Das Erbe (The Legacy)
von Rose Red, übersetzt von Cúthalion

Bevor noch irgendjemand sprach, konnte Arwen sehen, dass irgend etwas nicht stimmte. Sie erkannte einen der Boten ihres Vaters; er sah bleich und erschöpft aus.

Galadriel blieb sitzen, eine Hand auf den Mund gepresst. Obwohl die Herrin der Galadhrim allem Anschein nach gelassen genug erschien, war sie beunruhigter als Arwen sie je gesehen hatte.

Bis jetzt hatte sie sich nur darauf gefreut, ihre Mutter in Lórien zu treffen, und sie hatte daran gedacht, dass sie die Jahreszeit gemeinsam verbringen würden. Als sie von der Ankunft des Boten gehört hatte, hatte sie geglaubt, er sei gekommen, um mitzuteilen, dass Celebrían früh eingetroffen sei.

Aber jetzt konnte sie sehen, dass es Nachrichten von anderer Art waren... irgend etwas viel Schrecklicheres.

„Was ist geschehen?“

Wie falsch all dies war, wie furchtbar falsch.

Es gab nichts, was sie tun konnte, als nach Imladris zurückzukehren und die ganze Zeit an das Schlimmste zu denken. Arwen hätte nicht gewartet, selbst wenn das hieß, mit dem gesamten Heer von Lórien als Schutz zu reisen. Die Gesellschaft ihrer Großeltern war Stärke genug, gemeinsam mit der riesigen Eskorte, die sie begleitete.

Als sie in das Tal hinab stiegen, kam Imladris in Sicht. Arwen ließ ihr Pferd rasch über wohlvertraute Pfade laufen, und die letzten paar Meilen blieben hinter ihnen zurück.

Bevor sie das Haus auch nur betreten hatte, kam Elrond auf die Terrasse hinaus. Sie hastete geradewegs auf ihn zu und klammerte sich an seine Ärmel, als er die Arme ausbreitete.

„Bitte, sag mir...“

Arwen fragte sich, wann ihr Vater zuletzt geschlafen hatte. Er wirkte blass; seine Augen waren von einem umwölkten Grau.

„Ich denke, das Schlimmste ist vorbei, aber wir warten noch immer darauf, dass es ihr besser geht,“ sagte er still; er versuchte beruhigend zu klingen, aber es gelang ihm nicht ganz. „Ich habe getan, was ich kann, aber ich glaube, deine Gegenwart wird helfen.“

„Ich gehe sofort zu ihr.“

Nichts konnte sie jetzt noch fernhalten.

******

Diese Nacht war so klar, jeder einzelne Stern war am samtdunklen Himmel zu sehen.

Celebrían wusste, dass sie sich den dringend nötigen Schlaf holen sollte, während sie konnte, aber sie wurde noch immer in den frühen Morgenstunden wach und dachte über das neugeborene Mädchen nach, das jetzt auf der anderen Seite des Zimmers in der Wiege lag.

Sie drehte sich um und sah, dass Elrond neben ihr schlief. Er war so aufmerksam gewesen, hatte so sehr darauf bestanden, dass sie ausruhte, dass sie wusste, er hatte seine eigene Müdigkeit missachtet. Lächelnd und behutsam, um ihn nicht zu wecken, tupfte sie einen kleinen Kuss auf seine Stirn.

Sie zog ihre Robe eng um sich zusammen, erhob sich aus dem Bett und schlich vorsichtig hinüber zu der Korbwiege auf der anderen Seite, wo man klugerweise einen Stuhl aufgestellt hatte. Sie spürte, dass ihr Körper schmerzte, aber das war ihre geringste Sorge. Jetzt waren all ihre Gedanken bei dem schlafenden Mädchen.

Bereits mit zwei Kindern auf einmal beschenkt worden zu sein, war eine der größten Freuden ihres Lebens gewesen, aber jetzt auch noch eine Tochter zu haben... so lange hatte Celebrían sich dies nur erträumt.

„Mein kleines Mädchen,“ flüsterte sie beinahe ungläubig und mit einem kleinen Lächeln.

