Kapitel Sechs
Winterhauch
Feuerfuß
Mütterliche Linie: Aschenfell von Heerspalter, geboren von Wildfeuer, Wildfeuer von Paarhuf, geboren von Dämmerlicht
Väterliche Linie: Flügelfuß von Schwarzhuf, geboren von Morgendunst, Schwarzhuf von Blitzbein, geboren von Schatten
(Auszug aus dem Königlichen Stutenbuch in Edoras)
Prinzessin Lothíriel stolperte, und Éomer hielt sich gerade noch rechtzeitig davor zurück, sie am Arm zu packen. Sie hatte darauf bestanden, dass sie vollkommen imstande sei, allein zu laufen, aber das Lager der Rohirrim, auf einem grasigen Gelände im Norden des Pelennor aufgeschlagen, hatte sich für sie als schwer gangbar erwiesen. Der Boden war uneben und von kleinen Grasbüscheln bedeckt. Auch hatte Éomer nie zuvor das Ausmaß an Ramsch bemerkt, der um die Zelte verteilt lag, angefangen mit einem verloren gegangenen Stiefel bis zu Wäscheleinen, die geradezu gefährlich waren. Und was die Pferdeäpfel anging...
Allerdings besaß sie einen dünnen, eleganten Gehstock, den sie mit schwingenden Gesten vor sich hin und her bewegte, um im Gehen nach Hindernissen zu tasten, und er musste zugeben, dass sie ziemlich geschickt damit umging.
„Ich fürchte, es ist ein ordentlicher Spaziergang,“ entschuldigte er sich.
Sie stolperte über einen weiteren Stein, der auf dem Pfad lag. „Das macht mir nichts aus.“
Éomer nahm sie sanft am Ellenbogen und steuerte sie um ein paar Spannseile herum, die ein Zelt hielten. „Hier entlang.“
„Es scheint ein sehr großes Lager zu sein."
„Meine Schwester ist sehr beliebt,“ erklärte er, „und viele meiner Landsleute haben beschlossen, an ihrer Hochzeit teilzunehmen.“
„Hier in Gondor ist sie auch sehr beliebt.“ Die Prinzessin lächelte. „Jeder redet über ihre Tapferkeit während des Krieges. Ihr müsst stolz auf sie sein.“
Éomer dachte an jenen Moment, als er seine Schwester auf dem Schlachtfeld gefunden hatte; tatsächlich war die Stelle nicht weit von ihrem Lager entfernt.
„Ja, sie ist sehr tapfer,“ antwortete er.
Er hatte gedacht, er hätte seine Stimme gleichmäßig gehalten, und doch musste die Prinzessin irgend etwas gehört haben, denn plötzlich blieb sie stehen. „Faramir ist ein guter Mann,“ sagte sie nach einem kurzen Zögern, „und er liebt Eure Schwester. Ich bin sicher, er wird alles tun, was er kann, um sie glücklich zu machen.“
Als er nicht sofort antwortete, wurde sie rot. „Es tut mir Leid, mein König, ich weiß, es geht mich nichts an.“
„Nein, Ihr habt Recht,“ beeilte Éomer sich ihr zu versichern, „und ich bin zutiefst dankbar, dass meine Schwester jemandem zum Heiraten gefunden hat, den sie so sehr liebt.“
Mit einem innerlichen Seufzer dachte Éomer an seine eigenen Bemühungen in diese Richtung. Obwohl er zahlreiche passende Jungfern getroffen hatte, seit er nach Minas Tirith gekommen war, stellte er fest, dass er zögerte, sich an irgendeine von ihnen zu binden. Sehr lange würde er das allerdings nicht mehr herausschieben können; die Riddermark brauchte eine Königin. Elfhelm und seine anderen Ratgeber erinnerten ihn ständig an die Notwendigkeit eines Erben für das Haus von Eorl.
Die Prinzessin setzte sich wieder in Bewegung und schenkte ihm ein scheues Lächeln. „Faramir kam uns im Winter in Dol Amroth besuchen, und alles, worüber er sprechen konnte, war Eure Schwester, ihre Schönheit und ihre Tapferkeit. Es ist ganz klar, dass es sich hier nicht nur um ein politisches Bündnis handelt.“
Sie klang leicht wehmütig, und plötzlich fragte sich Éomer, ob wohl irgendeine passende Verbindung für sie geplant war. Jemand aus Dol Amroth vielleicht - doch sicher nicht in ihrem Alter?
