. Neujahr stand kurz bevor, und dieses Mal würde er es endlich wieder in Ithilien verbringen.

Er war noch nicht in den Palast zurück gekehrt – durch die Tore einzutreten würde eine offiziellen Empfang bedeuten, ein förmliches Abendessen und mehrere sogar noch förmlichere Ansprachen, bevor es ihm endlich möglich sein würde, sich mit seinen Eltern zurück zu ziehen. Davon hatte er in Minas Tirith während der letzten zwei Monate genug gehabt; der König war der gütigste Gastgeber, den man sich vorstellen konnte, und ausgerechnet ihm dabei zuzuhören, wie er Elborons Taten während seines Dienstes in der Armee pries, das war unglaublich schmeichelhaft gewesen. Aber nun wollte er nur noch ein kleines Weilchen länger ungebunden bleiben von den Zwängen, die Zeremoniell, Abstammung und Pflicht ihm auferlegten. Er gestattete seinem müden Pferd, den gewundenen Pfad entlang zu trotten, der sie beide hinunter zum Anduin führte.

Sonnenlicht sickerte durch die Zweige und zeichnete Muster aus Gold und Silber auf die tiefgrünen Moosflecken zwischen den Wurzeln der Eichen und Eiben. Die Hufe seines Wallachs traten lautlos auf die toten Blätter aus dem letzten Herbst; sie machten seinen gemächlichen Ritt so unwirklich wie eine Traum. Nun konnte er den Fluss hören, zuerst nur ein leises, dauerndes Rauschen, aber es wurde lauter und deutlicher, währen Elboron sich der langen Reihe von Trauerweiden näherte, die das Ufer säumten. Das Pferd ließ die Ohren spielen und wieherte leise... es konnte das Wasser riechen, und plötzlich merkte Elboron, dass er sich in seiner Weste und seinem Reiseumhang heiß und unbehaglich fühlte. 

Er schwang sich aus dem Sattel und führte das Pferd dorthin, wo der Fluss eine kleine Vertiefung ausgewaschen hatte, den Boden mit weißen Kieseln bedeckt. Hier hatte sein Vater ihm das Schwimmen beigebracht, als er sechs war, und seiner Mutter ebenfalls (wenigstens war es das, was sie ihm erzählt hatte, wobei sie unter ihrer goldenen Haarkrone ganz leicht errötete). Das Wasser war klar und tief, die Zweige der Trauerweide tauchten in die stetige Strömung. Er setzte sich hin, während das Pferd sich satt trank; ohne nachzudenken, schlüpfte er aus Stiefeln und Socken und grub die Zehen in die feuchte Erde am Flussufer. Kühle Frische schoss ihm schockartig durch Waden und Schenkel; er schauderte zusammen und ließ sich ins Gras sinken, die Augen auf die grünenden Zweige und schwellenden Knospen über seinem Kopf gerichtet. Der Frühling hatte gerade erst begonnen, aber in diesen Landen fühlte er sich auf köstliche Weise an wie ein zeitiger Sommer.

Fünf Jahre im rauen Klima von Anórien, auf den weiten, windumtosten Ebenen von Rohan und sogar sechs Monate in dem bitteren Grenzland, das einst das Reich des Dunklen Herrschers gewesen war... Emyn Arnen war nichts gewesen als eine kurze, regelmäßig stattfindende Ruhepause zwischen langen Dienstzeiten. Diese Zeiten hatten seinen Körper und seinen Geist geformt und die letzten knabenhaften Überreste fort genommen und ihn zu dem Mann heran gebildet, der er heute war; doch in diesem Moment hätte es ihm kaum weniger ausmachen können. Umgeben vom Land seiner Kindheit verwandelte er sich in den Jungen zurück, der sich einst aus dem Palast gestohlen hatte, um dem Besuch des Königs zu entgehen.

