Diebstähle (Thefts)
von Ruby Nye, übersetzt von Cúthalion

„Du stiehlst mir meinen Vetter!“ beschimpft Merry Onkel Bilbo, die Hände zu Fäusten geballt. Bis jetzt ist Bilbo Merry’s liebster älterer Verwandter gewesen; er bringt immer fremde, köstliche Süßigkeiten mit und von Zwergen gemachtes Spielzeug, und er erzählt die aufregendsten Geschichten. Aber jetzt hat er sich wie in einer Geschichte in einen Schurken verwandelt und nimmt ihm die beste Person in seinem Leben weg.

„Merry!“ Frodo fällt auf die Knie und legt die Hände um Merrys Arme. „Merry, man kann mich nicht stehlen, ich bin kein Ding.“ Seine Augen sind geweitet und ernst, seine Hände sind warm. „Ich werde jetzt bloß in Hobbingen leben; ich komme zu Besuch zurück.“ Merry möchte ihm glauben, aber hinter ihm steht Bilbo, die Arme vor der Brust verschränkt, und der Karren, auf dem sich Frodos Habseligkeiten türmen.

„Nein, tust du nicht! Du kommst nie wieder zurück! Und mir... mir ist es EGAL!“ Merry windet sich aus Frodos Griff und rennt wieder nach drinnen, schluchzend und blind vor Tränen.

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„Du hast mir meinen Vetter gestohlen“, sagt Merry mit einem schrägen Grinsen und drückt Sam nach hinten gegen die Küchenwand. Merry ist ein gut gebauter Bursche, aber Sam könnte ihn mit einer Hand niederschlagen. Merry weiß das; er weiß auch, dass Sam es nie tun würde, und er sieht, obwohl Sam rot wird wie ein reifer Apfel und die Augen scheu niederschlägt, dass er ein kleines, echtes Lächeln auf dem Gesicht trägt. „Weißt du, er redet die ganze Zeit von dir. Sam dies und mein Gärtner das und der Beste von allen Gamdschies.“

Sam schüttelt den Kopf, aber seine Schultern sind nachgiebig und warm unter Merrys Händen. „Ich möchte Bescheid wissen über die Talente von diesem Gamdschie,“ sagte Merry und warnt ihn gründlich vor, und als er sich vorbeugt, erwidert Sam den Kuss mehr als eifrig.

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„Du hast mir meinen Vetter gestohlen“, denkt Merry; er weiß nicht, zu welchem Vetter er das sagen soll. Er sitzt aufrecht gegen das Kopfende von Frodos Bett gelehnt, die Luft um ihn herum kühl und leer; Frodos Arme sind um Pippin geschlungen, der voll und ganz um ihn eingerollt liegt, und sie sind friedlich eingeschlafen und wunderschön, und sie brauchen Merry kein bisschen.

Merry betrachtet ihre Locken, miteinander auf dem Kissen verwirrt, und er erwägt, aufzustehen und sich in ein anderes Schlafzimmer zu verfügen, Kerzen anzuzünden und zu lesen. Er schaut zu, wie sie atmen, seine Brust eng und schmerzend, und er denkt darüber nach, wie viel näher Buckelstadt an Hobbingen liegt als Bockland an beidem, und er streckt die Hand aus, um die Decke zurückzuschlagen.

Frodo rührt sich. Sein Arm fällt über Merrys Beine. „Wie scheußlich kalt“, murmelt er. „Merry, komm her.“

Merry atmet. Er schlüpft hastig unter die Decke, schlingt seine Glieder um Frodo und hakt seinen Fuß hinter Pippins Knie. Ihm wird warm, innen und außen. Merry schließt die Augen und lächelt.

*****

Niemand hat Pippin gestohlen, oder vielleicht hat er das selbst besorgt. Gandalf hat ihn mitgenommen von einer Gefahr in die andere, und Merry ist zurückgelassen worden, um zuzusehen, wie sie fort gehen, die Fäuste geballt, Zornestränen in die Augen, die kurz davor sind, überzufließen. Pippin jetzt zu verlieren, nach allem, was sie gemeinsam überlebt haben, Gefangennahme und Orks und Fangorn, nach all dem, was sie gesehen und miteinander geteilt haben während ihrer Zeit mit den Ents, durch seine eigene Neugier, seine eigene Narrheit... Als Aragorn ihm eine als Trost gedachte Hand auf die Schulter legt, schnappt Merry: „Da geht er hin! Anstatt dass man ihn selbst in einen Stein verwandelt, damit er für immer als Warnung hierbleibt!“

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„Du hast mir meine Vettern gestohlen“, flüstert Merry in den düsteren Himmel; er weiß, dass niemand ihn hört. Der weiße Marmor des Balkons scheint unter dem dräuenden Schatten schäbig und verwischt zu sein; Éowyn schläft und Merry sollte das wahrscheinlich auch tun, aber alles, was er tun kann, ist ostwärts zu schauen, zu wachen und zu warten. Pippin ist mit Aragorn und Gandalf und dem Heer des Westens marschiert; Frodo ist ins Herz der Finsternis gegangen, Sam hoffentlich noch immer bei sich, und wird Merry irgendeinen von ihnen wiedersehen? Seine Augen schmerzen, genau wie sein Herz, und er reibt sie sich mit dem Ärmel und schaut zum trüben Horizont und ringt darum zu hoffen.

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„Du hast mir meinen Vetter gestohlen und nebenbei noch meinen guten Kameraden,“ neckt Merry die neue Frau Gamdschie, die zu einem passenden, tiefen Rosa errötet, während sie lächelt. Sam wird auch rot, seinen Arm in freudiger Besitzergreifung um Rosies Mitte gelegt, und Merry grinst und gibt ihm einen Klaps auf die Schulter. Sie sind durch Feuer und Dunkelheit gekommen, unter dem Schatten des Todes hervor, und nun stehen sie beieinander im Sonnenschein, und an Wundern und Entzücken herrscht kein Mangel.

Merry drückt Sams Schulter fester und zieht ihn in eine handfeste Umarmung hinein. „Reichlich Segen für Euch beide“, sagt er und küsst Rosie die Hand, und hinter dem glücklichen Paar strahlen Frodos Augen ihn an wie Sterne.

*****

„Du hast mir meinen Vetter gestohlen“, würde Merry schreien, aber das davonsegelnde Schiff würde nicht umkehren, obwohl er es laut genug brüllen könnte, um den Himmel zu erschüttern. Und es würde Sam nicht trösten, der zwischen ihm und Pippin steht und zu tief trauert für Tränen und der zusieht, wie Frodo, den sie alle lieben, sie verlässt, auf dem Weg zu Heilung und Frieden. Merry weiß, Frodo wird das Licht jenseits des Horizonts erreichen, aber hier in den Anfurten schrumpft der Schimmer des Schiffes in sich zusammen, ein Stern, der bleich in der Finsternis versinkt.

Pippin greift an Sams Rücken vorbei nach Merrys Hand. Ihre Finger verschränken sich, ihre Arme halten Sam aufrecht und alle drei beobachten gemeinsam, wie das letzte Licht endlich vergeht.


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