Farben (Colours)

von illyria-pffyffin, übersetzt von Cúthalion

Jenny sagt, Elijah Wood sei das schönste Geschöpf, das jemals auf dieser armseligen Erde gewandelt ist. An ihren weniger klaren Tagen – und das bedeutet täglich, da sie seine Filme Tag für Tag anschaut, das Internet jeden Abend nach Neuigkeiten von ihm durchforstet und jede Zeitschrift kauft, die auch nur im entferntesten seinen Namen erwähnt – stellt Jenny ernstlich die Hypothese auf, Elijah sei zum Teil ein Engel, im Fleisch niedergesandt in diese heruntergekommen Welt, um Licht zu spenden und zu heilen. In solchen Augenblicken wird Jenny ziemlich evangelistisch; dann „erfreut“ sie mich in der warmen Behaglichkeit des Schlafzimmers, das wir uns teilen, bis spät in die Nacht mit Elijahs sämtlichen Tugenden.

„Manchmal nehmen seine Augen das Blau eines Morgenhimmels im Sommer an. Manchmal haben sie die Farbe einer Lagune, manchmal die des tiefsten Meeres jenseits der Untiefen. Manchmal sehen sie vergissmeinichtblau aus, manchmal haben sie einen Stich ins Grüne, einen Stich ins Graue. Seine Augen haben auch schon so dunkelblau ausgesehen, dass sie fast schwarz waren.“

Jenny seufzt.

„Sein Haar hat diesen reichen, goldbraunen Farbton, der fast seidig wirkt, wenn Licht darauf fällt. Und ich weiß nicht, ob es irgendwelche Worte gibt, um die rosige Tönung seiner Lippen zu beschreiben und die Art, wie seine Haut leuchtet.“

Ich lächle schläfrig in mein Kissen und lasse mich von ihren Worten liebkosen; sie beschwören die vage Gegenwart von einem Liebreiz herauf, den ich nicht richtig erfassen kann. Blau, sagt Jenny, aber was ist blau? Goldbraun. Rosig. Was sind Farben? Wie riechen sie? Wie fühlen sie sich an? Wie klingen sie? Und ich versinke im Schlaf, eingelullt von sanften, warmen Träumen und einem leisen, raschelnden Flüstern.

*****

Die Halle ist heiß und summt von lauter Stimmen. Ein Durcheinander aus atemlosem, kichernden Geplauder und vereinzeltem Aufkreischen lässt mich jeden Orientierungssinn verlieren. Ich fühle mich nervös, und das, obwohl Jenny neben mir steht und Arthur geduldig am Ende seiner Leine sitzt.

„Willst du noch eine Cola?“ fragt Jenny. „Du siehst ein bisschen fertig aus.... magst du dich einen Moment hinsetzen?“

„Nein, Jenny.“ flüstere ich. „Bleib hier.“

„Okay.“ sagt sie und drückt meine Hand. „Jetzt dauert’s nicht mehr lange.“

Ich fühle, wie sie mich streift und weiß, dass sie auf den Zehenspitzen steht und über die Köpfe der Leute hinwegspäht, die vor uns stehen.

Sie lehnt sich dichter an mich, ihr Atem heiß auf meiner Wange, als sie flüstert: „Würdest du das glauben? Endlich treffe ich Lij! Ich kann das nicht fassen! Kneif mich noch mal!“

Ich kichere und zwicke sie in den Arm.

„Autsch!“ Sie zuckt zurück und unterdrückt einen Schrei. Mein zartes Kneifen hat wohl kaum so eine Reaktion verdient, deswegen weiß ich, dass Jenny sehr nervös ist. Ganz plötzlich spüre ich ihre Arme um mich und sie zerdrückt mich beinahe in einer Bärenumarmung. Ihr Haar fällt über mein Gesicht und duftet nach Äpfeln; sie zittert vor Aufregung, ihre Wangen sind kalt und klamm.