Sie langte in die Wiege und zog sachte die Decke zurück. Das Baby hatte die Hände an die Brust gezogen; sein Körper war beinahe zusammengerollt, während es auf dem Rücken lag. Celebrían ließ ihre langen Finger über die kleinen Fäuste gleiten und berührte neugierig eine weiche, rosige Wange.

Ihre Tochter hatte das dunkle Haar ihres Vaters, und sogar jetzt schon konnte man in ihren Zügen die Ähnlichkeit zwischen den beiden erkennen. Aber es gab andere Ähnlichkeiten, die tiefer gingen als bis in die Erscheinung, Dinge, von denen Celebrían wusste, dass sie sie an Arwen weitergegeben hatte, Verbindungen, die es nur zwischen Mutter und Tochter geben konnte.

Sie legte eine Hand sorgsam unter den kleinen Kopf, hob Arwen aus der Wiege, damit sie bequem in ihren Armen ruhen konnte. Das Baby regte sich nur leicht und wachte nicht auf.

Sie begann leise zu summen, ohne wirklich zu wissen, was für eine Weise es war... eine unerwartete Melodie.

Wer wirst du sein? dachte sie. Wohin wirst du gehen, wie wirst du leben? Wen wirst du lieben?

Diese Fragen blieben dem Glück überlassen, die Möglichkeiten offen und unbekannt.

Celebrían lächelte auf das winzige Mädchen hinunter, erfüllt von schwindelerregender Erwartung angesichts der Jahre, die noch kommen würden.

******

Obwohl sie den Wechsel der Jahreszeiten nicht wahrgenommen hatte, waren die Blätter offenbar reichlich gefallen und hatten die kühle Witterung des Winters willkommen geheißen.

Celebrían konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal von so vielen Mitgliedern ihrer Familie umgeben gewesen war. Zu einer anderen Zeit hätte sie mehr Vergnügen an ihrer Gesellschaft gefunden, aber nun war Trost das Einzige, was sie erhoffen konnten, ihr anzubieten.

Doch trotz der Gegenwart ihrer Eltern, ihres Gatten und ihrer Kinder hatte sie sich in letzter Zeit von vielen der Tätigkeiten in Imladris zurückgezogen. Elrond hatte dies nicht in Frage gestellt, obwohl er sanfte Versuche machte, sie hervor zu locken.

Celebrían saß auf der Kante ihres frisch gemachten Bettes und starrte zum Fenster hinaus, ihre Hände auf dem Rand der Matratze. Ihr silbernes Haar war gelöst und offen und hing über ihren Rücken und ihre Schultern hinunter.

Die Vorhänge des Schlafzimmers waren zurückgezogen, um das gedämpfte Tageslicht des frühen Winters einzulassen. In diesem Augenblick tröstete es sie, den Frieden der Jahreszeit zu spüren, und die Einsamkeit in der Stille des Raumes.

Auf dem Frisiertisch lag ein einzelner, tiefgrüner Stein, seine Kette zu einem kleinen Teich aus Silber zusammengeflossen. Dort hatte es auf sie gewartet, seit es von ihrem Hals entfernt worden war, als man sie vor Monaten nach Imladris zurückgebracht hatte.

Sie sah ihn von dort, wo sie saß, und sie schaute ihn für ein paar Augenblicke einfach an, ehe sie sich dazu bringen konnte, ihn zu berühren. Sie streckte ihre schlanken Hände aus, hob ihn sorgsam hoch und ließ sich wieder auf dem Fußende des Bettes nieder.

Aber selbst als sie den Stein in ihren Händen betrachtete, begriff Celebrían mit Enttäuschung, dass er das Licht, das in ihm gefangen war, nicht mehr nach außen abgab. Die Kette funkelte noch immer, der Smaragd aber blieb dunkel.

Nein. Es soll nicht sein.

Als sie wieder aufstand, um ihn zurück auf den Tisch zu legen, ließen leise Schritte auf der Schwelle des Zimmers sie sich umwenden.

