Duett (Duet)
von Aratlithiel, übersetzt von Cúthalion

Teil 1: Merry
Serenade Mesto Sempre

Weißt du, ich habe dich heute gesehen. Ich meine nicht, dass ich irgendeinen schlanken, dunkelhaarigen Jungen gesehen habe, der mich an dich erinnerte, und dass ich mich selbst damit genarrt hätte, als ich es glaubte. Nein, ich sah dich. Du bist neben mir hergeschlendert, als ich am Ufer des Flusses entlang wanderte… ohne zu sprechen, ohne wirklich irgendetwas zu tun außer dazustehen, die Hände in den Taschen, und mich auf deine weiche, schräge Weise anzulächeln… und du hast mir das Herz gebrochen, in ungefähr eine Million Stücke.

Seit du fort gegangen bist, hast du mir das zahllose Male angetan, und trotzdem erhoffe ich mir jedes Mal, wenn ich am Fluss entlang spaziere, einen weiteren, kurzen Blick auf dich. Zu manchen Zeiten bin ich sogar mit Absicht gegangen, in der Hoffnung, dich durch meinen bloßen Wunsch heraufbeschwören… auch wenn ich weiß, was es in mir anrichtet, dich zu sehen. Es ist ein süßer Schmerz, und ich würde ihn für nichts eintauschen.

Jedes Mal, wenn ich in das Gesicht unseres jungen Vetters schaue, spüre ich den gleichen, scharfen Stich der Erinnerung. Den Tuk-Winkel von Kinn und Nase, der feine Schwung von der Wange nach oben zur Schläfe – all das dient dazu, dich mir ins Gedächtnis zu rufen, denn in diesem ernsten Gesicht sehe ich dein Spiegelbild. Ich sollte mich darüber freuen, dass so wenigstens ein Teil von dir hier geblieben ist, in ihm, aber stattdessen werde ich an  die Abwesenheit der anderen Hälfte meiner Seele erinnert – die Hälfte, die du mit dir über das Meer genommen hast.

Das Meer hat immer schon solch ein Wunder und solch eine Drohung für mich bedeutet. Jetzt verstehe ich, warum. Nun erfüllt es mich mit Verlust und einer Leere, die so weit ist, wie es sich ausdehnt. Ich habe nicht den Wunsch, es anzuschauen; ich will seine Stimme nicht Nacht für Nacht in den Ohren haben, wenn ich an dich denke. Ich will, dass Ebbe und Flut aufhören, dass der Mond von seinem Platz in der Nacht herunterfällt, dass die Sonne ihr Feuer kühlt und in Schande aus dem Himmel herabsinkt – denn du bist fort, und nichts ist, wie es sein soll.

Oh, ich vermisse dich so.

Ich wusste nie, dass es möglich ist, solchen Schmerz zu fühlen und dennoch zu leben; ihn Tag für Tag zu ertragen und dennoch imstande zu sein, Luft zu holen. In den merkwürdigsten Momenten stelle ich fest, dass ich mit den täglichen Geschäften des Lebens fortfahre und bin plötzlich überrascht, dass ich es kann. Ich mag mitten im Gespräch mit einem Händler sein oder so etwas, und plötzlich trifft es mich wie ein Schlag: Frodo ist fort und er kommt niemals zurück.

Oder vielleicht bin ich allein hinaus auf den Steg gegangen – einfach für ein wenig segensreiche Einsamkeit, oder um mir ein wenig Selbstbetrachtung zu gönnen. Dann lasse ich meine Füße seitlich über den Rand baumeln, so wie du es immer getan hast, ich lasse das Wasser meine Knöchel umspülen, höre zu, wie es ans Ufer rauscht und wie der Wind durch die Bäume flüstert.

Erinnerst du dich an den Steg, Vetter? Erinnerst du dich daran, wie viele goldene, fließende Tage wir mitten auf dem Fluss verbracht und so getan haben, als würden wir fischen? Ich lag auf der einen Seite, schloss die Augen und ließ mich von der Hitze und Ruhe des Tages davontragen. Du hast auf der anderen Seite gesessen, die Füße durch das Wasser gezogen und in die Träume hineingestarrt, die ein flinker Geist hinter deinen Augen spielen ließ.

Jetzt gehe ich allein dorthin und versuche, dich bei mir zu behalten, versuche zu glauben, dass dein Geist irgendwie noch immer neben mir wandert. Ich hänge meine Füße über den Rand und starre ins Leere, wie du es getan hast… mit dem Gedanken, ein paar von den Träumen wieder einzufangen, die aus deinem Herzen davon trieben, auf der Wasseroberfläche schwebten wie Nebel und eins wurden mit dem Fluss.