„Oh Nora,“ flüstert sie. „Ich glaube nicht, dass ich das überlebe. Wenn ich seine Hand schüttele, kriege ich wahrscheinlich eine Herzanfall...“

Ich lache, während ich ihre Umarmung erwidere. „Dann werden Arthur und ich dich hier lassen.“ teile ich ihr mit. „Du bist schwer.“

„Das ist also der Dank!““ murmelt sie gutmütig, „Nachdem ich dich zu diesem Treffen mitgenommen und dir Hotdogs und Cola gekauft habe, kriege ich das. Im Stich gelassen mitten in einer peinlichen Situation, und das vor dem allerschönsten Geschöpf, das...“

„...jemals auf dieser armseligen Erde gewandelt ist, ich weiß.“ sage ich kichernd.

Es folgt eine Pause, während wir uns in der Schlange vorwärts schieben. Dann umarmt mich Jenny plötzlich noch mal. Diesmal ist kein bisschen von der schwindelerregenden Zittrigkeit der letzten Umarmung übrig, keine Flut von Begeisterung, während sie mich in die Arme schließt. Es ist sogar so etwas wie Trauer in der beinahe schützenden Art, mit der sie mich fest an sich drückt.

„Oh, Nora-lee,“ flüstert sie in mein Haar, und da ist ein Hauch von Kummer in ihrer Stimme. Jenny benutzt nie meinen Kinder-Kosenamen, es sei denn, sie ist sehr bewegt. Oder traurig.

„Ich wünschte, du könntest heute meine Freude mit mir teilen... Da hinten ist Billy, er spricht mit einem Mädchen, das ungefähr so alt ist wie du. Er hat ein flaschengrünes T-Shirt an, und ausgeblichene Jeans. Eine schwarze Lederjacke hängt über seiner Stuhllehne. Da, jetzt kritzelt er etwas in das Buch von dem Mädchen. Er beugt sich vor, lächelt und tätschelt ihr die Wange. Jetzt kommt ihre Mama. Sie macht ein Bild von den beiden. Und da ist Sean, in einem cremefarbenen Hemd. Er lächelt ein paar Mädchen an und sagt etwas. Sie lachen. Blitzlicht, Blitzlicht... Die Mädchen küssen ihn. Sie winken zum Abschied. Und da ist Dom. Schwarzes T-Shirt, sehr eng, mit roten Streifen auf den Schultern und den Ärmeln... sehr schöne schwarze Jeans. Er hat seine Arme um ein paar Mädchen gelegt, er lächelt breit und seine Augen strahlen. Und Lij...“

Ihre Stimme wird leiser und seltsam atemlos, als sie fortfährt. „Er schreibt etwas auf ein Stück... ich weiß nicht, vielleicht ein Bild, oder ein Poster. Er schaut auf und wirft dem Mädchen mit der blauen Bluse einen Blick zu, und sie wird rot. Er lächelt wieder, jetzt lacht er scheinbar in sich hinein.“

„Was hat er an?“ frage ich leise.

„Ein blassblaues Hemd und eine Jeansjacke.“ Jetzt klingt Jenny verträumt, ihre Stimme ist heiser. „Seine Haare sind ein bisschen zerzaust. Er sieht schön aus, Nora-Lee. Einfach schön. Diese Mädchen machen jetzt Photos mit ihm. Er lächelt in die Kamera...“

„Es tut mir leid, dass ich kein Bild machen kann von dir und ihm.“ flüstere ich in ihre Schulter hinein.

„Oh, das ist schon in Ordnung, Kleines. Irgendwie kriegen wir das schon hin.“ Sie versteift sich für einen Moment, bevor sie mich beinahe noch fester an sich zieht; ihr langer, tiefer Seufzer fährt durch meine Haare. „Es tut mir leid, dass du all das hier nicht sehen kannst, Nora-Lee.“

„Du siehst für mich, Jenna-Nee.“ sage ich in dem Versuch, unbekümmert zu klingen. „Das ist genug.“

„Vorwärts, Ihr Lieben.“ kommt plötzlich eine tiefe, männliche Stimme von irgendwo neben uns, und Jenny schrickt zusammen.

