Euch zu Diensten
von Lialathuveril, übersetzt von Cúthalion


Kapitel Zehn
Smaragdaugen  

Smaragdaugen mit hellem Schein
Zähne, wie Perlen fangen das Licht sie ein
Haar wie Onyx, ein Strom der Mitternacht
Ein Lächeln diamantengleich, bezwingende Macht

(Unbekannter Bewunderer: Lobgesang auf die Herrin Wilwarin)

Lothíriel mangelte es sicherlich nicht an Partnern. Éomer beobachtete amüsiert, wie ein gondoreanischer Herr, ein Freund von Elphir, Cadda dabei zuvor kam, eine Runde mit ihr auf dem Tanzboden zu drehen. Wie er selbst zeigte der Barde üblicherweise keinerlei Interesse am Tanzen, aber er schien ein freundliches Interesse an Lothíriel zu haben. Éomer hatte sie für den traditionellen Eröffnungstanz zur Partnerin gewählt, hatte sich danach aber dankbar auf die Seitenlinie zurückgezogen, um ein Glas Wein zu genießen, mit seinen Freunden zu plaudern und die Damen zu beobachten. Als Neffe des Königs der Mark war er dazu verpflichtet, die gondoreanischen Tänze zu beherrschen, aber sie hatten ihm nie wirklich gefallen. Da heute Abend Éowyns Verlobung gefeiert wurde, würden später allerdings auch ein paar Rohirric-Tänze gespielt werden. Die waren eine weit lebhaftere Angelegenheit, und er freute sich darauf – mit der richtigen Partnerin.

„Also, Éomer,“ sagte Faramir neben ihm und folgte seinem Blick, „nun, da du meiner Base begegnet bist, lass mich dir einen Ratschlag geben: lass dir von ihr nie irgendwelche Tiere aufschwatzen.“

Éomer stöhnte, als er Faramirs boshaftes Grinsen sah. „Du hast davon gehört,“ sagte er. Es war eine Feststellung, keine Frage.

Faramir lachte. „Éowyn hat mir alles darüber erzählt, aber ich muss zugeben, die Schnelligkeit, mit der das geschehen ist, hat selbst mich verblüfft. Ich dachte, ich würde die Möglichkeit haben, dich umfassend vorzuwarnen.“

Éomer zuckte die Achseln. „Gegen manche Dinge sind Warnung ohnehin nutzlos.“

„Wenn sie von der richtigen Laune gepackt wird, dann gleicht Lothíriel einer Naturgewalt,“ sagte Faramir zustimmend. Die beiden wechselten ein klägliches Grinsen.

Zwei Reihen Tänzer hatten sich nun gebildet, während die gemessenen Kadenzen eines gondoreanischen Hoftanzes die Halle erfüllten; die Männer verbeugten sich und die Damen knicksten. Es gab kurz etwas Verwirrung, als Lothíriel den ihr zugewiesenen Platz nicht fand. Éomer wäre vorgestürmt, doch Faramir legte ihm eine Hand auf den Arm und hielt ihn zurück.

„Schau zu.“

Ein halbes Dutzend Männer eilten zu ihrer Hilfe herbei, darunter ihre beiden Brüder. Éomer erwischte einen kurzen Blick auf Frau Annarima, die verärgert darüber aussah, derart von ihrem Ehemann im Stich gelassen zu werden. Dann wurde Lothíriel ihr Platz gezeigt, und der Tanz konnte weitergehen.

Faramir lachte. „Siehst du, wo andere Frauen Bewunderer sammeln, sammelt meine Base Fürstreiter.“

Éomer beobachtete interessiert, wie die Prinzessin die komplizierten Tanzschritte mit sauberer Präzision ausführte.

„Wie macht sie das?“ fragte er fasziniert.