Er nickte, und dann musste er sich daran erinnern, dass sie ihn nicht sehen konnte. „Das ist wahr, aber ich hoffe auch, dass es unsere Länder näher zusammen führen wird.“
„Mein Vater hofft das auch.“
„Ich weiß, ich habe mit Imrahil darüber gesprochen. Ich fürchte, die Gefahren haben nicht mit dem Ringkrieg ein Ende genommen.“
„Also ist es wahr, dass wir vielleicht bald wieder nach Süden in den Krieg ziehen müssen?“ fragte sie. „Meine Brüder scheinen das zu glauben.“
Er hatte sie für ziemlich behütet gehalten und war überrascht zu hören, dass sie diese Frage stellte. „Ich glaube es auch,“ gab er zu, „obwohl ich denke, dass es ein paar Jahre dauern wird, ehe wir wieder zu den Waffen greifen müssen. Deshalb ist es so wichtig, die Zeit zu nutzen, die uns gegeben ist, um das Bündnis zwischen Gondor und Rohan zu stärken. Statt einem großen Feind werden wir uns vielen kleinen gegenüber sehen, und wir müssen zueinander stehen.“
Es war eine Angelegenheit, die ihn schon so manche schlaflose Nacht gekostet hatte, und ihm wurde klar, dass er sich ein wenig hatte hinreißen lassen.
„Es tut mir Leid,“ sagte er reuevoll, „ich wollte keine Rede halten.“
Sie lächelte. „Oh, das macht mir nichts aus. Ich glaube sowieso, dass Ihr Recht habt."
Éomer seufzte. „Manche meiner Landsleute sind nicht meiner Meinung. Sie wollen die Dinge so regeln, wie wir es in der Vergangenheit immer getan haben, und sie denken, wir kommen allein zurecht.“
„Ich bin sicher, es wir Euch gelingen, sie zu überzeugen,“ stellte sie mit ruhiger Zuversicht fest.
Ihr Vertrauen in ihn rührte Éomer. „Ich hoffe es, und ich hoffe auch, dass meine Freundschaft mit Aragorn und die Heirat meiner Schwester zu engeren Banden zwischen Rohan und Gondor führen wird.“
Sie mussten jetzt den schmalen Fußweg verlassen und sich zwischen den Zelten hindurch schlängeln, um den kleinen Pferch zu erreichen, wo das Pony weidete. Er half ihr, einen Holzbottich voller Geschirr zu umrunden, das im Wasser einweichte.
„Ich habe noch weitere Pläne, um unser Bündnis zu stärken.“
„Habt Ihr das?“ Sie schien nicht überrascht zu sein, aber es kam ihm so vor, als würde der Schatten eines Gefühls über ihre Züge huschen, zu kurz, als dass er es richtig ausmachen konnte. Er hatten schon vorher bemerkt, dass sie ein offenes, ausdrucksvolles Gesicht besaß, und dass sie nie ganz gelernt hatte, es zu beherrschen.
„Ja,“ erwiderte er, „aber wir haben nicht vor, eine Ankündigung zu machen, ehe Éowyns Hochzeit vorüber ist.“
„Wir?“ fragte die Prinzessin.
Doch wie sich herausstellte, kam er nie dazu, ihr von den Wegestellen zu erzählen, die Aragorn und er die gesamte Große Straße nach Westen entlang bauen wollten, um noch stärker zwischen ihren beiden Ländern Handel zu treiben... denn er sah, dass sie geradewegs auf ein Seil zwischen zwei Zelten zusteuerte.
„Prinzessin Lothíriel!“ rief er hastig.
„Ja?“ Sie blieb stehen und drehte sich zu ihm um.
„Würdet Ihr mir einen großen Gefallen tun?“
Die Prinzessin runzelte verwirrt die Stirn. „Ja, natürlich.“
Der Gedanke ging ihm durch den Kopf, dass es nicht viele Frauen geben konnte, die genauso antworten würden, ohne zu fragen, was dieser Gefallen beinhaltete.