Du hast ihn zu einem Teil von dir gemacht, diesen grausamen Verräter – diesen Dieb von Liebe und Heimat. Du hast ihm sein unbefugtes Eindringen vergeben und ihn in dein Herz geschlossen,  ihn so vollkommen und anmutig hingenommen wie alles auf dem gewundenen Weg durch den gedämpften Strudel deines Lebens. Und du bist wiederum zu einem Teil von ihm geworden. Er zog die Hoffnungen - an die Träume des Jungen gebunden, der sie darbot - in sein wässeriges Herz, bewahrte sie sicher und wob sie in die Lande hinein, die er auf seiner Wanderung berührte. 

Also suche ich jetzt in diesen Wassern nach dir. Ich suche nach den Träumen, die du einst so freigiebig aus deinem Herzen in die schlammigen Tiefen des branntweinfarbenen Wassers hast fließen lassen. Ich beuge mich über die plätschernde Oberfläche und versuche dein Wesen einzufangen, das in der duftenden Brise spielt. Nur gibt es jetzt kein Gegengewicht auf der anderen Seite mehr, um das Floß am Umkippen zu hindern, und ich denke: Vorsicht jetzt, Frodo ist nicht hier, um dich wieder hinaufzuhieven, wenn du fällst. Und wieder trifft mich die Erkenntnis, dass du fort bist.

Du bist fort, und niemals werde ich dich wiedersehen.

Niemals mehr werde ich mit dir durch Felder aus hohem Gras ziehen, dem der Tau noch an den smaragdenen Spitzen hängt und uns in den ersten Strahlen einer rosengetönten Dämmerung die Augen blendet, die noch staubig sind vom Schlaf, und der uns bis über die Knie durchnässt. Niemals wieder werde ich in zufriedenen Schlummer davon treiben, während dein weicher Tenor mich mit Reim und Weise in die Träume singt. Niemals wieder werde ich aufstehen, während dein Gelächter aus der sonnendurchfluteten Küche von Beutelsend herüber klingt, während du mit Sam spaßt und das Frühstück für deinen Langschläfer-Vetter vorbereitest. Ich werde niemals… aber jetzt gibt es da viel zu viele Niemals.

Es ist mir nicht gelungen, dieses Wort Niemals zu begreifen. Ich wiederhole es für mich, in meinem Kopf, und laut, wenn ich alleine bin. 

Niemals. Niemals. Niemals.

Ich sage es wieder und wieder, bis mir das Wort tot und elend von der Zunge fällt und keinerlei Inhalt mehr hat, abgesehen von dem leeren Widerhall, der bei jeder Wiederholung durch mein Herz schlägt. Ich spreche es laut und hoffe, dass vielleicht irgendwann dieser Tage seine Bedeutung sich plötzlich vor mir entfalten wird und ich endlich verstehen werde, wie dieses kleine Wort eine Bresche in meine geringe Welt schlagen konnte, um sie dann zu zerbrechen.

Wie ist es möglich, dass die eine Person, ohne die ich nicht leben kann, von mir genommen wurde? Wie können die Mächte so grausam sein, mir das eine Ding zu rauben, das ich einfach nicht verlieren darf?

Ich schließe die Augen und sehe dein Gesicht vor mir, und ich höre deine Worte an mich, als wir uns aneinander geklammert haben, auf diesem salzumnebelten Pier. Bitte, Merry. Kannst du es verstehen? Kannst du’s versuchen? Ich schaute in deine bodenlosen Augen und wusste, dass es keinen anderen Weg für dich gab. Wusste, dich darum zu bitten, dass du bleibst wäre dich zu bitten, dass du stirbst. Hatte es wahrscheinlich schon gewusst, als ich mich in Minas Tirith an dir festhielt und dich anflehte, mir zu trauen… als ich dir versprach, dass ich einen Weg finden würde, dich zu heilen.

Und nun warst du da, und du flehtest mich wortlos an, zu begreifen, dass ich dich nicht heilen konnte, in deinen Augen ein Versprechen an mich, dass du deinen eigenen Weg finden würdest. Ich sah, wie die Sonne goldenes Braun auf dunklem Haar schimmern ließ und salzige Tränen auf aschgrauen Wangen in geschliffene Diamanten verwandelte. Ich weinte und nickte meine Einwilligung, sagte dir, dass ich verstand. Du hast ein weiches, bebendes Lächeln gezeigt und mein Nicken mit einem eigenen beantwortet…  aber natürlich hast du es gewusst. Du hast gewusst, dass ich es überhaupt nicht verstehe. Ich verstehe es immer noch nicht, aber ich versuch’s, ich verspreche es dir.