Faramir nahm einen Schluck aus seinem Glas und betrachtete seine Base nachdenklich. „Schiere Entschlossenheit, denke ich. Ich erinnere mich, dass für eine Weile jedermann ein Brettspiel aus dem Süden spielte, das Schach genannt wurde. Sie ruhte nicht, bis sie imstande war, alle ihre Brüder darin zu schlagen. Mit dem Tanzen ist es das selbe. Lothíriel hat Stunden über Stunden damit verbracht, zu üben, entschlossen, ihrem Vater eine Freude zu machen. Sie kennt die Schritte auswendig, und sie erwartet einfach, dass man sich an der richtigen Stelle befindet – also sollte man das besser auch sein.“

Éomer nickte. Während sie mit ihm tanzte, war ihm die Prinzessin vollkommen entspannt vorgekommen; sie vertraute darauf, dass er sicherstellte, dass sie nicht mit einem der anderen Tänzer zusammen stieß. Er fragte sich, ob sie wohl die Rohirric-Tänze mögen würde, bei denen man seine Partnerin um die Mitte gefasst hielt und mit ihr über den Tanzboden wirbelte.

Faramir ließ den Wein in seinem Glas herum wirbeln und starrte darauf hinunter. „Ich hoffe, Lothíriel wird eine Weile in Minas Tirith bleiben können. Wer weiß, sie könnte vielleicht sogar jemanden kennen lernen und sich hier niederlassen.“

Éomer hob eine Augenbraue. „Ist sie nicht reichlich jung dafür?“

„Ja und nein. Die Sache ist die: sie wird von ihrer Familie unterschätzt. Ich glaube, sie wäre ziemlich gut imstande, einen kleinen Haushalt zu führen, wenn sie einen geringeren Edlen heiratet. Dort unten in Dol Amroth hat sie mich an einen Vogel erinnert, den man in einem goldenen Käfig hält.“

„Aha! Also war es deine Idee, dass Éowyn sie bittet, ihre Trauzeugin zu werden?“

„Ich habe im letzten Winter einen Besuch unten in Dol Amroth gemacht,“ erklärte Faramir. „Lothíriel sprach von ihrem Wunsch, nach Minas Tirith zu kommen, aber es stellte sich heraus, dass Imrahil es eisern ablehnte, sie herkommen zu lassen.“

Er warf Éomer ein Grinsen zu. „Allerdings hat der Ruf deiner Schwester alles über den Haufen geworfen.“ Éomer grinste zurück. Die an Ehrfurcht grenzende Bewunderung, die man Éowyn hier in Gondor entgegen brachte, verfehlte es nie, ihn zu belustigen. Bezwingerin des Hexenkönigs oder nicht, er hatte sie zu oft erlebt, wenn sie schmutzig und schlampig aussah, um anders an sie zu denken als an seine kleine Schwester.

„Das Pferd war aber Éowyns Idee,“ fügte Faramir hinzu. „Ich wusste nichts davon, oder ich hätte dich gewarnt. Auf einem Pferd ist Lothíriel absolut furchtlos, sogar nach allem, was geschehen ist.“

Éomer zögerte einen Moment, doch dann trug seine Neugier den Sieg davon. „Was ist geschehen? Sie hat einen Unfall erwähnt.“ Faramirs Gesicht verdunkelte sich. „Ja, vor acht Jahren, hier in Minas Tirith. Ich vermute, dass es in gewisser Weise mit dem Tod ihrer Mutter anfing. Beruthiel war so heiter und schön, und als sie an einem Fieber starb...“ Er seufzte. „Für eine Weile schien Imrahil fort zu gehen. Er war körperlich hier, aber nicht geistig. Es ist schwer zu beschreiben.“

„Ich weiß, was du meinst,“ unterbrach ihn Éomer. Allzu gut erinnerte er sich an die Trauer seiner Mutter über den Tod seines Vaters. Sie war einfach dahin gewelkt, unwillig oder unfähig, gegen die Krankheit anzukämpfen, die ihr endlich das Leben nahm.