Diese Wälder kannte er in- und auswendig; hier war er jahrelang buchstäblich durch das Unterholz gekrochen, hinter dem Duft von Waldmeister her und auf der Suche nach den Stellen, wo ganze Büschel von Fliegenpilzen rot unter dem Farn schimmerten. Die Heilerin von Ithilien hatte sie benutzt, um einem kranken Diener am Hofe von Emyn Arnen zu helfen; zu jener Zeit war Elboron fünfzehn gewesen, und er erinnerte sich überraschend gut an den Fall. Besagter Diener verlor binnen Wochen die Fähigkeit, richtig zu gehen und schwankte statt dessen hin und her wie ein unverbesserlicher Trunkenbold. Nur, dass der alte Mann nie etwas Stärkeres zu sich nahm als Apfelsaft; und nach den Beinen hatten ihm auch die Hände nicht mehr gehorcht. Sie zitterten so heftig, dass er vollkommen unfähig war, ohne Hilfe zu essen. Elboron hatte sich immer darüber gewundert, dass die Heilerin darauf bestand, einen so gefährlichen Giftpilz als Heilmittel einzusetzen, aber zu seiner Verblüffung verbesserte der Zustand des Dieners – plötzlich fiel Elboron ein, dass er Adeher hieß – sich ganz dramatisch, obwohl er nie imstande war, seine Arbeit vollständig wieder aufzunehmen. Der junge Fürst hatte die Heilerin immer bewundert, aber nach dieser wundersamen Kur entschied er, dass ihre Fähigkeiten nichts weniger als legendär waren.

Er verbrachte viele Stunden in ihrem Arbeitsschuppen, fasziniert von ihren Kräuterpulvern und Gebräuen; fast jedes Mal, wenn er irgend eine Art ernsthaften Ärger verursachte, wurde er dazu verurteilt, ihr auf der Suche nach Pflanzen durch den Wald zu folgen,demütig wie ein Lamm (und heimlich frohlockend)... bis seine Eltern entschieden, dass seine Bestrafung weit wirkungsvoller war, wenn sie ihn zwangen, endlose Sonderstunden in Quenya und Sindarin abzusitzen. Elboron musste zugeben, dass diese Stunden Wunder für sein Sprachwissen wirkten, aber niemals vergaß er das Haus mit den Zedernschindeln auf der Lichtung nahe dem Anduin, und die Geduld und Freundlichkeit der Frau mit dem langen, kupferroten Zopf und den humorvollen, grünen Augen.   

Er war wieder zuhause, und es würde ihn weniger als einen zehnminütigen Spaziergang durch die sonnengesprenkelten Schatten kosten, um dorthin zu kommen, wo die Heilerin lebte. Nachdem niemand eine Ahnung hatte, dass er einen Tag früher als erwartet zurückgekehrt war, fühlte er sich wie ein freier Mann. Der Wald träumte im mittäglichen Dunst, und nichts war zu hören als der gelegentliche Ruf einer Amsel, das scharfe Klopfen eines Spechtes gegen einen Baum in der Entfernung, und das schläfrige Gesumm zahlloser Bienen. Er war vollkommen allein.

Einem plötzlichen Impuls folgend, warf er Mantel und Weste ab; einen Moment später segelten Hemd, Hosen und die letzten Stücke Unterwäsche hinunter auf den wachsenden Berg. Endlich war er nackt; die milde Brise fühlte sich auf seiner Haut an wie eine sachte Liebkosung. Er machte den ersten, vorsichtigen Schritt in das Wasser und biss flüchtig die Zähne zusammen, als die Kälte nach  seinen Knöcheln schnappte. Er watete tiefer hinein, bereit, sich kopfüber in den Fluss zu stürzen.  

„Noch einen Schritt weiter, und ich schreie! Um Erus Willen, hat Euch niemals jemand irgendwelche Manieren beigebracht?“

*****

Er blieb wie angewurzelt stehen. Es war die helle, zornige Stimme einer jungen Frau, und sie kam von irgendwo vor ihm. Wo...