„Würdet Ihr meinen Arm nehmen? Ich würde das als großen Gefallen betrachten, weil ich Fürst Imrahil nicht wirklich erklären möchte, wie Ihr an ein blaues Auge gekommen seid.“
Sie zog überrascht die Brauen hoch, dann fing sie an zu lachen. „Bin ich in Gefahr, mir eines zuzuziehen?“
„Ich fürchte, ein Lager ist eher eine gefährliche Umgebung, mit all den Seilen, die überall herumliegen.“
„In diesem Fall will ich das freundliche Angebot Eures Armes annehmen, mein König," sagte sie ernsthaft. Von diesem Moment an senkte sie gehorsam den Kopf, wenn er es ihr sagte.
„Es wäre sowieso nicht das erste blaue Auge,“ scherzte sie.
„Nein?“ Passten ihre Brüder eigentlich anständig auf sie auf?
„Amrothos hat mir einmal aus Versehen eines verpasst,“ erklärte sie, „aber das war sowieso vor dem Unfall. Wisst Ihr,“ fügte sie mit einem lachenden Beben in der Stimme hinzu, „ich fände großes Vergnügen daran, Euch zuzuhören, wie Ihr meinem Vater erklärt, wieso ich eins habe.“
„Ihr würdet es vielleicht genießen,“ gab er zurück, „aber ich nicht, also seid bitte gnädig mit mir.“
Sie erreichten den Pferch, wo Galador angebunden war und wurden von Éomers Knappen begrüßt. Oswyn war voller Missbilligung gewesen, als er zuerst mit seinem neuen Schützling konfrontiert wurde, aber das erste, was Éomer auffiel, war, dass das Pony wesentlich besser aussah. Es war offenbar gründlich gestriegelt worden, Mähne und Schwanz waren gestutzt und geflochten. Obwohl seine Rippen noch immer hervorstachen, sah es nicht mehr so elend aus wie am Abend zuvor.
„Prinzessin Lothíriel, das hier ist Oswyn, mein Knappe,“ stellte Éomer den jungen Reiter vor. „Er kümmert sich im Augenblick um das Pony.“
„Oh!“ Sie schaute leicht befremdet drein. „Mir war nicht klar, dass Euer Knappe das würde tun müssen. Ich fürchte, es wird eine Menge Arbeit sein.“
Éomer starrte sie an. Deutete ihr Ton an, dass sie von ihm erwartet hatte, das Pony selbst zu striegeln?
„Ich war sehr beschäftigt,“ begann er, nur um den Satz abzubrechen. Was war los mit ihm? Dachte er wirklich, er müsste sich vor der Prinzessin rechtfertigen? Immerhin hatte der König der Riddermark wichtigere Dinge zu tun, als sich um dieses armselige, kleine Geschöpf zu kümmern.
Die Prinzessin schien sich das auch wieder ins Gedächtnis zu rufen, denn Farbe flutete ihr in die Wangen. Sie streckte Oswyn die Hand entgegen. „Ich freue mich, Euch kennen zu lernen,“ sagte sie. „Darf ich einen Blick auf Galador werfen?“
„Ja natürlich, meine Herrin,“ erwiderte sein Knappe; er war offensichtlich beeindruckt, einer echten Prinzessin zu begegnen.
Er führte das Pony zu ihr herüber und wieder streichelte die Prinzessin ihm den Kopf und klopfte ihm dann sanft den Hals.
„Sein Fell ist schon so viel glatter,“ rief sie freudig aus und wandte sich dem Knappen zu. „Der arme Galador kann Euch nicht selbst danken, aber ich werde es tun,“ sagte sie mit ihrem strahlenden Lächeln.
„Oh, es ist gar keine Mühe,“ stammelte Oswyn und lief vor Glück knallrot an.
Éomer sah belustigt zu, wie sein Knappe dem Zauber der Prinzessin erlag. Der arme Oswyn war ein guter Reiter und ging ausgezeichnet mit Pferden um, aber seine schlaksige Gestalt und seine hervorspringende Nase bedeuteten, dass er bei den Mädchen nicht sehr beliebt war. Dass eine hübsche Frau ihn auf diese Weise anlächelte, war ganz offensichtlich eine neue Erfahrung für ihn.
„Ich habe auch seine alten Hufeisen entfernen und ersetzen lassen und ihm die Augen mit Kamillentee ausgewaschen,“ bot der Knappe an. „Er wird im Handumdrehen wieder kräftig sein.“
Éomer verzichtete großmütig drauf, darauf hinzuweisen, dass Oswyn die Rettung des armen Tieres als völlige Zeitverschwendung bezeichnet hatte, und dass „räudige Mähre“ noch eines der freundlicheren Schimpfworte gewesen war, mit denen er es belegte.