„Lothíriel raste vor Kummer, sie wurde immer leichtsinniger und hörte auf niemanden,“ fuhr Faramir fort. „Dann forderte Amrothos sie eines Tages zu einem Rennen auf dem Pelennor heraus, und sie setzte sich in den Kopf, Sturmwind zu reiten, Imrahils Schlachtross.“

„Was geschah dann?“

„Ich war zu der Zeit fort, mit einem Spähtrupp. Doch nach dem, was ich gehört habe, geriet das Pferd in einem Kampf mit einem anderen Hengst um eine Stute. Es warf Lothíriel ab, und sie prallte mit dem Kopf gegen einen Felsen. Zuerst dachten die Heiler, sie hätte sich einfach einen Arm und ein paar Rippen gebrochen, aber als sie das Bewusstsein wieder erlangte, hatte sie ihr Augenlicht verloren. Niemand weiß, wieso.“ Er runzelte die Stirn. „Die Wachen am Tor hätten sie natürlich aufhalten sollen, aber sie schmeichelte sich ihren Weg an ihnen vorbei. Mein Onkel war außer sich vor Wut auf sie, auf die Stallburschen, auf Amrothos, auf den Hengst... weißt du, er ließ Sturmwind töten.“

„Was!“

Faramir seufzte. „Lothíriel weinte sich die Augen aus, als sie davon hörte, und sie weigerte sich lange Zeit danach, mit ihm zu reden. Ich denke, Imrahil war am zornigsten auf sich selbst. Aber wenigstens brachte ihn das zurück. Und dann hatten wir natürlich auch noch diesen ganzen Ärger mit den Haradrim.“ Er biss sich auf die Lippen, als hätte er mehr gesagt als beabsichtigt.

„Was haben denn die Haradrim damit zu tun?“

Faramir zögerte. „Du musst verstehen, das waren verzweifelte Zeiten. Mein Vater hoffte, ein Bündnis mit Harad zu schmieden, und er hatte ihrem König eine passende Braut für einen seiner Söhne angeboten...“

Éomer traute seinen Ohren nicht. „Lothíriel? Sie hat doch sicher nicht ihr Einverständnis dazu gegeben? Wie denn auch, sie kann ohnehin nicht älter als zwölf Jahre gewesen sein!“ Er zwang sich, seine Hände zu entspannen, die sich unwillkürlich zu Fäusten geballt hatten.

„Die Ehe wäre nicht gleich vollzogen worden,“ sagte Faramir abwehrend, und dann schüttelte er den Kopf. „Du hast Recht. Ich weiß nicht, wieso ich noch immer versuche, die Handlungen meines Vaters zu rechtfertigen. Ich vermute, der Plan entsprang seiner wachsenden Verzweiflung, nur, dass er den Haradrim als passende Braut keine blinde Prinzessin anbieten konnte. Als Imrahil davon erfuhr, geriet er in Streit mit meinem Vater und brachte Lothíriel heim nach Dol Amroth; er schwor, sie würde niemals nach Minas Tirith zurückkehren.“

Der Anblick seiner Schwester, die mit Arwen lachte, fing Éomers Blick ein. Hätte er Éowyn geopfert, um sich Frieden mit den Dúnländern zu erkaufen? Er musste nicht einen einzigen Moment über die Antwort nachdenken. Machte die Tatsache, dass er sie lieber bis zum letzten Mann bekämpfen würde, anstatt Éowyn in diese Art Sklaverei zu verkaufen, ihn zu einem geringeren König? Er glaubte es nicht.

„Weiß Lothíriel davon?“ fragte er.

„Ich denke nicht, dass sie es zu jener Zeit tat.“ Faramir zuckte die Achseln. „Doch ich bin sicher, sie hat hinterher den ganzen Klatsch darüber gehört.“

Éomer schüttelte ungläubig den Kopf. „Imrahil hätte doch sicher nicht bei diesem Plan mitgemacht?“

„Mit einem unterzeichneten Vertrag, den zu brechen Krieg mit den Haradrim bedeuten würde? Oder noch schlimmer, Unfrieden in Gondor selbst – ich weiß es nicht.“ Éomer sah, dass sie Faramirs Finger immer fester um den Stiel seines Glases schlossen, bis sie weiß waren. „Das war es, worauf mein Vater zählte, weißt du. Für das Wohl von Gondor benutzte er jedermann auf harte Weise, und sich selbst am allerhärtesten. In gewisser Weise hat Lothíriel an jenem Tag Glück gehabt.“

Glück? Diese Gondoreaner hatten eine merkwürdige Vorstellung von Glück.