Wir machen einen Schritt und kichern hinter vorgehaltener Hand.

Jenny wippt rastlos auf den Füßen auf und nieder; ihr Atem wird wieder so tief, zittrig und nervös wie vorhin.

„Du siehst gut aus, Jen.“ sage ich mit einem Lächeln und tätschele ihr die Schulter. „Dein Lippenstift sieht gut aus... ich habe dafür gesorgt, dass du den genommen hast, der lange hält, erinnerst du dich? Und deine Wimperntusche ist auch noch drauf. Du hast den wasserfesten von Mama genommen, extra dick und ,mit Ultraglanz’, stimmt’s? Und du riechst immer noch gut, obwohl ich weiß, dass du stark schwitzt, vor allem unter den Armen...“

Jenny gluckst und versetzt mir eine leichte Kopfnuss.

„Musst du auf die Toilette?“ frage ich mit einem Grinsen.

„Nora.“ Sie stöhnt. „Wirst du wohl still sein?“

Ich kichere und greife nach Jenny’s Hand. Sie erwidert den Druck dankbar. „Noch drei vor mir.“ haucht sie. „Ich kann das tun. Ich kann das tun. Es wird einfach gut gehen.“

Ich suche in meiner Tasche herum und ziehe mein Taschentuch heraus. „Deine Hand ist verschwitzt.“ flüstere ich.

Jenny wird plötzlich ganz reglos... jedenfalls, bis sie ihren Arm überraschend nach mir ausstreckt. „Danke, Schwesterchen.“ sagte sie und zieht mich dicht an sich. „Vielen Dank.“

„Bescheuert, hm?“ murmelt sie fiebrig, so dicht an meinem Ohr, dass es kitzelt. „Und noch dazu in meinem Alter... man sollte meinen, dass ich es besser weiß. Warum sollte ich mich dermaßen zum Narren machen, bloß, weil ich ihn persönlich treffe? Er ist auch nur aus Fleisch und Blut, so wie ich, nicht viel besser und sicher nicht viel schlimmer. Warum ein solches Theater, bloß weil ich ihn endlich von Angesicht zu Angesicht sehe? Er ist sowieso bloß ein sterbliches Wesen.“

„Bloß das ,wundervollste, sterbliche Wesen auf Erden’.“ flüstere ich zurück.

Jenny stöhnt mit einer Stimme, die klingt, als sei sie lächerlich nahe an ehrfürchtig bewundernden Tränen. „Du hast recht!“ sagte sie heftig. „Er ist es wert, eines oder zwei meiner Lebensjahre in der Erwartung zuzubringen, ihm zu begegnen!“

Wir kichern beide nervös.

Ein weiteres mühsames Vorwärtsschieben, und das Gekreisch und Gelächter wird deutlicher. Da sind ein paar vertraute Stimmen und Akzente, und ich versuche, Elijahs Stimme in dem Gewirr kaum unterdrückter Aufregung und gutgelaunter Erwiderungen auszumachen, aber ein plötzlicher Ausbruch von Gelächter, das Klicken und Surren von Kameras und der Klangteppich der Gespräche darunter und um mich herum macht jede Art von Identifizierung unmöglich. Und ich schrecke jäh auf, als Jenny „Komm schon!“ zischt und plötzlich an meinem Handgelenk zieht.

„Hi, ich bin Jenny.“ höre ich sie zu jemandem sagen; ihre Stimme ist fest und gleichmäßig, und mir wird warm vor Stolz. „Das ist meine Schwester Nora.“

„Hi, Jen.“ sagt jemand. Dom. „Hi, Nora.“

„Hi.“ antworte ich schüchtern.

„Wie geht es dir?“ sagt jemand anderes. Wärmer, ein anderer Akzent. Sean?

„Mir ging’s noch nie besser.“ sagt Jenny, und ich bleibe still. Immerhin ist das ihr Augenblick.