„Du wirst ihn nicht tragen?“

Elronds Stimme war gleichmäßig und leicht, trotz der Schwermut, die sein Gesicht zeigte. Es war weniger eine Frage als eine Feststellung.

Celebrían schloss ihre Finger fester um den Juwel in ihrer Hand. Als sie versuchte, Worte zu finden, um ihm zu antworten, konnte sie nur den Kopf schütteln.

„Selbst wenn er dir vielleicht Kraft gibt?“

„Das Leben, das er einst enthalten hat, ist dahin. Er ist nicht länger was er einst war.“

Mit unerwarteter Resignation legte sie ihn wieder hin und ließ ihre flache Hand für einen kurzen Moment noch darauf ruhen.

Ohne aufzuschauen, ging sie langsam wieder zum Bett hinüber. Sie stand davor, hob eine Hand und rieb sich den Haaransatz. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme ein Flüstern.

„Ich bin nicht länger, was ich war.“ Elrond begegnete ihrem Blick von der anderen Seite des Zimmers. Er kam zu ihr und streckte die Hand aus; instinktiv nahm sie sie und ihre Finger verflochten sich miteinander. „Du musst es auch spüren, meleth-nîn, du kannst mir nicht erzählen, dass du es nicht tust.“

Celebrían versuchte, ruhig zu bleiben, während sie zu ihm aufschaute, aber ihre Wangen brannten, während sie darum rang, ihren inneren Aufruhr nicht an die Oberfläche dringen zu lassen. Er sah das klare Blau ihrer Augen und wünschte, sie würden wieder strahlen... durch Licht, und nicht durch Tränen.

„Irgendwie wollte ich es nicht zugeben; ich hoffte, du würdest zu dir selbst zurückfinden.“

Sie trat vor, um ihm so nahe zu sein, wie sie konnte. Elronds Fingerspitzen schoben eine Strähne silbernen Haares hinter ihr Ohr; dann legte er seine Hand auf ihre Wange, auf die zarte Haut, die er so liebte.

Celebrían schloss die Augen, als sie ihr Gesicht in seine Handfläche schmiegte. Sie musste tief Atem holen, damit ihre Stimme gleichmäßig blieb, aber selbst so war sie nur ein Hauch, als sie sprach.

„Ich weiß, es tut dir weh, aber wir müssen darüber sprechen, wir müssen anfangen, uns einzugestehen, was geschehen muss.“

Ohne zu Zögern legte er die Arme um sie und drückte ihre Schultern, und sie vergrub ihr Gesicht in seinem Gewand, als sie sich gemeinsam auf dem Bett niederließen.

„Eingestehen, dass es wahrhaftig nichts gibt, das dir helfen kann? Dass selbst ich deinen Schmerz nicht völlig heilen konnte?“

Celebrián hörte, dass seine Stimme schwankte.

„Du weißt, wie ich gehofft habe, dass du ihn wegnehmen könntest, wie sehr ich gehofft habe...“

Erst jetzt spürte er, wie ihre Schultern zu beben begannen, als sie ihre Beherrschung aufgab.

„Ich will nur, dass du geheilt wirst, aber wie kann ich dies tun und dich freigeben?“

„Würdest du wollen, dass ich bleibe... nur, um zur Fremden zu werden für die, die ich liebe?“ Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen, und sie sah, dass die Wangen ihres Mannes nun so nass waren wie ihre eigenen. „Eine Fremde für dich?“

Elrond schluckte und streckte einmal mehr die Hand aus, um mit dem Daumen die Tränenspuren fortzuwischen, die ihr Gesicht zeichneten. Als sie einander einen Moment schweigend betrachteten, wagte keiner von ihnen etwas zu sagen, aus Furcht, die Wahrheit anzuerkennen, die sich nicht länger verbergen ließ.

„Warum fühlt es sich so falsch an, es zuzulassen?“

„Es ist nicht für immer – nur, bis du mir folgst.“ flüsterte sie.

„Ich weiß.“ Er nickte. „Aber lass mich dich wenigstens ein klein wenig länger haben... lass mir diese kleine Weile, damit ich dich im Gedächtnis behalten kann.“

Celebrían lächelte durch ihre Melancholie; er wusste, es gab einen kleinen Hoffnungsschimmer trotz der Wunde, die dauern würde.