„Ach, du meine Güte!“ rief in diesem Moment hinter ihm eine Frau leise aus, und Éomer wirbelte herum, als seine Instinkte einmal mehr in den Vordergrund traten.

Hinter ihm befand sich allerdings kein Feind, sondern die Herrin Wilwarin. Als sie ihn entdeckte, schaute sie ihn flehend an.

„Oh, mein König, würdet Ihr wohl so freundlich sein, mir zu helfen?“

Sie war mit ihrem Kleid am Bein eines der Sessel hängen geblieben, die man für die älteren Gäste aufgestellt hatte. Éomer befreite es ohne jede Schwierigkeit und wurde mit einem strahlenden Lächeln belohnt.

„Ich danke Euch so sehr, dass Ihr zu meiner Rettung herbei geeilt seid“, sagte die Herrin Wilwarin. Ein kleiner Fächer baumelte von ihrem Handgelenk herab; jetzt klappte sie ihn auf und fächelte sich zu. „Es ist so heiß hier drinnen, meint Ihr nicht? Ich dachte daran, einen Spaziergang im Garten zu machen.“ Sie warf ihm aus dem Augenwinkel einen einladenden Blick zu.

Neben ihm hüstelte Faramir. „Ich denke, Éowyn möchte mich sehen,“ entschuldigte er sich mit einem belustigten Blick auf die beiden. Éomer trat vor und bot der Herrin Wilwarin seinen Arm. „Darf ich Euch begleiten?“

„Bitte tut das!“

Ein leichtes Kopfschütteln zu seinen Wachen hielt sie davon ab, ihm aus der Halle zu folgen. Immerhin war er gut imstande, selbst auf sich Acht zu geben. Sie gingen durch eine der schmalen Seitentüren hinaus, die in gleichmäßigen Abständen auf der gesamten Seite der Halle verteilt waren. Draußen sprenkelten Dutzende kleiner, bunter Lampen die Gärten der Veste, und sie waren nicht die einzigen, die die gepflasterten Pfade entlang schlenderten, die zwischen Blumenbeeten und niedrigen Büschen hindurchführten. Als Éomer aus dem Lager herauf geritten war, hatte er Wolken bemerkt, die sich über den Bergen im Westen auftürmten, aber im Augenblick war die Luft lind und still.

„Sollen wir einen Spaziergang an der Mauer entlang machen?“ schlug die Herrin Wilwarin vor.

Éomer willigte ein, und sie nahmen einen der kleineren Wege; er führte zu einer Treppenflucht, die in den Stein der großen Mauer gehauen worden war, die die Veste umgab. Die Stufen waren uneben, und an einer Stelle stolperte die Herrin Wilwarin und musste sich an seinem Arm festhalten.

„Wie ungeschickt von mir!“ lachte sie.

Er nahm sie beim Ellenbogen und half ihr die letzten Stufen hinauf. „Nicht im geringsten,“ versicherte er ihr. Die zarte Seide ihres Ärmels streifte an seinen Fingern entlang.

Eine niedrige Brüstung verlief an der gesamten Länge des Mauerweges entlang; sie lehnten sich dagegen und genossen einen weiten Ausblick über den Pelennor und jenseits davon auf den Anduin, der wie ein Band aus flüssigem Silber im Mondlicht glitzerte.

Er warf der Frau neben sich einen verstohlenen Blick zu. Ein erlesenes Profil; sanft geschwungene Brauen, eine kleine, schmale Nase, ein anmutiges Kinn und Lippen, die sich zu einem bezaubernden Lächeln formten. Sie nahm einen tiefen Atemzug, und der Smaragdanhänger, der auf ihrer makellosen, weißen Haut ruhte, funkelte in dem gedämpften Licht.

„Ist das nicht schön?“ fragte sie.

„Ja,“ stimmte er zu; allerdings dachte er nicht so sehr an den Ausblick.