„Da wage ich es endlich einmal, ein Bad im Fluss zu nehmen,“ fuhr die Stimme wütend fort. „Ich hatte gehofft, diese Tröpfe vom Hof wären gerade damit beschäftigt, sich den Bauch voll zu schlagen, und dann – das!“ Eine kurze Pause. „Gnade der Valar, tut mir den Gefallen und bedeckt euch!“

Er spürte die Hitze, die ihm die Kehle hinauf und ins Gesicht stieg; wieso hatte er nur die verräterische Hautfarbe seiner Mutter geerbt? Und seine Kleider waren zu weit entfernt, um sie zu erreichen und sich so schnell anzuziehen, wie der Anstand es gebot; er hatte nur die Wahl, der unsichtbaren Fremden entweder seine Rückseite zu zeigen, während er sie holte, oder seine Hände zu benutzen, um die... anstößigsten Teile seiner Anatomie zu verdecken. 

Er entschied sich für Ersteres, drehte sich so rasch wie möglich um und hechtete aus dem Wasser. Hinter ihm herrschte betäubende Stille, während er nach seinen Kleidungsstücken langte und ungeschickt auf einem Bein hüpfte wie ein Storch und gleichzeitig versuchte, in seine Hosen zu schlüpfen. Nun fühlte er sich nicht mehr ganz so entblößt, streckte die Hand nach seinem Hemd aus... und hörte plötzlich ein Geräusch, das er am allerwenigsten erwartet hatte: ein lauter Ausbruch von Gelächter.  

„Mein Güte, Elboron – bist du das?“ 

Jetzt brannte sein Gesicht, und er musste gegen den verzweifelten Wunsch ankämpfen, davon zu rennen wie ein Hase. Sein Geist klammerte sich an fünf Jahre Kriegsführung und die noble Abkunft, die er nur Minuten zuvor so leicht vergessen hatte; sollte er tatsächlich vor der losen Zunge einer kecken Jungfer Fersengeld geben? Elboron raffte die zerfetzten Überreste seiner Würde zusammen und drehte sich um, den Oberkörper noch immer nackt. Er hob eine Augenbraue; sein Tonfall war die perfekte Imitation der Erhabenheit, wie sie sonst nur sein Vater in seine Stimme legen konnte.   

„Höchstpersönlich, und zu Euren Diensten... wer immer Ihr auch seid, erwiderte er kühl. „Würdet Ihr euch bitte zeigen? Wenn Ihr nach wie vor darauf besteht, mich zu beschämen, dann würde ich es vorziehen, Euch zu sehen.“

Ein Augenblick der Stille, und dann gab es in den Büschen am anderen Ufer des Flusses eine Bewegung. Eine junge Frau trat aus ihrem Schatten, in etwas gewickelt, das aussah wie ein großes Leinenhandtuch. Wohl eher ein Mädchen als eine Frau, dachte er, aber ihr Körper hatte bereits die schlecht proportionierte Unbeholfenheit der Pubertät verloren; sanft gerundete Hüften zeichneten sich ab, und sehr angenehme Kurven, dort, wo die Brüste sich unter dem Stoff verbargen. Ihr Gesicht...

Er kannte sie.

Er kannte dieses Gesicht – die klaren, grünen Augen, die schmale Nase und das eigensinnige Kinn. Sie war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, der Heilerin von Ithilien – nur dass ihr Haar nicht kupferrot war, sondern schwarz wie Rabengefieder. Das letzte Mal, als er sie sah, hatten ihre Beine vom untersten Ast eines Baumes herunter gebaumelt, ihre Zöpfe waren ein zerzaustes Vogelnest , die Fußsohlen schwielig davon, dass sie den ganzen Sommer ohne Schuhe herum gelaufen war, und ihre Knie waren so verschorft gewesen wie die eines Lausbuben. 

Er gaffte sie an, und ihm drehte sich vor Verblüffung der Kopf.

Lírulin...?” 

„Genau die.“ Die Wangen der jungen Frau verfärbten sich zu einem Rotton, der ihr ausgesprochen gut stand. „Es tut mir wirklich Leid. Ich... ich habe Euch nicht gleich erkannt. Ich hätte höflicher sein sollen.“ 

Ganz plötzlich spürte Elboron, wie sich sein Gesicht in einem Grinsen entspannte.  