„Wo kommst du her, Jenny?“ Diese singende Sprachmelodie... die würde ich überall erkennen. Billy.

„Ich bin aus Surrey.“

„Ein langer Weg nach London, nicht?“ fragt Dom.

„Oh, dankeschön! Mach das für mich... Jenny. Das ist mein einziges Bild von dir.“ Es macht nicht viel Sinn, aber vielleicht spricht sie mit jemand anderem als mit Dom. „... ja, das stimmt. Fast vier Stunden. Dankeschön, Billy.“

„Kein Problem.“

„Das ist ein schönes Photo. Ich kann mich erinnern, wie es aufgenommen wurde...“

„Hey, hier ist Elijah.“

Das winzigste Nach-Luft-Ringen von Jenny; ich hoffe im Stillen, dass sie keinen Herzanfall hat.

„Hallo, wie geht es dir?“ Das ist Elijahs Stimme. Ich sollte es wissen, ich habe sie oft genug gehört. „Danke, dass du dir die Mühe gemacht hast, herzukommen.“

„Nicht doch.“ sagt Jenny; ihre Stimme flattert. „Es ist mir ein Vergnügen.“

Dann spricht mich aus heiterem Himmel Billy an. „Nora, nicht wahr? Das ist ein richtig netter Hund. Wie heißt er?“

„Arthur.“ Ich schnappe nach Luft und wirbele herum, um festzustellen, wo er sich befindet.

„Hallo, Arthur.“ sagt Dom. Ich spüre einen leichten Luftzug, als er sich bückt, um Arthur zu streicheln. Plötzliche Panik schießt in mir hoch. Ich kann hören, wie sich Jenny im Hintergrund lebhaft mit Elijah und Sean unterhält. Ich kann sie ja wohl kaum aus dem heiligsten Augenblick ihres Lebens wegreißen, oder? Und als ob er meine Unruhe spüren würde, knurrt Arthur leise, und Billy gluckst.

„Nein, laddie, wir würden nicht wagen, Hand an dein kostbares Frauchen zu legen...“ gurrt er, aber das löst bei Arthur nur noch mehr Knurren aus.

Dom lacht, und ich stelle fest, dass ich lächele.

„Hunde haben einen besseren Instinkt als Menschen, sagt man.“ meint er. „Vielleicht sieht er dich so, wie du wirklich bist.“

„Also... danke schön, Dom!“ sagt Billy.

Ich kichere. Genau in diesem Moment höre ich Jenny sagen: „Vielen, vielen Dank für deine Zeit.“

Dann, plötzlich, Elijahs Stimme. „He, Jungs... wem gehört dieser Hund?“

„Er gehört Nora.“ erklärt Dom.

„Sein Name ist Arthur.“ fügt Billy hilfsbereit hinzu.

Dann spüre ich Jenny neben mir. „Elijah, darf ich dir meine Schwester Nora vorstellen?“ sagt sie atemlos. „Nora-Lee, hier ist Elijah.“

Ich strecke die Hand aus und mein Griff wird warm und fest erwidert. „Wie geht es dir, Nora?“ begrüßt mich Elijahs weiche, helle Stimme.

„Ich bin glücklich.“ antworte ich mit einem spitzbübischen Grinsen. „Jetzt, wo Jenny dich persönlich getroffen hat, wird sie vielleicht damit aufhören, im Schlaf nach dir zu rufen. Weißt du, wir teilen uns ein Schlafzimmer, und manchmal geht es mir auf die Nerven.“

„Nora!“ zischt Jenny, tödlich entsetzt.

„Ist es das?“ gluckst Elijah. „Das kann ich mir vorstellen. Ich hoffe, sie hat dich nicht aus dem Bett vertrieben, um auf dem Sofa zu schlafen.“

„Noch nicht.“ Ich lächele. „Sie glaubt, du bist das allerschönste Geschöpf, das...“

„Nora!“ quietscht Jenny durch zusammengebissene Zähne.

„Nun... dankeschön.“ sagt Elijah mit Wärme. Jenny sagt überhaupt nichts mehr. Vielleicht hat sie jetzt ihren Herzanfall.

„Was ist mit dir?“ mischt sich Billy ein. „Was denkst du über Elijah?“

Das verschlägt mir die Sprache. Ich habe nicht wirklich eine Antwort darauf. „Ich... ich weiß nicht.“

„Nora kann nicht...“ beginnt Jenny unbehaglich.

„Ich bin blind.“ beende ich absichtlich grob ihren Satz. „Deshalb weiß ich nur, dass du ein netter Kerl bist und ein talentierter Schauspieler, und dass Mädchen wie Jenny deinetwegen verrückt spielen.“

Alle vier lachen, sogar Dom, der mit dem Mädchen spricht, das hinter uns in der Schlange steht. Jenny stimmt mit ein; ihr Lachen klingt allerdings reichlich gezwungen.

„Hätte ich selbst nicht besser zusammenfassen können.“ sagt Sean.

„Das ist süß, Nora.“ sagt Elijah. „Ich danke dir.“

Der freundliche Klang seiner Stimme entzündet den Funken einer Idee in meinem Kopf, einen Einfall, so schrecklich waghalsig, dass er mich betäubt. Ich bin gefangen in meiner eigenen Unbesonnenheit und strecke unsicher die Hand aus, auf der Suche nach der Sicherheit von Jennys Griff.

„Darf ich dich um einen... das heißt...“ stammele ich unsicher. „Macht es dir was aus, wenn ich dich... ansehe?“

Es folgt eine fühlbare Stille, eine Insel aus schockiertem Schweigen in dem Meer aus Gerede und Gelächter. Jenny verstärkt ihren Griff.

„Sie meint, ob es in Ordnung ist, wenn sie dein Gesicht anfasst.“ erklärt sie mit unsicherer Stimme. „Sie kann nicht mit ihren Augen sehen, ja, aber ihr Gehör und ihr Tatsinn sind sehr scharf und genau. Das heißt, wenn es dir nichts ausmacht... ich meine, es ist in Ordnung, wenn du dich nicht wohl dabei fühlst... ich meine, wir verstehen, dass du beschäftigt bist und alles, aber...“

„Wieso sollte es mir etwas ausmachen?“ sagt Elijah zu Jennys Rettung – und zu meiner Verblüffung. Ich hatte nicht erwartet, dass er so leicht einwilligen würde. Ich hatte mich fest darauf vorbereitet, wie ein begossener Pudel dazustehen. Es ist sowieso eine alberne Idee. „Nur zu, Nora. Sieh mich an.“

„Elijah?“ ruft eine fremde, weibliche Stimme von weiter weg.

„Das ist schon in Ordnung, Kit.“ sagt Elijah. „Ich bin sicher, den anderen würde es auch nichts ausmachen.“

„Ja, gönn ihnen eine Pause, Kit.“ Das ist Dom, der da redet. „Sie sind den ganzen Weg von Surrey gefahren, um hier zu sein.“

„Oh... na schön.“ sagt die Frau mit resignierter Fröhlichkeit. „Hier, Jenny... du hast nur Bilder von dir. Elijah und Sean. Möchtest du, dass ich Bilder von dir mit Billy und Dom mache?“

„Oh... würdest du?“ haucht Jenny ekstatisch. „Sie lässt nach einem weichen, aufgeregten Druck meine Hand los, und bald kann ich hören, wie sie und die anderen drei „Hobbits“ sich für die Kamera aufstellen.

„Du sagtest, du willst mich ansehen.“ Elijahs Stimme holt mich zu der nächstliegenden Angelegenheit zurück. „Sag mir, was ich tun soll, um... sichtbar zu sein.“

Ich lache nervös. „Ich muss nur dein Gesicht berühren... nein, ich muss es betasten.“

Und plötzlich umfassen seine Finger mein Handgelenk und führen meine Hand sanft an sein Gesicht. Ich hole tief Luft, als ich seine Haut berühre. Jenny sagt, sie sei sehr glatt, und sie hat nicht übertrieben. Er hat die weichste Haut, die ich je im Gesicht eines Mannes gefühlt habe. Arthurs Leine fällt mir aus den Fingern, als ich meine linke Hand hebe, um die andere Seite seines Gesichtes zu umschließen. Nur die allerschwächste Spur von Bartstoppeln zieht sich an seinem Kinn entlang; andererseits sind seine Wangen unter meinen streichelnden Daumen so seidig und kühl wie Porzellan.

„Wie lange bist du schon blind, Nora?“ fragt er, als ich meine Finger an seiner Kinnlinie entlanggleiten lasse. Seine Knochen sind scharf strukturiert, sein Gesicht ist weder zu breit noch zu lang. Er ist von einem warmen, holzigen Geruch umgeben, mit einer Spur Moschus und einer schwachen, sauberen Frische.

„Ich bin so geboren.“ erwidere ich, während sich meine Finger selbstbewusst seine Wangen hinaufbewegen: ich konzentriere mich auf die vereinzelten Haare, die an seinen ziemlich feuchten Schläfen kleben... auf die Art, wie meine Finger weich über die Ausdehnung seiner Stirn gleiten und auf de schmetterlingszarte Berührung seiner Wimpern an meinen Daumenballen, als er die Augen schließt.

„Du musst nicht antworten, wenn du nicht möchtest.“ fährt er fort, während meine Daumen seine symmetrischen, perfekt geschwungenen Augenbrauen gegen den Strich bürsten. „Aber gibt es irgendetwas, das du vermisst, weil du nicht sehen kannst?“

„Farben vielleicht,“ sagte ich nachdenklich; meine Daumen streichen zart über seine seidigen Augenlider. Ich kann spüren, wie sich seine Augen unter dem sanften Druck meiner Finger bewegen, und ich staune über ihre Größe. Sie sind riesig, aber trotzdem sind sie im Verhältnis zu seinen Gesichtszügen ausgewogen; sie sind vollkommen geformt, und die Wimpern sind lang und dicht. „Macht es dir etwas aus, wenn ich deine Nase berühre?“

„Überhaupt nicht.“ sagt er, aber als meine Daumen auf seinem schlanken Nasenrücken zusammentreffen, lacht er leise. „Entschuldige, aber das kitzelt. – Meinst du Farben, so wie bei den Blumen, dem Himmel, dem Meer und so?“

„Ja,“ sage ich und streiche über seine elegante Nasenspitze. Sie fühlt sich sehr anders an als die meines Vaters und meiner Brüder. Ihre sind ein bisschen rund, knubbelig und ölig am Ende. Die von Elijah ist es nicht. „Aber auch ein Gefühl der Unabhängigkeit. Ich bin ganz und gar von Jenny’s Gnade abhängig. Sie ist diejenige, die meine Garderobe zusammenstellt. Nach dem hier wird sie mich eine Woche lang hassen, und ich werde mit unterschiedlichen Socken, grün karierter Bluse und orangefarbenem Rock zur Schule gehen, und wahrscheinlich obendrein mit purpurrotem Lippenstift. Farben bedeuten mir gar nichts, aber scheinbar tun sie den Leuten in den Augen weh.“

Tiefe Falten ziehen sich von beiden Seiten seiner Nase bis hinunter zu den Mundwinkeln, als er lächelt. „Ganz furchtbare Kombination.“ sagt er. „Wo gehst du zur Schule?“

„Auf eine spezielle Blindenschule. Ich bin aber keine großartige Schülerin. Ich spiele viel lieber Cello. Darf ich deinen Mund anfassen?“

„Aber sicher. Ich denke, mein Gesicht wäre ohne meinen Mund nicht vollständig, oder?“ Und ich streiche mit dem Finger über die bewegliche Linie seiner Oberlippe, dann über die Unterlippe, zart seinen warmen, biegsamen Mund betastend. Sein Mundwinkel kräuselt sich in einem Lächeln, und er tupft einen schnellen, spielerischen Kuss auf meine Finger; das Lächeln wird breiter, als er mitbekommt, wie ich nach Luft schnappe. „Cello spielen, hm?“sagt er, als meine Hand seinen Mund verlässt, um weiter hinunter zu wandern. Er legt den Kopf zurück, um mir den Zugang zu seinem Hals zu ermöglichen. „Ist das denn nicht schwer?“

„Es ist, als würde ich gegen den Wind segeln, die ganze Zeit.“ bemerke ich mit trockenem Mund; ich bin überrascht, wie normal und zwanglos meine Stimme immer noch klingt, und ich entdecke voller Staunen die seidige Weichheit der Haut auf seinem Hals. Mein Finger kommt über seinem Puls zur Ruhe und ich spüre den stetigen, rhythmischen Schlag seines Herzens. „Zum Glück habe ich ein gutes Gedächtnis. Das muss ich sowieso... Jenny würde vergessen, wo sie ihre Nase gelassen hat, wenn sie nicht in ihrem Gesicht festgewachsen wäre.“

Die leichte Wölbung seines Adamsapfels hüpft, als er leise lacht. „Das ist hart.“ sagt er. „Sie scheint sehr nett zu sein.“

„Oh, das ist sie. Sehr nett. Ich kann nicht ohne sie leben.“ sage ich und lasse meine Finger an der Kontur seiner Ohren entlang wandern: dünn, warm, die Ohrläppchen dicht am Kopf und die oberen Enden ein ganz klein wenig zugespitzt. Er lehnt sich in meine Berührung hinein wie eine gestreichelte Katze, und ich bewege meine Hand hastig weiter zu seinem Haar und lasse die Finger durch die schweren, seidigen Strähnen gleiten. Ich presse meine Augen ganz fest zusammen und halte den Atem an, als all diese Empfindungen sich zu einer einzigen Identität formen: Elijah Wood... ein scharf konturiertes Gesicht, umhüllt von einer Haut wie aus Rosenblättern, fein nach Pinie duftend (wie ungemein passend!), und mit einer Stimme, die mich stark an Geigen und Flöten erinnert.

Ich trete zurück und stelle fest, dass mein Mund vor Ehrfurcht leicht geöffnet ist. Eine plötzliche Woge der Dankbarkeit überflutet mich und die Tränen würgen mich beinahe in der Kehle, als ich an die Freundlichkeit denke, die er mir gerade erwiesen hat. Und jetzt, wo alles vorbei ist, bin ich plötzlich wieder schüchtern, als ich die Hände und den Kopf senke und nichts weiter flüstern kann als ein peinlich einfallsloses: „Danke. Danke, dass du mich dich hast... ähm... sehen lassen. Du bist zu freundlich. Dankeschön.“

„So, und was denkst du jetzt?“ Er hat einen Hauch von Lachen in der Stimme. „Entspreche ich deinen Erwartungen?“

Ich lächle, als ich mein Gesicht nach oben neige. Seine Stimme kommt von irgendwo etwa 20 Zentimeter über mir. „Ich habe immer schon gewusst, das du schön bist.“ sage ich schüchtern. „Aber das hier geht über Schönheit hinaus.“

„Danke, Nora.“ sagt er. „Ich nehme nicht an, dass ich irgendwas für dich signieren kann, oder? Ich kann kein Braille schreiben.“ Er lacht selbstironisch in sich hinein. „Aber vielleicht gefällt dir das hier.“

Er rahmt mein Gesicht mit der Wärme seiner Handflächen ein, neigt es ganz leicht und drückt einen langen, sanften Kuss auf meine Stirn.

„Es gefällt mir.“ flüstere ich.

„Das freut mich.“ sagt er und gibt mein Gesicht frei. „Du hast schöne Augen, Nora, weißt du das?“

Ich werde rot, als ich mich murmelnd bedanke. Plötzlich ist Jenny an meiner Seite.