Das kleine Lächeln, das um ihre Lippen spielte, schien sich zu vertiefen. „Ist es möglich, von hier aus Euer Lager zu sehen?“

Éomer deutete hinaus auf die Straße, die vom Haupttor zum nördlichen Tor des Rammas Echor führte. „Es liegt dort, an der Straße. Ihr könnt einen Kreis aus Lagerfeuern sehen.“

Wieder hielt sie sich an seinem Arm fest, stellte sich auf die Zehenspitzen und lehnte sich dichter an ihn, um einen besseren Halt zu haben. Ihr Kleid streifte seine Beine. „Ach ja, ich denke, ich kann es erkennen!“

Sie lächelte ihn an. „Mit welcher Wärme wir heute in Eurem Lager empfangen worden sind! Marschall Elfhelm hat mir so viel Spannendes über die Geschichte von Rohan erzählt!“

Éomer hatte sich gewundert, worüber die beiden sich so lange unterhielten. „Ihr seid an solchen Dingen interessiert?“

„Oh, ich bin keinesfalls eine Gelehrte,“ lachte die Herrin Wilwarin. „Ich fürchte, ich bin nicht klug genug. Das überlasse ich den Männern. Doch Ihr müsst stolz sein auf das Haus, dem Ihr entstammt.“

Das Haus Eorls, dachte er, und er war der letzte Abkömmling. Mit einer eleganten Geste ihrer Hand wies sie auf die Felder, die sich unter ihnen erstreckten. „Minas Tirith wäre an den Feind gefallen, wenn Ihr nicht zu unserer Rettung herbei geritten wärt.“ Sie blickte zu ihm auf, ihre großen, grünen Augen voller Bewunderung.

Éomer erinnerte sich an die Schlacht und den Preis, den er an diesem Tag gezahlt hatte und blickte beiseite. „Wir haben nur unsere Eide erfüllt.“

„Ihr habt nur Minas Tirith gerettet, ihr habt nur Sauron besiegt...“

Sie schien entschlossen zu sein, einen Helden aus ihm zu machen. Éomer schüttelte den Kopf. „Das haben wir nicht.“

Für einen Moment schaute die Herrin Wilwarin verblüfft drein. „Was meint Ihr damit, das habt Ihr nicht?“

„Frodo der Halbling hat Sauron besiegt. In Wirklichkeit waren wir nichts als ein Köder, um den Feind abzulenken. Zu unserem Glück vernichtete Frodo den Ring, bevor die Klammern der Falle sich ganz über uns geschlossen hatten.“

„Oh!“ Sie wandte sich ab und blickte wieder über den Pelennor hinaus. Hunderte von Lagerfeuern sprenkelten die Weite der Felder unter ihnen; ein Spiegelbild der Sterne über ihren Köpfen.

„Man sagt, der Ausblick vom Sitz Eurer Ahnen, Edoras, sei auch großartig,“ nahm die Herrin Wilwarin das Gespräch nach einer kurzen Pause wieder auf.

Éomer dachte einen Moment darüber nach. „Das ist wahr. Nach Süden habt Ihr den Ered Nimrais, die Weißen Berge, und nach Norden erstrecken sich unsere Graslande, so weit Ihr sehen könnt. Und der Wind...“ Ganz plötzlich fühlte er sich, als müsse er in der stillen Luft rings um sie her ersticken, und er dachte mit Sehnsucht an die reine, kalte Bergluft seiner Heimat. Sie seufzte. „Wie gut Ihr Euer Heimatland beschreibt. Ich wünschte, ich könnte kommen und es sehen.“

„Vielleicht werdet Ihr das eines Tages?“

Ein plötzliches Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus und gab seinen höflichen Worten mehr Bedeutung, als er beabsichtigt hatte.

„Vielleicht,“ stimmte sie leise zu. Sie hob ihm ihr Gesicht entgegen, die Lippen ganz leicht geöffnet; die Luft war so still, dass er den feinen Moschusduft ihres Parfums erspüren konnte. Sie stand sehr dicht vor ihm. Die Welt schien auf diesen Ort und diesen Zeitpunkt zusammen zu schrumpfen.