„Ich werde dich für immer in meinem Herzen tragen, jenseits aller Entfernung über die See. Ich liebe dich, herven, für immer.“

Elrond bot ihr ein schwaches Lächeln und nahm ihr Gesicht in beide Hände.

„Das weiß ich.“

Sie hob ihre Hände, legte ihre Arme um seinen Hals und drückte ihre Lippen auf die seinen. Einmal mehr fing er sie in seinen Armen ein und hielt sie noch fester; alles, was er sich wünschte, war diesen Augenblick in seiner Erinnerung festzuhalten.

*****

Celebrían schaute einem dunkelhaarigen Elbenkind zu, das fröhlich spielte und über den Boden tanzte, in Harmonie mit der Musik der Harfe. Es war eine Weise, zu der sie um Arwens Willen oft zurückkehrte. Celebrían hatte sie nie zu Papier gebracht, aber sie konnte sie sich jedes Mal, wenn sie sie spielte, ins Gedächtnis rufen.

Das kleine Mädchen hielt einen dünnen Schal mit den Fingerspitzen und wirbelte ihn um sich herum, während es langsam über den Marmorboden tänzelte. Ihre Mutter hörte, dass es sich selbst etwas vorsang, in seiner eigenen Traumwelt verloren.

„Mit wem tanzt du?“ fragte Celebrían.

„Mit der Musik natürlich,“ erwiderte ihre Tochter, als sei das die einzig mögliche Antwort auf diese Frage.

Arwen fuhr fort, über den Boden zu tanzen, sie drehte und drehte sich, und Celebrían dachte, ihr würde gewiss schwindelig werden.

Tatsächlich hielt das Elbenkind einen Moment später mitten im Schritt inne, ein halbes, benommenes Lächeln im Gesicht. Sie erholte sich rasch, hüpfte dorthin hinüber, wo ihre Mutter saß und beobachtete sie, während sie Harfe spielte. Sie war kaum so groß wie das Instrument.

„Zeigst du mir, wie es geht?“

Ihe Mutter musste lächeln.

„Bist du sicher, dass du es dir merken kannst, wenn ich das tue?“ Das Mädchen nickte eifrig. „Also schön.“

Celebrían löste ihre Finger von der Harfe; ein vibrierender Klang wisperte durch die Luft, als sie die Saiten freigab.

„Um anzufangen: Hilfst du mir mit zwei Noten? Einfach hier, und dann hier“ – sie zupfte eine Saite in der Mitte der Harfe, und eine andere ein Stück darüber.

Arwen versuchte es selbst, und die Noten erklangen klar und rein, eine nach der anderen. Sie lächelte, erfreut über das Ergebnis ihrer Mühe.

„Nun, wenn ich es dir sage, dann spielst du deinen Teil mit mir. Fertig?“

Sie nickte ihrer Mutter zu.

Mit einer Hand begann Celebrían, auf einer Seite der Harfe zu spielen, und als sie ihr zunickte, spielte Arwen ihre beiden Noten auf der anderen. Nach einer Weise fügten sich die beiden Melodien zusammen und der Klang der beiden Musikerinnen verschmolz miteinander.

******

Der Winter senkte sich in diesem letzten Jahr sachte über Imladris, und Celebrían stellte fest, dass sie mehr darin aufging als jemals zuvor. Wenn die Kälte der Jahreszeit sie früher davon abgehalten hatte, hinaus in den Schnee zu gehen, so wanderte sie nun friedlich den Pfad entlang zur Terrasse zurück, während die weißen Flocken leise hinunterschwebten.

Sie hielt Elronds Arm, während sie dahinspazierten; sie hob ihr Gesicht nach oben und lächelte, als eine Schneeflocke ihr Augenlid kitzelte und eine andere ihre Lippen. Sie öffnete den Mund, um die nächste willkommen zu heißen, und noch eine, und sie spürte die frische Kälte, als sie auf ihrer Zunge schmolzen.