„Das überrascht mich aber sehr,“ sagte er, „denn das letzte, was du zu mir gesagt hast, war, dass ich ein dämlicher, schlaksiger Angeber wäre, und dass mir das Stroh auf meinem Kopf geradewegs ins Hirn gewachsen sein muss.“

„Oh. Du... du...“ Sie errötete noch tiefer. „Das ist fünf Jahre her!“

„Stimmt,“ fuhr er unbarmherzig fort. „Direkt, bevor ich meinen Dienst in der Armee des Königs aufnahm. Ich erinnere mich auch noch, dass du gemeint hast, ich sollte besser versuchen, nicht über mein Schwert zu fallen, wenn König Aragorn schon so waghalsig wäre, mich allen Ernstes zum Krieger zu machen.“

Lírulin schnappte bestürzt nach Luft. „Das habe ich nicht!“

„Oh doch, das hast du. Und als ich mich geweigert habe, darauf etwas zu erwidern, da hast du mich mit unreifen Äpfeln beworfen.“

Lírulin atmete tief ein und aus – was dafür sorgte, dass die reizvollen Rundungen unter dem Stoff sich auf eine Weise hoben und senkten, die Elboron schlichtweg nicht ignorieren konnte. Nun musste er erneut gegen die Hitze in seinen Wangen ankämpfen, und irgendwo schien diese Tatsache sie zu ermutigen. Sie straffte die Schultern, während sie noch immer das Tuch fest hielt, und als sie sprach, hätte ihre formvollendete Gelassenheit die jeder Hofdame in Gondor übertroffen. 

„Hoheit... wenn Ihr mir gestattet, mich so zu bekleiden, wie es die guten Sitten vorschreiben, dann will ich Euch zu meiner Mutter begleiten und euch ein frühes Mittagessen servieren, das Euch hoffentlich für mein skandalöses Benehmen in der Vergangenheit entschädigt.“ Sie zögerte. „Es sei denn natürlich, Eure Anwesenheit ist im Palast erforderlich.“  

Elboron lächelte. 

„Oh, ich bin sicher, dass meine Eltern überaus glücklich sein werden, mich zuhause Willkommen zu heißen, aber sie haben keine Ahnung, dass ich zurück gekommen bin - bis jetzt. Ich nehme beides gerne an, das Mittagessen und das Wiedersehen mit deiner Mutter.“ 

Unter Blättergeraschel verschwand Lírulin wieder hinter den Büschen. Elboron sammelte ein, was noch von seinen Kleidern übrig blieb. Er machte sich ebenfalls wieder vorzeigbar, dann pfiff er sein Pferd herbei und führte es ein kleines Stück stromabwärts, dorthin, wo eine schmale Holzbrücke sich über das Wasser spannte. Er war sicher, eine ganze Weile warten zu müssen, aber einmal mehr überraschte sie ihn: nur wenige Minuten später sah er sie den Pfad hinunter kommen. Sie trug eine weiße Bluse und einen moosgrünen Rock, und ihr dunkles Haar war zu einem langen, dicken Zopf gezähmt. Die Knöchel unter dem Rocksaum waren nackt – und sie hatte hübsche, anmutige Füße.

„Keine Schuhe?“ Es machte ihm eindeutig viel zu viel Spaß, sie zu necken.  

„Oh... wolltet Ihr mich zu einem Ball einladen?  Was für eine köstliche Idee, Euer Hoheit... ich kann jederzeit meine Seidenschuhe holen, wenn Ihr es wünscht, aber ich weiß nicht, ob ich das richtige Gewand für solch einen besonderen Anlass besitze.“

Sie ließ tatsächlich ihre Wimpern flattern, aber die gekräuselten Mundwinkel verrieten, dass sie das alles andere als ernst meinte.

„Ein Mittagessen wird dieses Mal vollauf ausreichen,“ sagte Elboron; er fühlte sich auf unerklärliche Weise beschwingt. „Würdest du mir einen großen Gefallen tun?“ 

„Was für einen?“

Er erhaschte einen Hauch ihres persönlichen Duftes. Rosen? Hartriegel? Nein... es roch wie irgend ein Kraut, grün und frisch, die schiere Essenz des Frühlings.

„Hör auf, mich ,Hoheit' zu nennen.“


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