Ich kann noch immer deine Arme um mich spüren, wie wir uns an jenem Tag festgehalten haben. Dünner, als sie es sonst waren, und mit einem Zittern, das unter der angespannten Stärke vibrierte und das ruhige Gesicht Lügen strafte, das du uns allen zeigtest.

Hast du dich gefürchtet, Vetter? Hast du dir darüber Sorgen gemacht, dass das Segensreich vielleicht jemanden von erdgebundener Art nicht haben will? Hast du eine große Woge gefürchtet, riesig und nebelschwer, die dich gleichgültig vom Deck spülen und dich in die kochende See schleudern könnte, für deinen unverschämten Versuch, einen solchen Ort zu betreten?

Ah, aber ich hätte es dir sagen können – nicht eine Seele auf diesem Schiff hatte es mehr verdient, dort zu sein, als du. Ein Hobbit magst du gewesen sein, lieber Vetter, aber an die Erde gebunden warst du nicht. Ich glaube, ich fange jetzt endlich an, das zu begreifen. Du warst immer zu gut für diese Welt, und ich hätte in der Erwartung leben müssen, dass ich dich an irgendeine gewaltige Belohnung verliere – hätte wissen müssen, dass du eine Seele warst, zu hoch, um lange hier zu bleiben.

Aber ich wäre nie darauf gekommen, dass es auf diese Weise geschehen würde. Niemals hätte ich erwartet, dass die Belohnung für deine noblen Taten eher eine grausame Strafe sein würde für uns alle. Wir haben dich verloren und du… du hast alles verloren. Oh Frodo, es tut mir so Leid.

Deine Abreise, deine Fahrt, dein Leben – all das eine Studie der Gegensätze, genau wie du selbst es immer gewesen bist. Manche hielten dich für zerbrechlich, aber wehe jedem Geschöpf, das dachte, es könnte den eisernen Willen beugen, der hinter deinem sanften Äußeren verborgen lag. Der verwaiste Wanderer, und doch ein Sohn seines Landes und Liebhaber von Heim und Erde. Die fröhlichen Augen und die jugendliche Erscheinung, die eine Seele verhüllten, so tief und uralt wie die Zeit. Das Herz, das Vergebung fand für gierigen Verrat, und das doch nicht genug davon entdeckte, um seinen eigenen, verzweifelten Schmerz zu lindern.

Oh Frodo, hast du deinen Frieden gefunden? Haben sie dir geholfen, deinen Sieg über das Böse zu begreifen, das versucht hat, dir deine Seele zu rauben? Glaubst du es jetzt?

Ich möchte glauben, dass du geheilt bist. Ich möchte glauben, dass dich gehen zu lassen, den Kummer über deinen Verlust wert gewesen ist… über meinen Verlust. Ich muss es glauben, oder diese Leere, die ich an meiner Seite spüre - dort, wo früher du gestanden hast – wird von mir Besitz ergreifen und mir den Atem aus der Brust reißen, in einer Klage, die mit der Trauer in meinem sehnsüchtigen Herzen gegen den Himmel schlägt. Denn wie könnte ich weitermachen, wenn ich wüsste, dass dein letztes Opfer sinnlos war? Dass du alle verlassen hast, die du liebst, nur um allein und in Verzweiflung zu sterben und niemals deinen Triumph über das Böse zu begreifen, das versucht hat, dich zu versklaven?

Ah – ich kann es nicht ertragen, darüber nachzudenken. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass all die Großen, mit denen du fortgesegelt bist, es nicht zulassen würden, dass du weiter glaubst, versagt zu haben… dass sie nicht erlauben, dass du dich in deinem Herzen krümmst und dich selbst dafür strafst, dass dir die Kraft gefehlt hat, das Unmögliche zu vollbringen. Ich versuche, mich selbst davon zu überzeugen, dass sie für dich sorgen werden, dich pflegen, deinen Geist nähren, deine Seele wiederherstellen.

Aber dann erinnere ich mich daran, dass diese Großen genau dieselben sind, die deine Füße auf jenen Weg gestellt haben, der zu deiner Vernichtung geführt hat… und nun kann ich in meinem Herzen kein Vertrauen zu ihnen finden. Denn sie haben dich bereits einmal missbraucht, Vetter. Wie kann ich darauf bauen, dass sie es nicht wieder tun werden?