Ihr Mann lächelte nur zur Erwiderung, während er sie beobachtete. Sie sprachen nicht viel in diesen Tagen, sagten mehr mit kleinen Gesten und Berührungen des Geistes, als sie es mit Worten konnten. Sie hatten es jetzt hingenommen.

Sie kehrten ins Haus zurück und Celebrían lachte vor sich hin, während sie den weißen Schnee aus ihrem silbernen Haar schüttelte. Als ihr Mann ihr aus dem Mantel half, konnte sie Musik hören, die von irgendwoher den Gang hinunter an ihr Ohr drang.

Sie hielt inne und lauschte, und nach einem Händedruck für Elrond verließ sie ihn, um nach der Quelle des Geräusches zu suchen.

Als sie sich dem Ende des Ganges näherte, hörte Celebrían eine vertraute Melodie, die auf einer Harfe gespielt wurde. Bevor sie auch nur in den Raum kam, wusste sie, dass es ihre Tochter war, die da spielte, aber das Tempo war falsch. Die Noten, die sie zupfte, wurden zu lange gehalten.

Sie trat ein und sah Arwen vor der Harfe sitzen; ihre Finger bebten über den Saiten. Einen Moment später hielt sie inne und ließ das Instrument los. Celebrían sah, wie sie eine Hand hob, um sich sachte Tränen aus den Augen zu wischen.

„Warum hast du aufgehört?“

Arwen blickte überrascht auf.

„Ich kämpfe mit der Melodie... sie will nicht kommen.“

„Aber du kennst sie gut, du hast sie als Mädchen gelernt.“

„Das ist es ja gerade,“ erwiderte Arwen; ihre Stimme klang plötzlich erstickt. „ich fürchte, sie wird aus meiner Erinnerung verschwinden, wenn ich nicht spiele.“

„Nallach an i laer...?" fragte Celebrían sanft und setzte sich dicht neben ihre Tochter. „...oder wegen etwas anderem?"

Arwen legte die Hände auf beide Wangen, unfähig, die Tränen vor ihrer Mutter zu verbergen.

„Wie soll es hier weitergehen, ohne dich? Ohne dich, um mich zu lehren?“

Celebrían streckte die Hand aus, um eine dicke Strähne dunklen Haares über Arwens Schulter zu schieben.

„Du und ich, wir wissen beide, dass vor langer Zeit den Punkt überschritten hast, an dem ich dich noch etwas lehren kann.“

Arwen schüttelte den Kopf. „Ich habe nicht die Harfe gemeint.“

„Ich auch nicht.“

Arwen blickte wieder auf das Instrument vor sich. Es gab nichts in den langen Jahren ihres Lebens, dass ihr jetzt half, sich auf solche Gefühle vorzubereiten.

„Schließ die Augen,“ sagte Celebrían leise. Arwen wandte sich fragend in ihre Richtung. „Du kennst die Melodie in deinem Herzen, sell-nîn, lass sie einfach kommen.“

Die jüngere Elbenfrau nickte; mit einem kleinen Zögern hob sie ihre Hände zum Instrument. Sie senkte die Augenlider und ließ ihre Finger kurz dicht neben den Saiten schweben, während sie langsam Atem holte.

Ihr Gesicht war voller Konzentration, als sie zu spielen begann. Langsam entwickelte sich die Weise; sorgsame Fingerspitzen fanden die richtigen Akkorde.

Leise Musik schwebte durch die Luft.

Arwens Hände glitten über die Saiten und ein Lächeln erschien auf ihren Lippen, als sie die Melodie wiederfand, die so gründlich in ihr Herz und Gedächtnis verwoben war... die Melodie, von der sie nun wusste, dass sie nicht vergessen sein würde.

*****

Während die Nachmittagssonne begann, vom höchsten Punkt am Himmel über Lórien hinabzusinken, wanderten die Elbendamen über das Gras und zwischen den weißen und goldenen Blumen hindurch.

Die jüngere Dame verhielt in ihrem Schritt und wandte sich zu der älteren um.

„Naneth, du bleibst schon wieder zurück,“ lachte Arwen und nahm die Hand ihrer Mutter, um sie hinter sich her zu ziehen.

„Ich hatte keine Ahnung, dass das ein Wettrennen ist.“ Celebrían lächelte zurück, ließ sich aber fröhlich von ihrer Tochter den Hügel hinauf führen.

Sie erreichten die kleine Fläche auf der Hügelspitze und standen lachend, während sie nach Atem rangen.

„Es ist bloß, weil du tagträumst, ich weiß es.“

„Ist das so offensichtlich?“ antwortete Celebrían leichthin. „Ich habe nur an deinen Vater gedacht, und an den Hochzeitstag, der auf mich wartet, wenn ich zurückkehre.“

„Aber musst du denn so bald gehen? Du könntest statt dessen hier bei mir bleiben und den wunderbaren Sonnenschein spüren.“ bettelte Arwen, aber nur zum Scherz. Sie wusste, dass für ihre Mutter der Frühling Lórien, der Sommer aber immer ihrem Vater und Imladris gehörte. „Es ist ja nicht so, dass dein Hochzeitstag nächstes Jahr nicht wiederkommen wirst, und im nächsten wieder.“

Sie setzte sich in das üppige Gras; selbst in der Hitze des Tages war es wunderbar kühl.

„Oh, du wirst die köstliche Narrheit der Hingabe auch noch kennen, wenn du eine eigene Liebe hast.“ meinte Celebrían und stupste ihre Tochter scherzhaft in die Seite, als sie sich neben sie setzte.

„Nein, ich glaube nicht, dass ich mich jemals verlieben werde,“erwiderte Arwen züchtig und ließ die dunklen Wimpern flattern, während sie die Augen niederschlug.

Celebrían war überrascht. „Wieso bist du dir dessen so sicher?“

„Zu heiraten und einen solchen Schwur abzulegen? Mich ewig an jemand anderen zu binden?“ Arwen atmete tief. „Eine solche Wahl könnte ich mir nie vorstellen.“

„Das konnte ich auch nicht,“ vertraute ihre Mutter ihr an. „Aber das war, bevor ich deinen Vater traf.“

Arwen lächelte und wurde rot.

„Ich habe keinen Elbenfürsten getroffen, der mich je so fühlen ließ.“

„Oh, man kann nicht sagen, was mit der Zeit kommen wird und wer dir den Boden unter den Füßen wegreißt und dir schöne Geschenke bringt.“ Celebríans blaue Augen leuchteten vor Mutwillen.

„Selbst dann...“

Arwen sank zurück und legte sich nieder; sie sah durch die Baumspitzen zum Himmel auf. Sie streckte eine Hand zur Seite aus und berührte eine der gelben Blumen, die im Gras um sie herum wuchsen.

„Wenn ich einem solchen Fürsten begegnen würde, dann würde ich von ihm nichts erwarten, dass teurer wäre als Blumen. Denn ich würde ihn um seiner selbst willen lieben, und nicht wegen seiner Schätze.“

„Ich stelle mir vor, dass du ihn einfach lieben wirst, weil er ist, wer er ist.“ erwiderte Celebrían leise.

Einmal mehr röteten sich Arwens Wangen. Zuerst wusste sie nichts zu sagen; sie lächelte nur ein wenig verlegen.

„Nun... bis dahin werde ich hier bleiben und träumen. Bei der Schönheit des Flusses, der Hügel und der Blumen werde ich nichts anderes nötig haben.“

Sie warf ihrer Mutter einen Seitenblick zu; sie hatte sich ebenfalls hingelegt und ihr helles Haar breitete sich offen aus, ein starker Gegensatz zu dem grünen Gras. Celebrían hatte eine der gleichen, goldenen Blumen gepflückt und drehte den Stängel zwischen den Fingern.

„Was hat Ada dir geschenkt, als du ihn geheiratet hast?“

„Er hat mir einen Ring geschenkt, und er schenkte mir sich selbst.“ Celebrían seufzte glücklich und erwiderte das Lächeln ihrer Tochter. „Und mehr Freude, als ich jemals erwartet habe.“

*****

Als der Tag der Abreise kam und alle Vorbereitungen getroffen waren, bereitete sich das Haus von Elrond darauf vor, seiner Herrin Lebewohl zu sagen.

Celebrían hatte ihren Mann gebeten, mit Elladan und Elrohir auf sie zu warten, damit sie einen letzten Moment mit ihrer Tochter hatte.

Arwen konnte nur zu Boden schauen; sie wollte ihrer Mutter die Trauer nicht offenbaren, die sie nicht verbergen konnte. Wie lange würde diese Trennung dauern?

„Ich kann nicht sagen, was noch kommen wird für dich und mich, was ich versäumen werde, wenn ich fort bin von hier, aber du sollst wissen, dass ich dich voller Hoffnung verlasse.“ Celebrían nahm Arwens Hand und drückte ihr den Smaragd in die Hand, den sie selbst so viele Jahre getragen hatte. „Ich hoffe, dass du Stärke finden wirst.“

Arwen schloss die Hand um den Edelstein zu einer Faust; ihre Augen wurden tränenfeucht.

„Ich weiß, dass dieser ferne Ort besser sein wird für dich, auch wenn das bedeutet, dass du weit weg bist. Aber warum fürchte ich mich jetzt so sehr?“

„Ich kann es nicht sagen – nur, dass ich das selbe empfinde.“

Celebrían wollte ihrer Tochter Trost schenken, aber jetzt, als sie sich den letzten Augenblicken mit ihr gegenüber sah, fehlten ihr die Worte. Sie legte ihre Hand um Arwens Faust, um den Juwel, der sie verband.

„Ich kann dir nun dies hinterlassen, und der einzig wahre Rat, den ich dir geben kann, ist der, dir selbst zu trauen - was immer für Zeiten auch kommen mögen, was du auch immer vor dir siehst. Keine Entscheidung, die du triffst, wird jemals vergebens sein.“

Celebrían holte kurz und schwer Atem und hob die Hände, um das Gesicht ihrer Tochter zu umfassen. Sie hatte nicht in Tränen scheiden wollen, aber jetzt konnte sie sie nicht niederkämpfen.

„Trau deinem Herzen, sell-nîn, und es wird’ nichts geben, was du fürchten musst. Versprich mir, dass du deinem Herzen folgst.“

Arwen hatte vor lauter Schluchzen ihre Stimme kaum in der Gewalt, aber sie sprach voller Aufrichtigkeit. „Ich verspreche es.“

Als sie ihre Arme um die Schultern ihrer Mutter schlang, drückte Celebrían ihre Tochter fest an sich, ohne zu zögern.

„Im mil le, nana.“

„Im mil le, goll, bain sell nîn," flüsterte Celebrían und hielt ihre Tochter ein allerletztes Mal in den Armen. „Es gibt kein Meer, das breit genug wäre, um das zu verhindern.“

*****

Viele Jahre später saß die Königin von Gondor in ihrem Studierzimmer, still in ein Buch vertieft. Der Frühling war nach Minas Tirith gekommen und die Balkontüren des Zimmers waren offen und ließen eine warme Brise herein.

Sie drehte eine Haarlocke zwischen den Fingern und summte abwesend vor sich hin. Einen Moment später wurde sie abgelenkt, als ein Vorhang sich im Wind blähte.

Sie begriff, dass sie sich schon viele Minuten lang nicht mehr auf ihr Buch konzentrierte, legte es auf den Tisch neben ihrem Sessel, riss sich aus ihrer Trägheit, stand auf und streckte sich. Ihr Blick schweifte von den flatternden Vorhängen über den Rest des Zimmers und blieb an einer Harfe in der Ecke hängen.

Wie lange ist es her? Es waren tatsächlich schon viele Monate vergangen, seit sie das letzte Mal gespielt hatte.

Aber die Melodie, die sich in ihrem Sinn bemerkbar machte, wollte nicht weichen. Immer noch summend ging Arwen langsam auf die andere Seite des Zimmers hinüber; als sie das Instrument erreicht hatte, streckte sie die Hand aus.

Sie ließ ihre Finger sachte über den Holzrahmen gleiten; die Linien waren ihr so vertraut! Sie setzte sich auf die kleine Bank und betrachtete die Harfe.

Sie schloss die Augen und musste nicht weit in ihrer Erinnerung suchen, um den Rest der Melodie zu finden. Ihre Finger schwebten knapp über den Saiten, sie bewegten sich vor und zurück, doch noch immer kam die einzige Musik von ihr selbst, als sie fortfuhr, vor sich hinzusummen.

„Naneth?" Arwen schaute auf und sah, wie ihre jüngste Tochter das Zimmer betrat; ein kleines Lächeln spielte um ihre Lippen. „Was tust du da?“

„Ich spiele, natürlich.“ erwiderte sie mit einem raschen Blinzeln.

Die junge Dame ließ das Buch, das sie mitgebracht hatte, auf einem Tisch liegen, kam herüber und setzte sich neben ihre Mutter.

Ebenso stark, wie Arwen ihrem Vater ähnelte, kam Elenna nach Aragorn; sie hatte das gleiche dunkelbraune Haar und die hellen Augen. Sie war die einzige ihrer Töchter, die noch daheim lebte, und doch war sie eine voll erblühte Edelfrau, hochgewachsen und schlank.

„Aber du berührst ja nicht einmal die Saiten!“ Die Prinzessin lächelte erneut, ja, sie lachte beinahe.

„Ich kann die Melodie in meiner Erinnerung hören, genau wie auf der Harfe.“

„Nun... darf ich sie dann auf der Harfe hören, nachdem ich nicht in deine Erinnerungen hineinschauen kann?“ neckte Elenna weiter.

Arwen neigte den Kopf und hob ihre Hände ruhig wieder zu der Harfe; sie atmete tief ein, als sie zu spielen begann. Die Melodie kam ganz leicht und natürlich. Sie hatte sie so lange nicht mehr gespielt; sie hatte gedacht, sie würde ihr das Herz schwer maxhen, aber jetzt fühlte sie sich leicht... so wunderbar leicht.

„Darf ich es versuchen?“ fragte ihre Tochter.

„Natürlich.“ Arwen ließ die Saiten los.

„Nein, bitte... du darfst auch weiterspielen.“ bat Elenna. „Ich möchte nur sehen, ob wir vielleicht zusammen spielen können.“

Das Gesicht der Königin leuchtete auf bei diesem unerwarteten Angebot. „Das würde mich freuen.“

Sie begann wieder zu spielen und fand auf der einen Seite der Harfe das Herz der Melodie. Elenna stimmte auf der anderen Seite mit ein; zuerst verbanden sich ihre Noten mit denen ihrer Mutter, aber nach ein paar Augenblicken wechselte sie zu einer anderen Harmonie, die überraschend auf der eigentlichen Weise aufbaute.

Die beiden Frauen spielten weiter, Punkt und Kontrapunkt, und das zusätzliche Thema verstärkte noch das Original. Nach langen Minuten verlangsamten sie das Tempo und brachten die Musik allmählich zu einer natürlichen Auflösung.

Arwen gab die letzte Note frei und ließ die Fingerspitzen noch einen Moment in der Luft schweben, bevor sie die Hände in den Schoß sinken ließ. Sie atmete langsam aus, immer noch voller Wärme lächelnd.

„Das klang wunderschön, nicht?“ sagte Elenna strahlend.

„Das ist wirklich wahr.“ antwortete ihre Mutter.

„Aber ich frage mich, ob wir uns jemals gut genug daran erinnern, um es noch einmal zu spielen?“

„Oh, du wärst überrascht, sell-nîn," sagte Arwen leise und legte ihrer Tochter einen Arm um die Schultern. „Du wärst überrascht, was über die Zeit hinweg sicher im Herzen bewahrt werden kann.“


ENDE


meleth-nîn = mein Liebster
herven = Ehemann
naneth = Mutter
nallach an i laer...? = Weinst du wegen des Liedes...?
sell-nîn = meine Tochter
im mil le, goll, bain sell nîn = Ich liebe, dich, meine weise, wunderschöne Tochter


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