Bitterer Mai
von Cúthalion

Frühling 1419

Ihr Körper weiß es, lange bevor Seele und Verstand die Wahrheit erkennen. Er ist während jener letzten Tage im Februar taub und erstarrt; jede einzelne Nacht ein endloser, kräftezehrender Kampf gegen die Bilder in ihrem Kopf und die erstickende Erinnerung an seine Hände auf ihrer Haut und sein erdrückendes Gewicht auf ihrem Leib.

Lily hört seinen neuen, prahlerischen Titel, mit gedämpften Stimmen gemurmelt, wenn die Leute sich in der fragwürdigen Sicherheit ihrer Smials im Licht einer Lampe zusammen drängen, aber für sie hat er keinen Namen. Er ist ein dunkler Schatten in ihrem Herzen, eine keuchende, brutale Gegenwart in ihren Träumen, ein Albdruck, der in ihr schmerzendes Fleisch hineinstößt. Sie nimmt ein Bad nach dem anderen, sie schrubbt sich Arme und Beine, bis ihre Haut rot und wund ist, aber die Erinnerung kann sie nicht fortwaschen.

Und sie ist so allein wie noch nie zuvor... der Hobbit, den sie liebt, ist gegangen und kommt wahrscheinlich niemals wieder, Amaranth - an die sie sich auf der Suche nach Trost und Verständnis gewandt haben würde - liegt seit mehr als zwei Jahren auf dem Friedhof von Hobbingen begraben. Ihre Mutter... nein. Viola kann ihr nicht helfen, und nur die Tatsache, dass sie und die Jungen in Bockland in Sicherheit sind, verschafft ihr wenigstens einen kleinen Trost.

Sie kann ihrem Vater nicht davon erzählen. Sie hat beschlossen, es ihm zu verschweigen, sofort, noch in der Nacht nach der Tortur im Studierzimmer von Beutelsend... um ihn zu schützen und seinen zerbrechlichen Seelenfrieden zu bewahren. Er kann sie nicht verteidigen; er kann keinerlei Strafe für das Verbrechen fordern, das an seiner Tochter begangen wurde. Ihr Geist schreckt vor dem bloßen Gedanken zurück, was der „Baas“ tun könnte, wenn Fredegar Stolzfuß auch nur den bloßen Versuch unternehmen sollte, nach Gerechtigkeit zu suchen.

Sie hat den Februar überstanden und sich durch den größten Teil des März gekämpft. Das Nächste, was sie nun mit aller Macht zu vergessen sucht, ist jener Frühlingsmorgen, als ihre eigenartige Gabe ganz plötzlich wiederkehrte und sie in ihrem Garten zusammenbrach, von Flammen eingeschlossen, die an einem weit entfernten Ort brannten. Nein, sie kann Frodos Stimme an diesem Tag nicht gehört haben. Nein, nicht einmal Rosies Freude kann mehr gewesen sein als ein trügerischer Traum.* Sie werden nie nach Hause kommen, weder Herr noch Gärtner, und niemand wird sie je wieder Meleth-nin nennen.

Der April bringt endlich die lang erwartete, sanfte Wärme; Folcos Brieftaube fliegt regelmäßig zum Gutleib-Smial, und Lily muss ihre Runden nicht länger alleine machen. Folcos Freundschaft fühlt sich an wie ein unerwarteter Silberstreif am Horizont; wenn er sie anschaut, sieht sie in seinen Augen nichts als Zuneigung und Respekt, und an manchen Tagen reicht allein seine Gesellschaft aus, um ihr das Atmen leichter zu machen.

Dann kommt der erste Morgen im Mai, mit goldenem Sonnenschein und zahllosen Vögeln, die den Tag mit schrillen, fröhlichen Stimmen grüßen. Lily erwacht von ihrem freudigen Lied; sie setzt sich auf und stellt fest, dass sie lächelt... aber dann fängt das Zimmer an, sich um sie zu drehen. Speichel steigt ihr in die Kehle hoch und füllt ihren Mund, und sie stolpert zum Nachtopf hinüber und erreicht ihn gerade noch rechtzeitig, bevor sie anfängt zu würgen.

Sie kniet auf dem Boden, ihr Haar ein zerzauster Vorhang rings um ihr Gesicht. Ihre Haut fühlt sich eisig kalt an.

Keine Blutung im März. Keine Blutung im April. Dieses schwache Ziehen in ihren Brüsten. Süßer Eru, ihre Brüste! Sie sind stärker gerundet als zuvor, die Brustwarzen überempfindlich. Wenn es irgend eine andere Frau gewesen wäre, sie hätte die Botschaft ihres Körpers sofort entschlüsselt. Und ihr eigener Körper hat versucht, ihr die Wahrheit zu sagen, die ganze Zeit.

Nein! schreit ihr Geist, und sie öffnet den Mund, um ihrem wahnwitzigen Schrecken eine Stimme zu geben, aber es kommt nichts heraus als ein wimmerndes Stöhnen. Sie krümmt sich zusammen; sie bebt von Kopf bis Fuß und ihre Zähne schlagen aufeinander.

Herrin der Sterne, nein! Nicht das!

*****

Sie hört, wie sich ihr Vater in seinem Zimmer rührt, und den schwachen Klang von Krücken, die in einer anderen Welt über den Boden schrammen, aber das reicht aus, um sie von dem furchtbaren Ort zurück zu holen, an dem sie gewesen ist. Sie streckt die Hände aus, findet die beruhigende Festigkeit der alten Holztruhe und zieht sich mühselig hoch. Endlich steht sie wieder auf den Beinen. Sie beißt sich auf die Lippen... sie kneift sich in die Wangen... sie wendet den Blick vom Spiegel ab, aus Angst, beim bloßen Anblick ihres blutleeren Gesichtes den Verstand zu verlieren. Sie geht aus dem Zimmer und klopft leise an die Tür von Fredegars Schlafzimmer.

„Guten Morgen, Papa.“

„Guten Morgen, Kind. Ich bin gleich bei dir. --- Hast du gut geschlafen?“

Lily holt tief Atem.

„Ja.“ erwidert sie sanft. „Sehr gut, Papa.“

Sie frühstücken gemeinsam, frisches Brot, Milch und Tee. Fredegar ist daran gewöhnt, dass seine Tochter während ihrer Mahlzeiten schweigt, und während der letzten paar Monate umso häufiger. Er fragt nicht; er scheint nicht einmal zu bemerken, dass sie kaum etwas isst. Sie trinkt allerdings ein wenig Milch... sie lächelt ihn an und hilft ihm anschließend hinaus in den Garten, für ihren gewohnten, täglichen Spaziergang. Eine halbe Stunde später kommt Folco, um sie zu ihrer Hebammenrunde abzuholen.

Sie untersucht mehrere Frauen, eine im vierten Monat ihrer Schwangerschaft, eine andere im sechsten. Die dritte, werdende Mutter an diesem sonnigen Vormittag - Viola Lochner, hübsch und jung und seit fast einem Jahr verheiratet - hat schon seit einer ganzen Weile versucht, schwanger zu werden, und ihre unschuldige Freude schneidet Lily in das Herz wie mit einer scharfen Klinge.

„Ich weiß, die Zeiten sind finster,“ meint Viola; ihre Augen leuchten. „Aber wir haben so lange gewartet, und ein Kind ist ein Grund zur Hoffnung, immer.“

„Du hast Recht,“ erwidert Lily und bringt ein bleiches Lächeln zustande. „Das ist eine schöne Art, es auszudrücken.“

Sie ist sehr still, während Folco sie am frühen Abend zurück fährt, und sie ist sehr still, während sie und ihr Vater sich ein einfaches Essen teilen. Sie spürt Fredegars Blick auf ihrem Gesicht; er ist voller Fragen, aber er spricht sie nicht aus. Das Verbrechen im Februar hat ihnen mehr angetan, als Lily an Leib und Seele zu verletzen... es hat einen verhängnisvollen Keil zwischen sie getrieben.

Sie isst eine Kartoffel und schiebt den Rest des Essens auf ihrem Teller herum; ihre Gedanken wandern in die Zeit zurück, als sie ein kleines Mädchen war und noch immer Zuflucht bei ihrem Vater suchte... um sich auf seinem Schoß zusammen zu rollen, ihm zuzuhören, während er ihr ein Märchen vorlas und mit ihm zu lachen. Bevor Frodo in ihr Leben trat, ist Fredegar ihr Freund gewesen, ihr Gefährte und ihr Verbündeter. Jetzt sind die beiden Hobbits, die sie am meisten geliebt hat, außer Reichweite... einer von ihnen spurlos verschwunden, ihre einzige Hoffnung ein vor langer Zeit gegebenes Versprechen, und der andere von ihr getrennt durch ein übles Geheimnis, das sie langsam von innen her auffrisst.

Sie legt sich früh hin, aber sie schläft nicht, von ein paar kurzen, widerwilligen Augenblicken des Dösens abgesehen. Sie fürchtet sich zu sehr, um die Augen zu schließen... sie wird nur wieder träumen. Seit dem Februar ist sie durch diese Alpträume geirrt, und sie ist es entsetzlich müde, vom Klang ihrer eigenen Schreie aufzuwachen. Eines Tages wird sie sie nicht mehr rechtzeitig im Kissen ersticken können, eines Tages wird Fredegar den Mut aufbringen zu fragen... und nun ist da ein völlig neuer Schrecken, den zu offenbaren sie nicht wagt, ein Geheimnis, über das sie nicht nachdenken mag. Und doch muss sie etwas tun... aber ihr Geist schreckt wild davor zurück, die möglichen Folgen zu tragen, die ihre Entscheidung nach sich ziehen würde.

Sie bringt es fertig, am nächsten Morgen aufzustehen, sie treibt langsam durch einen weiteren Tag, durch eine weitere Nacht und dann noch einen Tag. Aber als sie am nächsten Abend ins Bett geht, die Augen brennend vor Erschöpfung, die Glieder schwer wie Blei, da überwältigt der Schlaf sie endlich und zieht sie in den nächsten Traum hinein.

*****

Sie geht langsam den Bühl hinauf, gefolgt von einer langen Reihe dunkel gekleideter Frauen, ihre Gesichter bleich und ausdruckslos. Als sie an sich hinunterschaut, stellt sie fest, dass sie ein graues, schlichtes Mieder trägt, dazu einen langen, schwarzen Rock, der sich über ihrem schweren, gerundeten Bauch wölbt. Sie hebt die Hand, um mit einer Geste verängstigten Unglaubens ihr Haar zu berühren. Ein Kranz aus Lilien, wächsern und weiß, krönt die langen, offenen Locken, und der übelkeiterregend süße Duft der Blüten umwölkt ihren Kopf wie ein Gestank nach Tod. Es ist die traurige Parodie einer Brautprozession, und es fühlt sich an wie der Gang zu ihrer eigenen Beerdigung. Sie erreichen das Gartentor von Beutelsend und es schwingt nach hinten, bevor sie es aufstoßen kann. Die Menschen des "Baas" warten zu beiden Seiten des Weges, eine obszöne Ehrenwache, die ihre letzten Schritte bis zu dem vertrauten Eingang begleitet. Kalte Augen in grinsenden Gesichtern starren sie an und verfolgen abschätzend jede ihrer Bewegungen... sie will fortrennen, aber die Frucht der Schande regt sich in ihrem geschwollenen Leib, und sie kommt stolpernd zum Stehen.

Er steht auf der Schwelle und sein breites, böses Grinsen spaltet ihm beinahe das Gesicht. Er macht eine Geste, als wollte er sie umarmen, und sie scheut in dem schwachen Versuch zurück, jegliche Berührung zu vermeiden. Ein Aufstöhnen des Kummers kommt von den Frauen hinter ihr und ertrinkt im Pfeifen und Johlen der Rüpel.

„Willkommen!“ sagt der „Baas“, und seine Stimme ist so weich von finsterem Entzücken, dass es fast klingt, als würde er schnurren. „Willkommen, meine liebliche Braut! Jetzt besitze ich alles, was mir von Anfang an rechtmäßig zugestanden hätte: den Smial, deinen Körper und den Samen, den ich hinein gepflanzt habe. Lasst das Fest beginnen!“

Er zieht sie nach drinnen, und sein Griff um ihr Handgelenk ist so hart wie Eisen. Wieder stolpert sie und sinkt auf die Knie, und die runde, grüne Tür fällt hinter ihr zu wie das schwere Portal einer Gruft.

*****

Sie sitzt aufrecht im Bett und ringt heftig nach Atem. Der verzweifelte Drang zur Flucht ist ihr aus dem Alptraum hinaus gefolgt - aus dem Smial zu flüchten, zu rennen, bis die Beine endlich unter ihr nachgeben, zu rennen, bis sie den Fluss erreicht und spürt, wie die plätschernden Wellen ihr über die Füße steigen. Über meine Knie und meine Hüften, denkt sie, über die Narbe auf meiner Brust... über mein gesamtes, verfluchtes, verräterisches Fleisch.

Es ist keine Überraschung. Sie ist weit jenseits von Schrecken und ungläubigem Entsetzen. Es wäre so einfach... sich fallen zu lassen, unter der im Mondlicht leuchtenden Oberfläche der Wässer zu verschwinden und dem Sirenengesang der giftig-süßen Stimme zu folgen, die ihr Frieden verspricht und Vergessen. Nicht noch mehr Nächte mit dem geisterhaften Gefühl seiner Hände auf ihren Brüsten, die die Überreste ihres Mieders beiseite zerren. Nicht noch mehr Versuche, das Blut und die Schande fort zu waschen, die niemand sieht außer ihr. Nicht noch mehr Träume.

Von einem Moment zum anderen ist ihre Panik verschwunden, und sie kann wieder atmen. Die Gedanken erscheinen in ihrem erschöpften Geist wie die Glieder einer Kette; sie führen sie Schritt für Schritt und glänzen im kalten Licht der Wahrheit wie Stahl. Sie weiß, was geschehen wird, wenn sie der Natur ihren Lauf lässt. Zwei, drei Monate mehr und die Leute werden ihren Zustand herausfinden... sie werden sehen, wie sich ihr Leib plötzlich rundet, sie werden anfangen zu flüstern... und eines Tages werden die Gerüchte ihren Weg hinauf nach Beutelsend finden, wo er sitzt wie eine Spinne im Netz. Und sie weiß, was er tun wird, der Traum hat eine deutliche Sprache gesprochen.

Willkommen, meine liebliche Braut.

Lily beißt sich auf die Lippen, bis sie Blut schmeckt. Sie steigt aus dem Bett und geht zu der kleinen Kommode hinüber, wo die Waschschüssel und der Krug stehen. Sie spritzt sich ein wenig Wasser ins Gesicht. Es ist lauwarm und abgestanden, und sie steht reglos da, während ihr die Tropfen aus den Haaren und über das müde Gesicht laufen.

Es ist nicht nötig, sich die beängstigende Hochzeit auszumalen, die ihr Alptraum angedeutet hat... sie ist ein zusätzlicher Schrecken, ausgelöst durch ihre wachsende Panik, nichts mehr. Sie bezweifelt, dass er sie heiraten würde, das muss er auch nicht. Aber er wird mit Sicherheit versuchen, das Baby in die Finger zu bekommen, er wird das Ergebnis seiner brutalen Gewalt für sich beanspruchen... wie eine Trophäe, einen Beweis für einen Sieg über den einen, dem Beutelsend einst gehört hat, dem sie einst gehört hat. Lotho Pickel wird sie in dem Smial einkerkern, der einst der geheime Garten ihrer Träume und ihre Zuflucht war. All die wunderschönen Erinnerungen, an die sie sich noch immer klammert, werden verblassen und schwinden, und sie wird dazu verdammt sein, für das Ergebnis seiner bösen Gier zu sorgen, das Kind, das er ihr aufgezwungen hat.

Das Kind.

Sie tritt ans Fenster; es hat angefangen zu regnen und die Tropfen rieseln die unebene Fensterscheibe hinunter.

Das ist das allererste Mal, dass sie das in ihrem Fleisch eingebettete Entsetzen beim Namen nennt, und es ist der richtige Name. Das kalte Licht der Realität gestattet ihr nicht, sich selbst zu betrügen, sich eine gnädige Illusion zu schaffen. Es wird ein Kind geben, es wächst in ihrem Leib, genährt von ihrem eigenen Blut und ihrer eigenen Stärke. Wenn sie der Natur ihren Lauf lässt, dann wird es irgendwann im November das Licht der Welt erblicken, ein kleines, hilfloses Geschöpf, völlig abhängig von ihrer Fürsorge.

Sie hat die Mütter gesehen, die ihre Babys zum allerersten Mal halten, den Blick voll Staunen und einer neuen, fast scheuen Freude. Himmel und Erde, es hat meine Augen! hat sie sie sagen hören, oder Seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten! In ein paar weiteren Monaten wird Viola Lochner wohl so etwas sagen, das Ergebnis ihrer Träume in den Armen.

Lily schließt die Augen; sie sieht sich selbst, wie sie auf dieses Kind hinunter schaut und panisch nach Ähnlichkeiten mit dem Hobbit sucht, der sie jahrelang verfolgt und endlich in seiner Falle gefangen hat... der sich mit Gewalt nahm, was sie zuvor nur einem anderen freiwillig geschenkt hat. Und selbst wenn dieses Kind nur die runden Wangen und blauen, unschuldigen Augen besitzt, die alle Babys scheinbar gemeinsam haben... es gibt kein Entkommen von der Tatsache, dass sein Leben in Gewalt und Schande seinen Anfang genommen hat, und dass nun das Ergebnis dieser Gewalt und Schande ein Teil ihres Körpers ist, ein übles Rinnsal, das in ihren Adern kreist.

Sie lehnt die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Es sind nicht die Leute, die zählen. Es sind nicht die Gerüchte, die zählen... und nicht einmal Frodo zählt noch länger. Vielleicht ist dies die niederschmetterndste Tatsache von allen, und sie flammt in ihren Gedanken wie ein Leuchtfeuer. Er ist fort. Er ist verloren, und alles, was zählt, ist ihre eigene Fähigkeit, all dies durchzustehen... ob sie imstande ist, diese grausame, lebenslange Bürde zu tragen. Ob sie dazu imstande ist, eines Tages zu lieben, was da in ihrem widerwilligen Leib heranwächst und sie mit hilfloser Furcht und siedendem Hass erfüllt.

Wenn es Frodos Kind wäre...

„Aber das ist es nicht.“ hört sie sich selbst laut sagen, die Stimme angesichts der nackten Wahrheit dünn und entsetzt. „Das ist es nicht. Ich kann es nicht ertragen. Eru vergib mir, aber ich kann es einfach nicht.“

*****

Es ist geradezu lächerlich einfach, zu finden, was sie braucht. Natürlich sagt Amaranths Buch nichts darüber, wie man sich eines ungewollten Kindes entledigt. In besseren Zeiten wäre es nicht nötig gewesen, nach Hilfe gegen eine Schwangerschaft zu suchen, denkt Lily, während sie in dem großen Band eine Seite nach der anderen umdreht, denn bei den Hobbits sind Kinder schon immer ein Segen gewesen, mit ungeduldiger Hoffnung erwartet und mit jubelnder Aufregung Willkommen geheißen.

Aber die Zeiten sind jetzt anders. So unendlich anders.

Sie liest nach über Engelwurz, Bärentraube und Rosmarin, über Salbei, Beifuß und Gänsefingerkraut; sie hat sie all schon benutzt, gegen Magenschmerzen, Krämpfe und Erschöpfung. Sie weiß, was sie bewirken könnten, wenn sie zuviel davon nimmt oder sie richtig kombiniert, aber sie muss sicher sein. Sie weiß, dass es wahrscheinlich nur einen Versuch geben wird, ihr bitteres Ziel zu erreichen.

Sie erinnert sich an ein Gespräch mit Amaranth, drei oder vier Monate, ehe ihre Lehrmeisterin im Oktober 1416 starb. Nach einer Weile des Schweigens hatte die alte Hebamme einen Schluck Tee genommen und ihren Lehrling mit dunklen Augen angesehen.

„Ich hab dir nie erzählt, wie man Kräuter benutzt, um einen Abbruch auszulösen,“ hatte sie gesagt, „und du wirst diese Art Wissen wahrscheinlich sowieso niemals brauchen. In all den Jahren meiner Arbeit ist es nur zwei oder dreimal passiert, dass ich jungen Mädchen begegnet bin, die tatsächlich versucht haben, eine unterwünschte Frucht aus ihrem Körper zu treiben. Sie sind vom Heuschober ihres Vaters gesprungen, sie haben viel zu heiße Bäder genommen, und in einem Fall hat das arme Ding sein Glück sogar mit einer Stricknadel versucht.“

„Was ist mit ihr passiert?“ fragte Lily; ihr wurde der Mund trocken.

„Sie ist gestorben, natürlich." erwiderte Amaranth mit nüchterner Traurigkeit. „Das Kind kam heraus, und es blutete nicht allzu stark, aber diese dumme Stocherei mit der Nadel hat tief drinnen eine böse Entzündung ausgelöst, und drei Tage später war das Mädel tot.“

Sie beugte sich vor und musterte Lily mit durchdringendem Blick.

„Vielleicht wirst du nie ein Kraut benutzen müssen, um einer Frau diese zweifelhafte Art von Hilfe zu geben,“ fuhr sie fort. „aber du solltest die Wirkung kennen, falls du sie direkt vor der Nase hast.“

Dann folgte eine gründliche Lektion über die Wirkung von einem Dutzend Pflanzen, ihren Gefahren und Vorzügen; Lily hatte ein leichtes, sicheres Gedächtnis und nach Amaranths Tod fügte sie den Rezepten ihrer Vorgängerin ein paar Fußnoten hinzu, um dafür zu sorgen, dass sie keine Einzelheit vergaß.---

Sie muss eine Entscheidung treffen. Es bleibt ihr nicht viel Zeit. Sie starrt auf die Seiten hinunter und betrachtet die genaue Zeichnung eines Wermut-Blattes.

Nein. Sie würde bis Juli warten müssen, um frischen Wermut zu finden, und diese zwei Monate hat sie nicht. Sie blättert die Seite um und schaut auf die nächste Zeichnung.

Da.

Da ist es.

*****

Der Frühlingsregen ist vorbei und das Wetter könnte nicht schöner sein, als Lily den Stolzfuß-Smial am nächsten Morgen mit ihrem Kräuterkorb verlässt. Sie macht sich auf den Weg zur Wässer hinunter, geht langsam die sonnigen Stellen dicht am Ufer entlang und atmet den Duft von blühendem Klee und wilden Veilchen ein. Irgendwo hier muss es sein, dies ist genau der richtige Ort... und dann fängt sie den Duft ein, nach dem sie gesucht hat, schwach und süß, wie reifendes Obst. Da. Dicht an der Wurzel einer jungen Birke entdeckt sie ein Büschel herzförmiger Blätter und gelber Blüten.

Lily kniet sich auf den feuchten Boden, nimmt ihre kleine Pflanzschaufel aus dem Korb und gräbt vorsichtig in der weichen Erde. Eine Pflanze, zwei, drei... die Wurzeln der letzten kommen frei, fast, widerwillig, und sie schüttelt sie sachte, um die Krume zu lösen. Schön, denkt sie, so wunderschön, so voller Leben. Ein eisiger Schauder überläuft sie, aber sie verbietet ihren Gedanken mit eiserner Härte, diesen Weg weiter zu verfolgen.

Sie legt die Pflanzen in den Korb, und als sie wieder aufsteht, hört sie das leise Rascheln des Briefes, der in ihrem Mieder steckt. Sie hat ihn gestern geschrieben, nachdem sie ihre Entscheidung getroffen hat; mit langsamen, sorgfältigen Buchstaben, jedes Wort gründlich durchdacht. Nach mehreren zerrissenen Versuchen hat sie Aster einfach darum gebeten, sie heute Abend zu besuchen. Sie hat beschlossen, nichts zu erklären; sie weiß, Aster wird kommen, und sie weiß, sie wird sie verzweifelt nötig haben.

Mit ein wenig Glück wird ihr einer der Bauern begegnen, die noch immer ihr Gemüse und ihr Obst früh am Morgen über die Brücke nach Wasserau fahren... obwohl heutzutage so manche Ernte in geheimen Kellern verschwindet, um sie vor den gierigen Händen der Rüpel des „Baas“ in Sicherheit zu bringen.

Als sie die Abbiegung zu dem kleinen, grasigen Pfad erreicht, der zu ihrem Smial führt, fährt der Karren von Andi Lochner an ihr vorbei. Seine Augen leuchten auf, als er sie sieht, und er sagt ihr, dass Viola noch immer überglücklich ist und sich wohl fühlt. Er ist mehr als bereit, den Brief an Aster Straffgürtel auszuliefern. Sie schaut zu, wie er in Richtung Brücke davon rattert und hebt ihre Hand zu einem schweigenden Gruß.

Jetzt bleibt nicht mehr viel zu tun... nicht viel mehr. als nach Hause zu gehen und den Elf-Uhr-Imbiss und das Mittagessen für ihren Vater vorzubereiten. Eine Hebammenrunde wird es heute nicht geben; als Folco sie am Tag zuvor nach Hause gebracht hat, hat sie ihm gesagt, dass sie sich nicht allzu wohl fühlt und daheim bleiben wird. Sie weiß, dass sie ihn als eine Art unschuldigen Komplizen missbraucht, und der bloße Gedanke verschafft ihr einen bitteren, üblen Geschmack im Mund. Aber dies ist der beste Weg, Fragen zu vermeiden, die in eine gefährliche Richtung führen. Denn die Leute werden Fragen stellen, und er ist die beste Wahl, sie zu beantworten. Sie kann seine vertraute Stimme beinahe in ihrem Geist hören: S-sie h-hat sich sch-schon t-tagelang krank g-gefühlt, und s-sie war g-ganz bleich... Er hat keine Ahnung von ihrem verzweifelten Zustand, und seine sanfte Ahnungslosigkeit ist ihr bester Schutz.

Nichts mehr, als das Essen für ihren Vater zu machen... sie bezweifelt, dass es ihr gelingen wird, heute irgend etwas herunter zu bringen.

Und dann... dann wird sie den Tee kochen.

*****

Der Tag verstreicht, ein langsamer, zögerlicher Strom leerer Stunden. Lily findet Arbeit für ihre Hände; sie putzt einen Raum nach dem anderen, nimmt die letzte Wäsche von der Leine und bügelt Blusen, Laken und Hosen. Sie verbringt den größten Teil des Nachmittags damit, die Hemden von Fredegar, die sich seit Wochen in einem Korb angesammelt haben, zu flicken, Risse zu stopfen und Knöpfe anzunähen.

Endlich ist es Zeit, ein einfaches Abendessen zu servieren, und sie sagt ihrem Vater, dass Aster später kurz zu Besuch kommt. Sie begegnet seiner raschen Besorgnis mit einer humorvollen, scheinbar sorglosen Bemerkung über diese „monatlichen Frauensachen“. Er küsst sie auf die Stirn und zieht sich ins Elternschlafzimmer zurück; sie steht still vor der Tür und wartet, bis er die bequemste Lage für seinen schmerzenden Rücken und seine verkrüppelten Beine gefunden hat und das Knarren des Bettes verstummt ist. Endlich ist sie sicher, dass er schläft, und sie geht in die Küche.

Sie hat die Wurzeln bereits gespült und geschnitten, sie hat die Blätter in schmale Streifen gehackt und die Blüten über das Häufchen in dem Tontopf gestreut. Jetzt kocht das Wasser in dem Kessel, und sie füllt den Topf. Das Aroma ist herb und süß gleichzeitig... sie wendet sich von den Dampfwolken ab und tritt ans Küchenfenster.

Das Wetter ist noch immer schön; die Sonne tupft kleine Flecken aus Kupfer und dunklem Gold auf den Rasen vor dem Smial, und die frisch aufgeblühten Rosen sind ein sanftes Durcheinander aus Rosa, Rot und Gelb. Eine halbe Stunde später, und die Sonne wird ganz hinter dem Horizont verschwunden sein. Sie spült das Geschirr, trocknet es ab und räumt es in den Küchenschrank. Dann setzt sie sich neben den sauber geschrubbten Tisch und wartet, bis die letzten, dünnen Lichtstrahlen aus dem Westen verschwunden sind. Allmählich füllen graue Schatten den Raum, und sie zündet die Kerzen in dem alten Kerzenhalter an.

Sie wendet sich wieder dem Topf zu; das Gebräu ist jetzt nur noch lauwarm, und sie gießt es durch ein feines Sieb in eine Porzellankanne ab. Sie hat die Wurzeln und Blätter dieser Pflanze schon früher benutzt - nur in viel kleineren Dosen - und sie kennt den Geschmack. Zwei, drei Teelöffel Honig werden ihn weit erträglicher machen. Noch einmal verlässt sie den Smial, das Sieb in der Hand, und sie vergräbt die Überreste der Pflanzen tief in dem kleinen Komposthaufen im hinteren Garten. Sie kehrt in die Küche zurück, wäscht den Topf und steht auf Zehenspitzen, um ihn an seinen vertrauten Platz auf dem Regal zurückzustellen. Nun ist alles, was sie noch tun muss, das Gebräu zu trinken und die letzten Gefäße abzuspülen, und niemand wird jemals von dem Tee wissen und von dem Grund, weshalb er gekocht wurde.

Der erste Becher trinkt sich überraschend leicht. Lily zwingt sich, nicht zu denken; sie will, dass es vorüber ist, und schnell, und sie stürzt den zweiten Becher hastig hinunter. Nun schwappt nur noch ein kleiner Rest in dem Krug. Sie trinkt ihn, ohne noch mehr Honig hinzuzufügen, und sie schmeckt das Aroma des Krauts auf der Zunge, scharf und bitter. Sie hat heute kaum etwas gegessen; ihr Magen ist so gut wie leer, und der Tee sollte ziemlich rasch wirken. Sie reinigt Becher und Krug, nimmt den Kerzenhalter und geht in ihr kleines Schlafzimmer hinüber.

Das Fenster ist offen, und die Vorhänge flattern in einer sanften, kühlen Brise. Der bittere Geschmack in ihrem Mund hat sich in ein eigenartig taubes Gefühl auf ihrer Zunge verwandelt, und als sie sich über das Bett beugt, fühlt sie sich ein wenig schwindelig. Ein Duft nach frisch gemähtem Gras füllt ihr die Nase, und für einen flüchtigen Augenblick sieht sie, dass sich jemand zwischen den Pflaumenbäumen und der Geißblattlaube bewegt... eine herzzereißend vertraute Gestalt, die mit leichtfüßigen Schritten auf sie zukommt... und ohne nachzudenken streckt sie die Hand aus.

Bist du das, Liebster...?

Aber der vage Umriss schmilzt in die dunkelnden Schatten hinein und zerflattert wie Rauch. Sie blinzelt und atmet tief ein, dann schließt sie das Fenster.

Ausnahmsweise ist die Vordertür nicht abgeschlossen, um Aster einzulassen, wenn sie kommt. In besseren Zeiten hat kein Hobbit je die Notwendigkeit gesehen, seine Smial-Tür abzuschließen, aber wie gesagt... die Zeiten sind jetzt anders. Dieser Tage fürchten sich die Leute davor, Feinde auf ihrer Türschwelle vorzufinden, auf der Suche nach Essen und Geld und bereit, jemanden zu verletzen oder gar zu töten, um es zu bekommen.

Sie legt sich auf das Bett.

Der Gedanke, dass Lotho seine Männer schicken könnte, um sie nach Beutelsend zurückzuzerren, hat einen großen Teil ihrer Alpträume ausgemacht, seit jenem fürchterlichen Abend im Februar. Aber wenn sie heute Abend kommen sollten, dann können sie ihr kein Leid mehr zufügen... nicht mehr, als sie sich selbst zufügt, jedenfalls. Aber wenn sie die falsche Menge verwendet haben sollte, dann werden sie nur noch einen schlafenden Hobbit vorfinden, vor der Zeit gealtert, aber nicht sie. Denn sie wird fort sein, für immer und ewig außer Lothos Reichweite. Überraschend genug birgt dieser Gedanke keinen Schrecken für sie.

Lily schließt die Augen und wartet darauf, dass der Tee seine Arbeit tut.

*****

Sie muss eingeschlafen sein; als sie die Augen wieder öffnet, hat sich das graublaue Licht der Abenddämmerung in ihr Schlafzimmer gestohlen, und sie spürt die ersten Fäden des Schmerzes, die tief in ihrem Bauch ihr starkes Netz spinnen.

Durstig. Sie ist durstig, ihre Zunge klebt ihr am Gaumen, und sie will diesen bitteren Geschmack in ihrem Mund loswerden. Sie stützt sich auf die Ellbogen und schwingt beide Beine aus dem Bett. Es gelingt ihr, aufzustehen und ein paar Schritte durch den Raum zu gehen, aber dann steht sie still und ein völlig neuer Schmerz schließt seine Faust um diesen geheimen Ort unter ihrem Nabel. Also so fühlt es sich an, der Gedanke ist seltsam unzusammenhängend, so fühlt es sich an, wenn--- und dann kippt sie nach vorne und hört sich selbst stöhnen, und irgend etwas in ihrem Bauch reißt entzwei, etwas rieselt langsam hinunter und läuft aus ihrem Leib. Sie stolpert zum Bett zurück und bricht auf der Matratze zusammen. Jetzt ist der Schmerz ein Kreischen in ihren Eingeweiden, und ihr Geist umwölkt sich mit dichtem Nebel, von undeutlichen Bildern durchsetzt.

Blauer Himmel. Blauer Himmel und die klare Strömung der Wässer um ihre Knöchel... und eine Nacht mit einem Vollmond wie eine Silbermünze... Arme, die sie halten und die hartnäckige Stärke eines geliebten, vertrauten Körpers dicht an ihrem, der sie im Strom auf und ab wiegt, kühle Wellen um sie herum, leidenschaftliche Hitze in ihr...

...süßer Eru, das tut weh, wo ist Aster? Herrin der Sterne, schick sie her zu mir, oh bitte...

...eine Tür, die sich nicht öffnet, ein heftiges Handgemenge hinter dem Schreibtisch, an dem sie ihre ersten Elbenbuchstaben gelernt hat und ein Schlag gegen ihren Kopf, nur Sekunden, ehe ihr Körper auf dem Boden aufschlägt. Und der Schmerz, als er über sie herfällt... Holunder gegen das Fieber... Johanniskraut gegen den betrübten Geist...

...wo, oh wo ist Aster?

Die Tür geht auf. Lily wendet den Kopf und versucht, den undurchdringlichen Nebel um sich her mit verschleiertem Blick zu durchdringen. Es ist dunkel, es ist so entsetzlich dunkel, und plötzlich treibt das runde, freundliche Gesicht einer Frau in ihre Richtung, bleich, mit offenem Mund und sorgenvollen Augen.

„Um Himmels Willen, Kind!“

Aster. Lily blinzelt gegen das plötzliche Licht von einem Dutzend Kerzen. Sie spürt sanfte, kühle Hände auf ihrem Bauch, und wieder hört sie die Stimme der älteren Frau.

„Was ist passiert? Bist du... Mädchen, hast du irgendwas genommen?“

Asters Gesicht kommt dem ihren sehr nahe, und die Frau des Heilers holt tief Atem.

„Lieber Himmel... Mutterkraut? Lily, hast du Mutterkraut geschluckt?“

Ihr fallen die Augen zu und ihr Bewusstsein kreiselt langsam davon.

*****

Ist das ein Boot? Sie hat noch nie zuvor in einem Boot gesessen, aber sie spürt, wie die Holzplanken ihren müden Körper wiegen, und die Sonne wärmt ihr das Gesicht. Sie setzt sich auf und entdeckt, dass sie eine Art Flussarm hinunter treibt, auf eine breite Bucht zu. Rechts und links sieht sie grüne Ufer, mit Sommerblumen bestreut, und sie hört das friedliche Bäääh! von Schafen, die dicht am Wassersaum grasen.

Da ist eine undeutliche Erinnerung an Entsetzen, Furcht und Schmerz, aber sehr weit weg, so entfernt wie ein halb vergessener Traum. Als sie den Kopf dreht und sich umwendet, sieht sie eine Nebelbank aus dichtem Weiß, die auf dem Fluss treibt. Das ist es, wo sie wohl her gekommen sein muss, und sie verspürt keinerlei Verlangen, dorthin zurückzukehren... das Boot ist wie eine tröstliche Wiege, und im Augenblick ist ihre einzige, leicht belustigte Sorge die, wo es sie wohl hinträgt, und ob sie es wohl schafft, ans Ufer zu gelangen. Es gibt keine Ruder und sie ist nicht die beste Schwimmerin... obwohl sicherlich nicht schlecht für einen Hobbit. Sie lächelt und entdeckt zu ihrem Entzücken, dass die Strömung ihr Boot sachte zur linken Seite hinüber trägt, und einen Moment später schrammt der Bug die Wurzeln einer riesigen Trauerweide entlang.

Vorsichtig klettert sie aus dem Boot und das Ufer hinauf. Kamille, denkt sie, und Wasserkresse... zu schade, dass ich meinen Kräuterkorb nicht hier habe. Sie steht in der Sonne, das sanfte Plätschern des Flusses hinter sich. Wo immer sie auch sein mag, dies ist eine wunderschöne Gegend, mit wogenden Hügeln und der diesigen Ahnung hoher Berge am Horizont. Aber es ist nicht das Auenland.

„Mama!“

Sie dreht sich um. Über die fedrige Krone der Weide hinweg kann sie das gegenüber liegende Ufer sehen, so üppig und grün wie die Seite, auf der sie steht. Ein Hobbitjunge, kaum mehr als ein Kleinkind, kommt aus einem Wäldchen hervor; er hüpft zum Wasser hinunter, ganz übersprudelnde Freude und Aufregung. Sein Haar ist ein Wirrwarr von Locken, die rötlich und golden in der Sonne leuchten.

„Mama!“

Eine Frau folgt dem Kind. Lilys Augen werden weit und eine Hand fliegt hoch zu ihrem Mund, als sie das Haar erkennt, das dem des kleinen Jungen so sehr ähnelt, die regelmäßigen, hübschen Gesichtszüge, die vertraute, geschmeidige Gestalt.

Merle. Das ist Merle.

Merle... gesund und wunderschön und wundersam lebendig - und der Junge muss das Baby sein, das sie in jener Nacht im November 1417 verloren hat, als sie weder Mutter noch Kind retten konnte. Lily trinkt den Anblick in sich hinein, und plötzlich begreift sie, was diese Vision zu bedeuten hat. Dies ist die andere Seite, dies ist der wundersame Ort jenseits der Schwelle des Lebens. Also muss sie auch gestorben sein... und diese Offenbarung erfüllt sie mit unerwarteter Freude und mit einer bittersüßen Erleichterung, so überwältigend, dass ihr der Atem stockt. Tränen steigen ihr in die Augen und sie wischt sie ungeduldig weg. Alles, was sie jetzt tun muss, ist diese kleine Entfernung zu überwinden, und sie weiß, dass der Strom sie so sanft tragen wird, wie er das Boot getragen hat.

So eifrig wie das Kind rennt sie zum Fluss hinunter, und sie schürzt ihre Röcke, um ins Wasser zu waten.

Lily.

Sie zögert und wendet sich zurück. Wessen Stimme ist das? Sie klingt vertraut... die Stimme von jemandem, den sie liebt und dem sie vertraut.

Warte, Lily.

Ein Wimmern steigt in ihrer Kehle hoch. Plötzlich scheint der Fluss sich zurückzuziehen... die Frau und das Kind auf dem anderen Ufer sind noch immer zu sehen, aber sie haben sich deutlich von ihr entfernt. Sie starrt mit großer Bestürzung zu ihnen hinüber und versucht, vorwärts zu kommen, aber ihre Füße scheinen im Boden festzustecken. Eru, nein! schreit ihre Seele, ich werde sie nie erreichen! Sie ringt mit aller Macht, aber ihre verzweifelten Anstrengungen scheinen den Abstand nur noch zu vergrößern.

Lily.

Die Stimme ist erfüllt von tiefem Mitgefühl und Verständnis, aber ihre Autorität ist unmissverständlich. Sie weiß, dass sie ihr den Gehorsam nicht verweigern darf.

Komm zurück, Lily. Komm zurück.

Die wundersame Welt verblasst und wird weiß. Ein schweres Gewicht senkt sich auf sie nieder, ein dumpfer Schmerz lastet auf ihren Gliedern und ihrem Körper. Mit einem hilflosen Stöhnen öffnet sie die Augen, und die helle Landschaft rings um sie her ist verschwunden.

*****

Das Zimmer ist dämmrig und still; Kerzen brennen in dem Halter auf ihrem schlichten, kleinen Schreibtisch und die Vorhänge sind zugezogen. Ein Feuer brennt im Kamin... ein wenig merkwürdig mitten im Mai.

Lily fühlt warme Decken über ihrem Körper; jemand hat ein dickes Kissen unter ihren Unterleib geschoben, und mehrere Schichten Stoffbinden zwischen ihre Beine. Sie dreht den Kopf. Jemand sitzt in ihrem alten Lieblingssessel.

„Aster...?“ Ihre Zunge fühlt sich in ihrem Mund an wie ein trockener Tonklumpen. Sie räuspert sich mühselig und versucht, die Hand auszustrecken, aber zu ihrer schwachen Überraschung kann sie sie nicht von der Decke heben.

„Lily!“ Mit ein paar raschen Schritten ist Aster neben dem Bett und beugt sich über sie. Eine feste Handfläche berührt ihre Stirn.

„Ah.“ Ein Seufzer der Zufriedenheit. „Viel wärmer als vorher.“

Die Frau des Heilers nickt, zieht den Sessel dichter neben das Bett und setzt sich wieder hin.

„Ich hab das Feuer angemacht und dir ein paar Extradecken gegeben; als ich hergekommen bin, war deine Haut klamm und kalt. Du hast eine ganze Menge Blut verloren, Kind.“

Ein Arm gleitet unter ihren Kopf und der Rand einer Tasse wird an ihre Lippen gehalten; Lily trinkt durstig. Die Tasse verschwindet, und ihre Augen begegnen sich.

„Mein Vater?“ flüstert Lily.

„Schläft tief und fest. Er hat keine Ahnung von dieser... äh... Krise, und morgen werde ich ihm das Frühstück machen und ihm sagen, dass es dir nicht so gut geht. Und das ist keine Lüge.“ Aster wendet den Blick ab zu der rötlichen Glut im Kamin. