Heimat der Sterblichen (Long home for mortals)
von jodancingtree, übersetzt von Cúthalion


Kapitel 1
Bäume

Er hörte die Musik, noch bevor er die Augen öffnete. Mehr noch, er hielt sie absichtlich geschlossen, um besser lauschen zu können.

Das Singen erinnerte ihn an Lothlórien, und er dachte, es müssten Elben sein. Aber die Sprache war nichts, was er jemals gehört hatte, und da war ein Rhythmus, den er in elbischer Musik nie gehört hatte. Er war ihm sehr vertraut, und er hielt ganz still und versuchte, ihn einzuordnen. Endlich begriff er, dass er sich im Einklang befand mit seinem eigenen Herzschlag, und seine Augen flogen plötzlich voller Verblüffung auf.

Was war dies für ein Ort?

Da war ein Baum gewesen – er dachte, dass er sich daran erinnerte. Ein gewaltiger Mallorn, ganz und gar golden in seinem Winterlaub. Er sah sich um. Es gab immer noch Bäume, aber keine Mallorns. Obstbäume, aber von keiner Sorte, die er kannte. Er kam auf die Beine und fing an, zwischen ihnen herum zu wandern; er betrachtete Blatt, Borke und Früchte ganz genau. Da war etwas sehr Eigenartiges an ihnen. Sie schienen alle von der gleichen Art zu sein, aber manche standen in Blüte, andere hatten kleine, grüne Früchte, die gerade erst anfingen, sich zu formen. An manchen waren die Früchte ganz ausgeformt, aber noch nicht reif, und an noch anderen war das Obst vollreif und duftend. Das reife Obst war wunderschön und ließ ihm das Wasser im Mund zusammen laufen; er hatte größte Lust, es zu versuchen.

Er steckte die Hände in die Hosentaschen. Die Bäume waren schön gewachsen und gepflegt, das Gras unter seinen Füßen sauber geschnitten. Dies war ganz klar ein Garten, der jemandem gehörte, und er hatte nicht die Erlaubnis, sich zu bedienen.

Wie war er hierher gekommen?

Da war der Mallorn gewesen. Auf der Festwiese, das war’s. Der Mallorn, den er vor langer Zeit gepflanzt hatte, der Samen, der in Galadriels kleiner Schachtel versteckt gewesen war. Als sie von der Fahrt zurück kamen, hatte er ihn eingepflanzt. Und in jenem ersten Frühling war er herausgekommen und gewachsen und gewachsen, bis er der größte Baum im ganzen Auenland war; er ragte über Hobbingen auf und erhob jedes Mal seinen Geist, wenn er ihn anschaute.

Das war sein wahres Geschenk von Galadriel – nicht die Schachtel, sondern der Mallorn. Und es passte – jetzt, wo er darüber nachdachte – dass sein Geschenk ein Samen gewesen war, den er einpflanzen und auf dessen Wachstum er warten musste. Genau wie es gepasst hatte, dass Frodos Geschenk eine Phiole voller Licht gewesen war...

Frodo.

Er war mit Frodo unter dem Mallorn gewesen.

Nein, das konnte nicht stimmen. Der Mallorn war riesig gewesen, seine Zweige berührten fast den Boden, und der Bereich darunter war ein großer Raum, ganz erfüllt von goldenem Licht. Der Mallorn auf der Festwiese war jung, ein Sämling noch, als Frodo das Auenland verließ.

Er bemerkte einen Lichtblitz zu seiner Rechten und wandte sich um. Ein paar Dutzend Schritte brachten ihn an das Ufer eines Flusses, der wie Kristall zu glitzern schien; auf der anderen Seite befand sich ein weiteres Baumwäldchen. Das Licht auf dem Wasser glänzte und blitzte und blendete ihn, und er schaute auf und erwartete, die Sonne hoch am Himmel stehen zu sehen Der Himmel war blauer als jeder Himmel, den er je gesehen hatte, die absolute Quintessenz von Blau ohne den winzigsten Hauch einer Wolke, aber wie sehr er seine Augen auch anstrengte, er konnte die Sonne nicht finden.

Ein sehr eigenartiger Ort war das, wie immer man es auch betrachtete.

Ich muss träumen, dachte er. Wollte ich nicht ein Nickerchen machen? Unter dem Mallorn war das, und wir haben uns unterhalten und geraucht, und ich habe gesagt, dass ich ein Nickerchen mache -

Ich sagte zu Frodo, dass ich ein Nickerchen mache. Und er sagte, wir müssen nach Hause gehen, Sam, aber wir gehen gemeinsam. Und ich sagte, du meinst nicht das Auenland. Und dann legte er sich schlafen, aber es war mehr als bloß Schlaf, er hat nicht richtig geatmet, und ich hab die Augen zu gemacht und bin ihm schnell hinterher...