Pippin baut ganz sicher nicht darauf. Ich frage mich zuweilen, ob die Ringträger mit dir gesegelt sind, weil ihre Zeit gekommen war, oder ob sie einfach weise genug waren, unserem wilden Vetter zu entfliehen, ehe sein Tuk-Zorn über sie kam. Er denkt, dass sie dich geraubt haben; dass sie dich erst getäuscht und verraten haben, um dich dann allem zu entreißen, was du je gekannt hast.

Ich mache mir Sorgen um ihn.

Er glaubt, dass er dich bei sich trägt, indem er seinen Zorn allzeit wach hält; er holt ihn hervor und liebkost ihn, wenn der Schmerz zu groß wird, um ihn zu schultern. Dein Fortgehen missgönnt er dir nicht – das niemals. Der Gedanke, dass du vielleicht endlich deinen Frieden gefunden haben könntest, ist der einzige Trost, an den er sich klammert.

Eher hat er wohl in letzter Zeit entschieden, dass er wirklich ziemlich wütend auf Gandalf ist, und wahrscheinlich auf jeden Elb, den er je getroffen hat. Du würdest den Kopf schütteln und ihn scharf tadeln, Vetter, denn er ist, was diese ganze Angelegenheit angeht, reichlich störrisch. Das ist wahre Ironie, nachdem du der Einzige bist, der ihn je zur Vernunft hat bringen können. Aber keine Angst, Frodo, Lieber – Sam tut sein Bestes für Pippin, genau wie ich.

Sam… nun, Sam hat nicht den geringsten Zweifel, dass du die Ruhepause genießt, die du dir durch Blut und Opfergang verdient hast. Er hat einige Zeit dazu gebraucht, musst du wissen. Aber die Traurigkeit ist aus seinen Augen gewichen, und jetzt kann er sich voller Freude an dich erinnern und dein Andenken ehren, indem er das Leben lebt, das du ihm beschert hast. Er hat sich deine Abschiedsworte sehr zu Herzen genommen, und führt wahrhaftig das Leben, das dir versagt blieb. Ich weiß nicht, wo seine Zuversicht herrührt… aber ich wünschte mir so sehr, ich könnte sie teilen. 

Aber ich versuche es, Vetter. Jeden Tag stehe ich auf und denke darüber nach, was du dir von mir wünschen würdest, und dann versuche ich von ganzem Herzen, genau das zu tun.

Aber dennoch kann ich nicht verhindern, dass ich mit nicht geringer Vorfreude darauf warte, dass die Welt einmal zerbricht. Macht mich das zum Bösewicht, was meinst du? Dass ich mir die Zerstörung der Zeit höchstselbst wünsche, damit ich einmal mehr den Trost jener warmen Umarmung spüren kann, die so viele Jahre so sehr ein Teil meines Lebens gewesen ist, dass sie sich in meine Haut eingebettet hat? Dass ich mit Freuden dem Moment entgegensehe, da die Sterne ihren Tanz am Firmament einstellen, damit ich einmal mehr in die Augen schauen kann, in denen mein ganzes Leben hindurch die wahre Bedeutung von Liebe und Verwandtschaft lag?

Dann will ich ein Bösewicht sein, denn ich kann mir nicht helfen, ich freue mich auf den Tag, an dem die See stillsteht und die Himmel schreien, damit ich in deine Arme laufen und endlich den Abgrund in meinem Herzen ausfüllen kann, den deine Abwesenheit hinterlassen hat.

Und ich werde mich nicht dafür entschuldigen.

So gehe ich denn den Fluss entlang, mit dir an meiner Seite, deine Gestalt ein Nebel im Sonnenschein, und meine Gestalt, die sich danach verzehrt, die Hand auszustrecken und den Traum neben mir festzuhalten… aber ich wage es nicht. Ich möchte diese kleine Gunst nicht dadurch verlieren, dass ich gierig nach mehr verlange.

So richte ich stattdessen meinen Blick auf dein geliebtes Angesicht, und ich erwidere dein schräges Lächeln mit meinem eigenen.

Es ist ansteckend, dieses Lächeln. Ich habe ihm niemals widerstehen können.