Galador hatte an der Hand der Prinzessin geschnüffelt und wandte sich jetzt Éomer zu. Mit einem Seufzer holte er aus einer Tasche eine der Leckereien, die er immer bei sich trug. Es war eine alte, verschrumpelte Karotte, aber das Pony fraß sie mit offensichtlichem Vergnügen und stupste ihn auf der Suche nach Nachschub an. Anscheinend hatte schon ein einziger Tag mit genügend Futter seine Lebensgeister deutlich gehoben.
Éomer nickte dem Knappen zu. „Könntest du Frau Éowyn mitteilen, dass wir hier sind, und die Pferde herbringen?“
Oswyn rannte gehorsam davon, und Éomer wandte sich zu der Prinzessin zurück. Sie achtete überhaupt nicht auf ihn, sondern ließ ihre Hände über den Rücken des Ponys und seine Seiten hinunter gleiten. Während er ihre eleganten Finger beobachtete, die Galadors Fell streichelten und die liebende Besorgnis in ihrem Gesicht sah, fragte er sich einmal mehr, was ihn am vorigen Abend geritten hatte, dass er ihr anbot, das Pony zu nehmen. Mehr noch, vor einer Weile hatte er die Möglichkeit gehabt, es wieder loszuwerden, und er hatte sie nicht ergriffen.
Das Pony fing an, ihre Zuwendung langweilig zu finden und drehte sich zu Éomer um; es versetzte ihm einen Schubs, in der Hoffnung, dass er ihm eine weitere Leckerei zusteckte.
„Komm nicht zum Betteln zu mir,“ murmelte Éomer und gab ihm einen Klaps. „Deine wahre Wohltäterin ist dort drüben.“
Bei diesen Worten blickte die Prinzessin auf. „Das stimmt nicht!“
Sie streichelte langsam den Hals des Ponys. „Ich nehme an, Ihr haltet mich für närrisch, einen solchen Aufstand wegen einem armen Geschöpf wie diesem zu machen,“ fügte sie zögernd hinzu.
„Nun...“
„Ich weiß, mein Vater und meine Brüder tun es, aber sie lassen mir meinen Willen, weil ich blind bin,“ sagte sie mit einiger Bitterkeit.
Éomer wusste nicht, was er antworten sollte, aber sie wartete ohnehin nicht auf eine Antwort.
„Die Sache ist, ich kann nicht einfach vorübergehen, wenn ein anderes Geschöpf leidet. Ich bin nicht so tapfer und stark wie Ihr und Eure Schwester, ich kann keine Kriege austragen oder Drachen erschlagen, aber ich will meinen kleinen Beitrag leisten.“
Sie schniefte trotzig und wandte das Gesicht ab.
Éomer war gerührt. „Nun, wisst Ihr, ich habe den Krieg nicht gewonnen,“ sagte er sanft. „Frodo der Halbling hat es getan. Und wenn ich jemals einem Drachen entgegen treten müsste, dann würde ich wahrscheinlich auf das nächstbeste Pferd springen und mich aus dem Staub machen.“
Darüber lachte sie, ganz, wie er es beabsichtigt hatte.
„Unsinn! Der Drache würde sich aus dem Staub machen.“
Éomer hatte das Gefühl, dass sie es tatsächlich so meinte.
In diesem Moment kam Éowyn heran geritten, Oswyn im Schlepptau. Sein Knappe führte Feuerfuß, Éomers eigenes Pferd, und eine hübsche graue Stute, die er als eines der Rösser seiner Schwester erkannte. Éomer nickte Éowyn anerkennend zu. Besonnen, mit sicherem Tritt und ruhigem Gemüt, war die Stute zu leicht gebaut, um einen Krieger in die Schlacht zu tragen, aber als Reittier einer Dame würde sie gut taugen.
„Hier ist jemand, von dem wir möchten, dass Ihr sie kennen lernt,“ sagte er zu der Prinzessin.
Seine Schwester schwang sich von Windfola herunter und kam zu ihnen. Feuerfuß, der seinen Herrn erkannte, kam ebenfalls heran getrabt; in seinem Eifer schleifte er Oswyn halb hinter sich her.
Éomer grinste. „Ich denke, mein eigenes Pferd will Euch zuerst kennen lernen.“
Er nahm den Hengst beim Halfter und kraulte ihn unter den Stirnlocke, genauso, wie er wusste, dass es Feuerfuß gefiel. „Prinzessin Lothíriel, das ist Feuerfuß, mein treuer Gefährte.“
Die Prinzessin streckte zögernd eine Hand aus, und der große Graue senkte den Kopf und schnaubte laut.
„Benimm dich, sie ist eine Freundin,“ sagte Éomer warnend auf Rohirric, aber die Prinzessin lachte bloß und streichelte die samtene Haut seiner Nase.
„Er ist groß,“ sagte sie staunend, als sie sich nach oben recken musste. „Ich glaube, er ist fast noch größer als Flügelfuß, das Pferd meines Vaters.“
Beim Klang ihrer Stimme ließ der Hengst seine Ohren nach vorn spielen. Die Prinzessin schien sich nicht im Mindesten vor ihm zu fürchten und wich nicht von der Stelle, als er sie auf der Suche nach einem Leckerbissen anstupste. Éomer zog hastig einen Apfel aus seiner eigenen Tasche, bevor Feuerfuß sie versehentlich umwarf. Es würde nicht viel nötig sein, dass das geschah.
„Er mag Euch,“ stellte er fest.
„Die Ehre ist ganz auf meiner Seite. Ich mag Hengste.“
Éomer warf ihr einen raschen Blick zu. Er kannte zahlreiche Frauen in der Mark, die diese Bemerkung mit einem anzüglichen Augenzwinkern quittiert hätten. Allerdings spiegelte das Gesicht der Prinzessin nichts als unschuldiges Interesse an seinem Pferd wider. Er fing einen belustigten Blick von seiner Schwester auf und spürte, wie er sich leicht verfärbte.
Er räusperte sich. „Wie auch immer, dieser Vielfraß ist tatsächlich nicht das Pferd, das Ihr kennen lernen sollt.“
Seine Schwester führte die graue Stute zu ihnen herüber. „Das ist Winterhauch.“ Sie nahm sanft ein Hand der Prinzessin in ihre eigene und legte die Zügel hinein. „Sie gehört dir.“
„Was?“ stammelte Prinzessin Lothíriel.
Éowyn lächelte angesichts ihrer Überraschung. „Sie ist ein Geschenk von uns.“
„Oh!“ hauchte die Prinzessin, und ein Ausdruck der Sehnsucht huschte kurz über ihr Gesicht. Doch dann schüttelte sie den Kopf. „Ich kann sie unmöglich annehmen,“ sagte sie fest. Allerdings fiel Éomer auf, dass sie die Zügel nicht losließ.
„Bitte tu es,“ sagte Éowyn. „Ich darf doch sicher meiner Trauzeugin ein Geschenk geben. Das ist in Rohan so Tradition.“
Éomer hob eine Augenbraue, denn obwohl das durchaus der Wahrheit entsprach, bestand das traditionelle Geschenk üblicherweise aus einem kleinen Schmuckstück, wie einem hübschen Ring oder einer Brosche. Dies war wirklich ein königliches Geschenk, und obendrein eines, das schon eine ganze Weile geplant worden war. Er hatte sich damals gewundert, wieso sich Éowyn entschlossen hatte, ausgerechnet dieses Reitpferd mitzunehmen, obwohl sie ausschließlich Windfola ritt.
Die Prinzessin schwankte sichtlich. „Ich bin nicht sicher...“
„Es ist auch ein Zeichen der andauernden Freundschaft zwischen Dol Amroth und der Mark,“ unterbrach Éomer glatt. „Wieso gebt Ihr ihr nicht einen Apfel?“ fügte er hinzu, holte einen weiteren aus seiner Tasche und reichte ihn der Prinzessin.
Anders als Feuerfuß hatte die Stute sehr hübsche Manieren und nahm ihn säuberlich entgegen; ihre Nüstern streiften kaum die Hand der Prinzessin. Éomer wusste, dass - nach dem Ausdruck auf Lothíriels Gesicht zu urteilen - die Stute soeben eine neue Besitzerin gefunden hatte.
„Ich danke Euch so sehr,“ flüsterte sie. Dann wandte sie sich zu Éowyn und streckte blind die Hände aus, um sie zu umarmen.