Dann bin ich tot. Das ist der Tod.

Er blickte auf das leuchtende Wasser hinaus, auf die Obstbaumwälder, die beide Ufer umsäumten und das goldene Licht, das über allem lag. Er streckte seine Arme aus und betrachtete sie, er beugte und streckte die Finger, schaute auf seine Füße hinunter und wackelte mit den Zehen. Plötzlich lachte er schallend und schlug sich auf die Knie.

„Sterne und Glanz, das ist der Tod? Aber ich bin noch nie so lebendig gewesen, nie in meinem ganzen Leben!“

„Nein, das bist du nie,“ sagte eine Stimme hinter ihm, und er hielt inne und lauschte. Er hatte diese Stimme schon einmal gehört. Wo hatte er diese Stimme schon einmal gehört? Er drehte sich langsam um.

Es war der Mann, den er bei dem Wasserfall in Tol Eressëa gesehen hatte. Seine Erinnerung kam zurück, und er wusste wieder, dass er mit Frodo dort gewesen war, dass er schlaflos am Wasser gesessen hatte, während Frodo schlief... und dieser Mann war auch dort gewesen. Er war dort gewesen und hatte irgendwie die Last von seinem Herzen genommen, die langen Jahre, in denen er Frodo vermisst und sich um ihn gesorgt hatte.

„Du bist der Sohn des Ilúvatar,“ sagte er; er wusste, dass es die Wahrheit war, aber nicht, was es bedeutete.

„Der Sohn des Ilúvatar, der Friedefürst, der Vater der Ewigkeiten, der Anfang und das Ende. All das bin ich.“

„Du hast ihn geheilt.“ Sam kniete nieder und schaute ihn in die Augen. „Er hat mir erzählt, wie du ihn geheilt hast. Dankeschön.“

Der Sohn kam und hob ihn auf; er legte seine Arme um den Hobbit, hielt ihn fest an sich gedrückt und wiegte ihn hin und her. Sam schloss die Augen und ergab sich der Bewegung, und obwohl er geglaubt hatte, keinen Trost nötig zu haben, fühlte er sich bis in die Tiefen seines Herzens hinein getröstet.

„Oh Samweis, du machst mich froh darüber, dass ich Hobbits erschaffen habe! Aber du bist jetzt an einen Ort gelangt, wo es nur einen Herrn gibt. Wirst du mir gegenüber so loyal sein, wie du es gegenüber Frodo warst?“

Sam lehnte sich zurück, um ihn anzuschauen. Das war eine schwierige Frage, aber wirklich, und er was sich nicht sicher, was damit gemeint war.

„Meinst du, dass ich ihn nicht mehr lieben kann, Herr, oder dass ich nicht mehr sein Sam sein kann?“

„Du kannst ihn lieben, aber du musst mein Sam sein, so wie er mein Frodo ist, und Rosie meine Rosie.“

„Weil du es gewesen bist, der uns gemacht hat... der alle Hobbits gemacht hat.“

„Hobbits und Elben und Menschen, Zauberer, und Valar und alles, das ist. Ja, Sam.“

Sam erinnerte sich noch an etwas anderes, und er drehte sich in der Umarmung des Sohnes um und nahm eine seiner Hände, um sie zu betrachten. Es war genau so, wie Frodo es ihm erzählt hatte: sie war durchbohrt, die Wunde offen und unverheilt, roh und schmerzhaft anzuschauen. Dies war schlimmer, viel schlimmer als Frodos fehlender Finger.

„Scheint, als hättest du einen mächtig großen Preis dafür bezahlt, dass du dich um das sorgst, was du gemacht hast.“ Er schaute auf in das Gesicht des Sohnes, seine Augen klar und gerade heraus. „Ich werde dein Sam sein, und danke, dass du mich gefragt hast. Aber ich würde Frodo liebend gern wiedersehen, wenn’s dir nichts ausmacht.“

Das Gesicht des Mannes leuchtete wie die Sonne, die Sam nicht hatte finden können. „Du wirst ihn sehen, Sam. Du bist jetzt zu Hause, also geh und schau dir das Land an, und du wirst alles finden, was dein Herz begehrt. Und, Sam,“ fügte er hinzu, „du darfst das Obst essen. Soviel du möchtest.“

Sam blinzelte in der strahlenden Helligkeit und als er wieder etwas sehen konnte, war er allein.


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