Ein Ausbruch grölenden Gelächters drang aus dem Garten hinter ihnen und brach den Zauber. Éomer trat einen Schritt zurück und blickte sich um. Eine Gruppe junger Edelleute hatte sich um einen der kleinen Springbrunnen versammelt, die über den Garten verteilt waren. Einer von ihnen war soeben ins Wasser getunkt worden und fluchte heftig, während die anderen ihn umstanden und lachten.

Éomer wandte sich an die Herrin Wilwarin. „Sollen wir zurück gehen?“ schlug er vor. Die Sprache, die das unglückselige Opfer benutzte, konnte man nur als unpassend für die zarten Ohren einer Dame bezeichnen.

Sie senkte die Augen und stimmte mit leiser Stimme zu, aber für einen Moment kam es Éomer so vor, dass ein jäh aufblitzender Zorn über ihr Gesicht flackerte. Er schüttelte den Kopf. Sicherlich bildete er sich das nur ein.

Sie gingen an der Mauer entlang, wo eine weitere Treppenflucht zum Hintereingang von Merethrond hinunter führte. Gerade, als sie die Halle durch die großen Doppeltüren betreten wollten, blickte Éomer über seine Schulter zurück. Die Gruppe aus jungen Edelleuten war weiter gezogen, aber es schien ihm, als würde er kurz eine Frau in einem Kleid von heller Farbe erspähen, die den Hauptweg entlang schlenderte, auf das Ende des Gartens zu. Etwas an der zierlich gebauten Gestalt kam ihm vertraut vor. Er runzelte die Stirn, tat die Sache aber dann als Zufall ab. Lothíriel konnte unter gar keinen Umständen die einzige Frau sein, die an diesem Abend ein hellblaues Kleid trug, und sie würde jetzt nicht ganz allein im Garten sein, oder nicht?

Nichtsdestotrotz verspürte er eine leichte Unruhe, als er die Prinzessin nirgendwo unter den Tänzern finden konnte, und als er Amrothos auf der anderen Seite der Halle entdeckte, entschuldigte er sich bei der Herrin Wilwarin, um zu ihm zu gehen und mit ihm zu reden. Allerdings wusste auch Amrothos nicht, wohin seine Schwester verschwunden war.

Er gestikulierte in Richtung Menge. „Lothíriel hat den ganzen Abend getanzt, sie wird hier schon irgendwo sein. Oder, was noch wahrscheinlicher ist, Vater hat sie bereits nach Hause gebracht.“

Éomer runzelte angesichts seines unbekümmerten Tonfalles die Stirn. Kurz erwog er, sich auf die Jagd nach Imrahil zu machen, um zu sehen, ob sich Lothíriel tatsächlich schon zurück gezogen hatte, aber seine Unruhe wurde rasch immer größer. Ganz plötzlich entschied er, dass er nicht die Zeit dazu hatte und drehte sich auf dem Absatz um.

Draußen war alles still. Die wenigen Paare, die die Gartenwege entlang schlenderten, betrachteten ihn überrascht, als er vorbei hastete, aber in seiner wachsenden Besorgnis, dass der Prinzessin etwas zugestoßen war, achtete er nicht auf sie. Er hatte sich vom gondoreanischen Adel teilweise keine gute Meinung gebildet. Würden diese jungen Edelleute es vielleicht komisch finden, einer blinden Frau einen Streich zu spielen? Lothíriel hatte für einen Tag genug durch gemacht, er wollte nicht, dass sie noch weiter verstört wurde. Als er den kleinen Springbrunnen erreichte, wo er die Gruppe zuletzt gesehen hatte, zeugten nur noch die Wasserpfützen auf dem Boden von der Tatsache, dass sie überhaupt da gewesen waren. Er erinnerte sich an die Ausblick von der Mauer und nahm eine Abkürzung zu der Treppenflucht, die dort hinauf führte.

Die Blumenbeete und Büsche erstreckten sich friedlich und still vor ihm im Mondlicht, als wollten sie seine Sorge verspotten. Keine der Damen, die er mit ihrer Begleitung die Pfade entlang spazieren sah, trug ein hellblaues Kleid. Vielleicht hatte er am Ende überreagiert? Doch er würde sich noch ein wenig weiter entlang der Mauer umschauen – nur, um sicher zu sein.


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