Teil 2: Pippin
Lament Aubade da Berceuse

Du bist es, von dem ich geträumt habe. Ich bin mir sicher. Ich wachte auf mit einem Lächeln auf meinen Lippen und Wärme in meinem Herzen, und ich wusste, dass du es warst, der mich festhielt, gerade eben, bevor ich meine Auge, den ersten Fingern einer lavendeldunstigen Dämmerung öffnete. Ich wünschte nur, ich könnte mich erinnern – ich wünschte, ich könnte dein Gesicht sehen.

Ich muss dich sehen und wissen, dass du glücklich bist… geheilt. Ich muss wissen, dass ich dich nicht in ein seltsames Land habe ziehen lassen, nur, damit du dort deine Leiden unter Fremden ertragen musst. Ich muss es wissen.

Dich gehen lassen – ich könnte lachen, denn wann habe ich dich jemals irgendetwas tun lassen? Du hattest immer deinen eigenen Willen, geliebter Vetter, und das war mehr als alles andere unsere Rettung und unser Verderben. Denn dein Wille war es, der dich weiter durch das Schwarze Land kriechen ließ, als dein Körper nichts mehr wollte, als sich dem Tod zu unterwerfen, der deine Fersen umschmeichelte mit heuchlerischen Versprechungen von Rast und gesegnetem Schweigen.

Ich habe die Geschichte gehört, weißt du. Ich weiß, dass du mit jedem Schritt zu diesem abscheulichen Mittelpunkt alles Bösen hin einen Teil von dir selbst verloren hast. Wie du, entkleidet von allem, was du warst, nackt vor ihm gestanden hast, unfähig , selbst dein Herz vor ihm zu verhüllen, nun, da es dich in seinem Zentrum festgenagelt hatte. 

Ist es da geschehen? War es da, wo die Leere in deine Seele eingedrungen ist? War es da, wo dir klar wurde, dass du niemals zurückkommen kannst? Oder vielleicht schon vorher…war es, als du in dem Turm entblößt und hilflos vor Feinden mit rasiermesserscharfen Zähnen lagst, als du begriffen hast?

Ich frage nur, weil du scheinbar nicht überrascht warst. Als ob die Belohnung dafür, das größte Übel der ganzen Welt zu zerstören, die sein müsste, dich von deiner Heimat und deinem Volk zu trennen. Als ob den Willen der Weisen zu tun eine Rechtfertigung dafür wäre, alles zu verlieren, was du geliebt und wofür du gekämpft hast.

Du hast das alles mit einer Haltung hingenommen, die nicht begreifen konnte – nicht begreifen kann – nachdem alles, was ich wollte, war, irgendjemanden an der Kehle zu packen und zuzudrücken, bis sie die Traurigkeit aus deinen Augen fortnahmen und dich zurückbrachten zu mir.

Meine Tränen sínd nichts anderes als nutzlose Waffen, gegen die geschwungen, die dich mir weggenommen haben, aber ich vergieße sie trotzdem. Denn was für eine andere Wahl habe ich denn jetzt? Was für eine andere Zuflucht habe ich vor dem Schicksal, das dich so grausam benutzt hat, und dich dann allen und allem geraubt hat, was du liebst? Ein Schicksal, das Frieden und Heimat vor deiner Nase baumeln ließ, nachdem du getan hattest, was von dir verlangt worden war – nur um beides wieder außer Reichweite zu ziehen, als du endlich die Kraft aufgebracht hast, danach zu greifen.

Merry denkt, ich sollte dankbar sein – glücklich für dich, dass man dir die Chance auf den Frieden gestattet hat, den du so sehr verdient hast. Und das bin ich. Das bin ich wirklich.

Aber… oh Vetter… warum konnten sie dich nicht ganz einfach in Ruhe lassen?

Warum waren es deine schmalen Schultern, auf die diese Bürde fallen musste? Dein Herz war das feurigste und liebevollste, das ich je gekannt habe –weshalb wurde es dann ausgewählt, aus deiner Brust gerissen und dir vor Augen gehalten zu werden, während du in die Leere hineinweintest, die zurückblieb?

Deine Liebe und Weisheit hatte nicht ihresgleichen, und das widerwärtige Ding, das du getragen hast, wusste es… und hat es bei jeder Gelegenheit gegen dich verwendet. Es sprach leise zu dir davon, dass es uns erreichen wollte, damit du es dicht an dich zögst, damit du es in dein Herz ließest, deine Seele darum schlingen würdest, um uns zu beschirmen und dich an unserer Stelle verschlingen zu lassen.

Und ich frage mich, wie ich daneben stehen und zusehen konnte, wie es geschah.