„Du hast keine Idee, wie glücklich mich das macht. Und die Tatsache, dass du es bist, die sie mir geschenkt hat, bedeutet, dass Vater auch keine Möglichkeit haben wird, Widerspruch einzulegen.“
Éowyn tätschelte ihr ein wenig unbeholfen den Rücken. „Es freut mich, dass sie dir gefällt.“
„Wenn Euer Vater keinen Platz in seinen Ställen hat, könnt Ihr sie in der Zwischenzeit erst einmal hier lassen,“ bemerkte Éomer, obwohl er für sich dachte, dass Imrahil wahrscheinlich weit bereitwilliger einen Platz für die Stute finden würde als für den armen Galador.
Lothíriel nickte, drehte sich wieder zu ihrem neuen Reittier um und streichelte es.
„Was für eine Farbe hat sie?“
„Die Farbe Eures Atems an einem kalten Wintermorgen; daher hat sie auch ihren Namen Winterhauch, von dem, was wir Dämmergrau nennen,“ erklärte Éomer. „Ein ganz helles Grau, das sich an den Hanken* entlang weiß verfärbt. Sie hat eine weiße Fessel, aber die anderen Beine sind dunkler und eher aschgrau. Die Mähne ist sogar noch dunkler, tatsächlich ist es fast ein Rauchgrau. Auch ist ihr Kopf nicht wirklich dämmergrau, dafür ist er ein wenig zu blass; ich denke, Ihr würdet es eher silbergrau nennen.“
Er hielt inne, als er ihren belustigten Gesichtsausdruck bemerkte. „Mit anderen Worten, sie ist grau,“ kommentierte die Prinzessin trocken. Hinter ihm versuchte Éowyn erfolglos, ein Lachen zu ersticken.
„Ja,“ musste er zustimmen.
Die Stute wandte interessiert den Kopf, während die Prinzessin ihre Hände über ihren gesamten Hals und ihre Beine hinunter gleiten ließ. Als sie ihren Rücken erreichte, hielt Lothíriel überrascht inne.
„Winterhauch trägt einen Sattel!“
Éomer dachte, es sei nur gerecht, dass er wieder Boden gewann. „Das ist das, was man üblicherweise mit Pferden macht: man reitet sie,“ antwortete er.
„Sie reiten? Jetzt? Oh, darf ich?“ rief sie aus.
Éowyn lachte, „Selbstverständlich darfst du das. Deswegen haben wir ja unsere eigenen Pferde mitgebracht. Ich dachte, wir könnten alle zusammen ausreiten. Ich sitze sowieso schon zu lange in diesem Lager fest; es wird nett sein, ein bisschen heraus zu kommen.“
„Liebend gern,“ stimmte die Prinzessin eifrig zu, aber dann zog sie ein langes Gesicht. „Ich fürchte allerdings, ich kann nicht.“
„Wieso denn nicht?“ fragte Éowyn.
Sie deutete auf das Kleid hinunter, das sie trug. „Ich trage keinen Reitrock, weil ich keinen brauche, wenn ich im Sattel hinter meinem Bruder sitze. Das ist einfach ein normales Kleid.“
Éomer hatte die geschlitzten Reitröcke gesehen, die die Damen hier in Gondor auf dem Pferderücken trugen; er hielt sie für elegant, aber nicht für schrecklich praktisch. Allerdings verzichtete er darauf, das zu sagen.
„Tragt Ihr denn keine Beinkleider unter Eurem Rock?“ fragte er.
Der Prinzessin stieg das Blut in die Wangen, und ihm ging zu spät auf, dass man dies auch als eine höchst unanständige Frage auffassen konnte.
„Was ich damit sagen wollte,ist, dass Éowyn Euch sicher etwas borgen könnte, das darüber passt,“ versuchte er zu erklären.
„Ja, ich bin sicher, uns fällt schon etwas ein,“ stimmte seine Schwester zu; ihre Stimme bebte nur unmerklich. Sie hängte sich bei der Prinzessin ein und nickte Éomer zu. „Du gehst vor und siehst, ob von unseren anderen Gästen jemand auch noch mitkommen möchte. Wir sehen uns dort.“
Nachdem er seine Befehle empfangen hatte, ging der König von Rohan hin, um zu tun, wie ihm geheißen.
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*Hanken - reiterlicher Fachausdruck für Hinterteil, Schenkel und Sprunggelenk eines Pferdes; ich möchte mal annehmen, dass er dem König eines Reitervolkes geläufig ist.
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