„Vielen, vielen Dank, Elijah.“ sagt sie. Ich weiß, sie möchte für immer hier bleiben, aber diese Frau namens Kit ist wahrscheinlich nicht dieser Meinung. „Das war wirklich nett von dir. Aber wir sollten jetzt besser gehen... tut mir leid, dass wir so viel von deiner Zeit beansprucht haben. Ich weiß das wirklich sehr zu schätzen. Ich danke dir sehr.“

„Danke für’s Kommen.“ sagt Elijah. „Habt eine sichere Heimfahrt... passt auf Euch auf.“

Jenny verabschiedet sich vom Rest der „Hobbits“ und entfernt sich widerstrebend von den Tischen. Ich versuche zu lächeln... aber es ist schwer, sein bestes Lächeln aufzusetzen, wenn man nicht einmal weiß, wohin man lächeln soll. Arthur zieht ein bisschen ungeduldig an seiner Leine. Alles löst sich jetzt plötzlich in einem einzigen Durcheinander auf.

“Tschüs, Nora.“ sagt Dom.

„Fahrt vorsichtig.“ warnt Sean.

„Tschüs, Arthur.“ sagt Billy.

Und plötzlich sind wir wieder in der mahlenden, lärmenden Masse der Besucher. Der aufregende, berauschende Moment, der mich scheinbar eingehüllt hat, als die Welt nur aus Elijahs Gesicht unter meinen forschenden Fingerspitzen bestand, zerschellt in eine Million Einzelteile. Ich versuche sie mit den Händen einzufangen, aber sie gleiten mir durch die Finger wie feiner Sand und ich finde mich in Jennys Armen wieder und wundere mich, warum ich mich so schwerelos fühle.

„Er ist wunderschön, Jen,“ flüstere ich in Jennys Cardigan hinein, „das schönste Geschöpf, das ich je getroffen habe.“

„Ich freue mich, dass du es ,siehst', Kindchen...“ Bei all ihrer Gelassenheit klingt Jenny, als sei sie ebenfalls erschüttert.

„Hat er dich auch geküsst?“ frage ich scheu.

„Nein, aber ich habe ihn umarmt, und er hat mich zurück umarmt. Ich glaube, ich muss das Stückchen Haut auf deiner Stirn abkratzen, wo er dich hingeküsst hat, um es für die Nachwelt einzubalsamieren.“ murmelt sie, als sie mich aus der Menge heraussteuert. „Und deine Hände wirst du auch aufgeben müssen.“

Meine Finger prickeln von der Erinnerung, und ich seufze. „Oder was?“ frage ich, während ich mich an sie kuschele und einen Arm um ihre Taille schlinge und sie ihren Arm fest um meine Schulter legt. „Muss ich sonst am Montag ein purpurrotes Hemd und pinkfarbene Hosen tragen?“

„Du kennst mich zu gut, Nora-Lee.“ Jenny lacht.

Vor uns ist Wärme , eine andere Hitze als die in der bevölkerten Halle; ich lächle. Da draußen ist die Sonne. Ist der Himmel heute blau? Ist er so blau wie Elijahs Augen?


Epilog

Manchmal, wenn Jenny anfängt, über Elijah zu reden, dann hole ich tief Atem und denke an Farben. Ich glaube, ich fange an zu verstehen, was sie sind. Blau zum Beispiel ist das kühle und glatte Gefühl von Elijahs Haut unter meinen Fingern. Goldbraun ist die Wärme seiner Stimme, mit der er meinen Namen aussprach. Und rosig ist dieser flüsterweiche Kuss, der meine Stirn wie eine Segensgeste berührt hat und ungezählte Empfindungen geweckt hat, die mir selbst jetzt noch Schauer den Rücken hinunterlaufen lassen.

Elijah Wood ist das allerschönste Geschöpf, das je auf dieser armseligen Erde gewandelt ist. Und er hat mir geholfen zu sehen.


ENDE


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