Oh, natürlich tröste ich mich mit dem Wissen, dass ich einfach keine Ahnung hatte, dass es geschah… ich konnte nicht sehen was du unter der Liebe verborgen hieltest, die aus deinen Augen strömte und warm und spürbar in deiner Umarmung lag. Ich wusste es nicht. Ich wusste es nicht. Und ich glaube nicht, dass ich mir das jemals selbst vergeben werde.

Ich hätte es wissen müssen. Ich hätte sehen, hätte begreifen müssen. Denn siehst du, ich kenne dich. Und es hätte mir klar sein müssen, was du getan hast, wie du in jeder Sekunde, während es um deinen Hals hing, mit diesem monströsen Ding gerungen hast. Wie jeder Angriff seiner Bosheit auf die Verteidigung deiner Liebe traf, und oh Vetter… es muss erzittert sein, als ihm die Größe der Seele klar wurde, gegen die es angetreten war.

Ich hoffe, es hat dich am Ende gefürchtet. Ich hoffe, es hat geweint vor Angst, als du über die Schwelle dieser dunklen Tür getreten bist. Ich hoffe, es hat sich in Qualen gewunden, als die Flammen es verzehrt haben. Ich hoffe, es ist in Schmerz und Entsetzen gestorben, und dass es in seinen letzten Sekunden wusste, dass du derjenige warst, der es in seinen Untergang geführt hat. Ich hoffe, es hat dich am Ende seines üblen Lebens in deinem Licht und deinem Glanz gesehen… dass es in Schrecken krepiert ist angesichts der Schönheit dieser Seele, die es zu sehen bekam.

Ich hoffe, es hat gelitten.

Und mögen die Valar mir helfen, ich hoffe, dass die Weisen, die deine Füße auf diesen Weg gestellt haben, ebenfalls leiden mussten.  

Ich weiß, was du sagen würdest – dass ich nicht wütend sein soll, dass ich mein Herz besänftigen und vergeben sollte, dass Bitterkeit nur dazu dient, meinen Schmerz noch zu verlängern. Aber ich kann es nicht verhindern, dass ich vor lauter Wut auf diejenigen brenne, die dich auf deinen Weg gestellt und zugeschaut haben, wie dein leeres Herz schwankte, wie du geweint hast in der Leere deines Geistes. 

Am Ende hat es dich überwältigt – es hat dich zerschmettert, dich allem entkleidet und dich zurückgelassen, ausgehöhlt und verbraucht. Es hat deine Liebe genommen und zu Schuld verdreht, nahm deine Mut und erzählte dir, es wäre Stolz, nahm deine Stärke und verführte dich zu glauben, dass es Schwäche wäre.

Und sie ließen es geschehen.

Sie sahen zu, wie der Geist dir noch immer zuflüsterte, und sie taten nichts, um die Stimme zum Schweigen zu bringen, nichts, um den Schmerz zu lindern, nichts, um dir zu helfen – außer dich von Heim und Familie fortzureißen. Und ich will, dass sie den Schmerz fühlen, den ich jetzt fühle. Ich will, dass sie dir ins Herz schauen und den Kummer und die bodenlose Trauer sehen, die ich dort sah. Ich will, dass sie über den Schaden weinen, den sie jemandem zugefügt haben, der so edel und gütig war, dass sie – unsterblich oder nicht – nicht genügend Jahre leben konnten, um der Schönheit deiner sanften Seele gleichzukommen. Ich will, dass sie wissen, was sie getan haben.

Aber ich weiß, was du von mir wollen würdest, mein sanfter Vetter, und so versuche ich, meine Wut in Großzügigkeit zu verwandeln, meine Bitterkeit in Hinnahme. Ich versuche von ganzen Herzen zu glauben, dass du es so haben wolltest – das das Fortsegeln eine Belohnung für dich war und nicht die letzte, verzweifelte Handlung einer Seele, die alle andere Hoffnung verloren hatte.

Aber meine Welt ist farblos geworden, siehst du, erfüllt von grauen Schatten. Graue Zauberer, graue Gespenster auf grauen Schiffen, die in einen grauen Nebel davon segeln, und so macht es mir Mühe, die strahlenden Farbtöne der Wärme und Liebe zu sehen, die du zurückgelassen hast. Ich will nichts mehr, als mich in dem Auenland vergraben, das du uns hinterlassen hast – das Land, wo du gewandert bist, und das deine Fußspuren trägt. Ich will in diesen Fußspuren gehen, die Wärme deiner Arme um mich spüren, die Liebe schmecken, die aus jeder deiner Poren drang, während du hier unter uns gewandelt bist.

Und für kurze Augenblicke, wenn ich meinen Zorn beiseite legen, meine Bitterkeit unterdrücken kann – für kurze Augenblicke kann ich meine Augen schließen und dich spüren. Ich kann deine Arme um mich fühlen, wie sie mich fest an dich drücken, und oh Vetter, ich weine aus tiefster Seele, denn ich vermisse dich so sehr.

Sam versteht es besser, glaube ich. Weißt du, an jenem Tag sind wir in völligem Schweigen zurück geritten. Von Zeit zu Zeit habe ich Merry einen Blick zugeworfen und seinen angespannten Kiefer gesehen; seine Augen glitzerten von den Tränen, die er sich zu vergießen weigerte. Siehst du, er übernahm deinen Mantel der Anführerschaft. Du warst fort, und nun fiel die Bürde auf ihn; und er wollte sich den Tränen nicht überlassen, von denen wir alle wussten, dass sie da waren. Selbst damals war er entschlossen, dich stolz zu machen. 

Aber Sam… oh, Frodo. Es hat mir fast das Herz gebrochen, ihn so zu sehen. Seine Schultern zusammengesackt, sein Kopf, der ihm so weit herunterhing, dass ihm das Kinn fast auf der Brust ruhte. Aber seine Augen, Vetter. Seine Augen waren so leer wie Streichers Sattel. Ich hätte nie geglaubt, dass ich den Tag erleben würde, an dem Samwise Gamgee aller Hoffnung beraubt war.

Jetzt geht es ihm besser, glaube ich… wenigstens kommt es mir so vor. Er ist davon überzeugt, dass du das, was du nötig hast, auf der anderen Seite des Meeres gefunden hast, und ich bete, dass er Recht hat. Wie er das wissen will, kann ich nicht einmal raten, aber ich habe genügend Beweise für seine schlichte, erdgebundene Weisheit in meinem Leben gesehen, um ihn beim Wort zu nehmen.

Er sagt, du bist geheilt und im Frieden, und ich will es glauben. Ich glaube es. Er sollte es immerhin wissen, und ich sehe in seinen Augen, dass es ihm irgendwie gelingt. Ich glaube es. Ich tue es wirklich.  

Aber noch immer kann ich mir nicht helfen – ich will dich zurück.

Ich weiß, warum du uns nicht gesagt hast, dass du fort gehst… warum du versucht hast, uns zu entschlüpfen. Du hast gewusst: wenn einer von uns dich bittet, zu bleiben, wenn wir uns dir zu Füßen werfen und dich anflehen, nicht fort zu gehen, dann würdest du es nicht fertig bringen. Ich habe dich so sehr festgehalten, als ich dir Lebewohl gesagt habe, dass ich Angst hatte, dich in meiner Umarmung zu erdrücken. Ich hielt meine Tränen zurück, versuchte, tapfer zu sein, vergrub mein Gesicht in deinem Haar und atmete deinen Geruch ein, damit ich ihn bei mir behalten konnte. Ich lächelte, schaute dir kühn in die Augen… und log. Ich sagte dir, ich würde damit zurechtkommen.  

Aber möge mir der Himmel beistehen, Frodo – für einen wilden Moment war ich in Versuchung. Ich dachte daran, dich zu bitten, dass du bleibst, auch wenn ich die Folgen kannte. Für die Länge eines panischen Atemzuges war es mir gleich, was jedem von uns zustoßen mochte, solange es hieß, dass ich in diesem Moment nicht meinen Griff lösen und dir zuschauen müsste, wie du auf diesem verfluchten Geisterschiff von mir fortsegelst. Vergib mir, Vetter. Ich habe keine Entschuldigung, außer der, dass ich dir bis zu jedwedem Ende gefolgt wäre, wenn ich es bloß gekonnt hätte, und sei es auch nur, um dich davor zu bewahren, auch nur noch eine einzige Sache allein ertragen zu müssen.

Merry macht sich Sorgen um mich. Er sieht meine Wut und meint, er könnte mich zur Ruhe bringen, wie du es getan hast. Er denkt, ich würde mir eine harte Welt erschaffen, wenn ich sie nur durch den roten Nebel des Zornes sehe. Er begreift nicht, dass ich meinen Zorn brauche – ich brauche meine Tränen. Denn ohne sie treibe ich dahin und bin an die Trauer verloren, die mich umschließt.

Weißt du, ich habe immer erwartet, dass ich dich verliere. Irgendein Teil von mir hat gewusst, dass ich dich nicht lange festhalten kann, und dass ich jeden Moment mit dir als Geschenk annehmen muss. Und an diesen Momenten halte ich mich nun fest. Ich hole sie hervor und untersuche sie mit der Intensität eines Zwergen, der einen Edelstein schätzt. Ich halte sie ans Licht, sehe, wie die geschliffenen Flächen die Augenblicke unseres Lebens widerspiegeln und finde Freude in der Schönheit, die mir das Herz durchbohrt und mir in den Augen sticht.

Ich denke daran, wie ich in einer klaren Nacht im Gras lag, dein Arm warm um mich gelegt, während du zum Himmel gezeigt hast und in den Sternen Bilder maltest, mit Geschichten von Elbenkönigen und gerechten Schlachten. Ich denke daran, wie wir uns in schattigen Fluren versteckt haben und verzweifelt versuchten, uns nicht durch unser Gelächter zu verraten, während wir uns leise an Bilbos Tür und zur Speisekammer schlichen, wie Diebe in der Nacht. Ich denke an atemloses Gewirbel in sonnenhellem Gras, daran, durch die Luft zu fliegen wie ein freigelassener Vogel, und dennoch sicher im Kreis deiner kräftigen Arme um mich.

Ich denke an diese Dinge und lasse den Zorn aus mir heraussickern wie Nebel. Ich erlöse mein Herz von den Fesseln, die ich ihm auferlegt habe, und doch strömen mir die Tränen noch immer auf ihrem brennenden Weg zu meiner Seele über die Wangen.

Ich liebe dich so sehr und ich vermisse dich mehr, als ich zu sagen je die Worte finden könnte. Merry ist mein Herz, lieber Vetter, so wie ich seines bin. Aber du, Frodo… du warst unsere Seele. Und jetzt ist jeder Tag ein Kampf darum, eine neue zu erbauen, denn ich kann keine aus der Asche der alten wiedererstehen lassen, die dich stolz machen würde. Denn noch immer ist diese Asche verstreut, und sie schmeckt mir bitter auf der Zunge.

Aber stolz machen werde ich dich. Für dich werde ich mein Herz mit dem Schatz der Erinnerung an dich erleuchten, und das Leben, für das du soviel geopfert hast, um es mit in der ausgestreckten Hand anbieten zu können. Was kann ich anderes tun, als dir auf die Weise zu danken, die du dir gewünscht hast?

So gehe ich jede Nacht ins Bett und hoffe, dass ich von dir träumen werde. Ich klettere unter die dicken Steppdecken, schließe die Augen und erinnere mich an deine Stimme, die zu einem Jungen von Drachen und großen Kriegern sprach. Ich erinnere mich an dein Lachen, dass quer über den Himmel klang, während ein junger Vetter den Narren für dich spielte, nur damit er diese Musik hören konnte, die  so sanft und fröhlich über deine Lippen kam. Ich erinnere mich an dein Lächeln, langsam und schräg, aber weich und voll von bereitwilliger Freude. Ich erinnere mich an deine Augen, strahlend, feurig und voller Liebe, glühend von sanftem Humor… jung und gleichzeitig uralt. Ich versuche zu vergessen, wie sie aussahen, als sie aller Hoffnung beraubt waren, und wähle statt dessen, sie voller Feuer und Leben im Gedächtnis zu behalten. Denn ich weiß, das ist es, was du dir von mir wünschen würdest.

Und so lege ich mich jede Nacht hin, gehüllt in meine Erinnerungen, den Geist deines warmen Atems in meinem Haar. Ich nehme deine Hand und gehe mit dir durch die Wildnis von Bockenburg, in deinen Fußstapfen, und ich folge dem Pfad der Träume, die du hier vor so vielen Jahren geträumt hast. Ich lese die Wünsche auf, die du hier für mich verstreut hast wie unzählige Rosenblätter.

Du drückst meine Hand und ich schaue dich an und lächle. Du hast nichts gesagt, aber ich nicke trotzdem mit dem Kopf und antworte auf eine Frage, die du nicht gestellt hast.

Ja, liebster Vetter, ich will es versuchen.

Für dich will ich es versuchen.

ENDE

Serenade Mesto Sempre: Eine ehrenvolle Hymne, durchgehend traurig zu spielen
Lament Aubade da Berceuse: Klagendes Wiegenlied, am Morgen zu singen


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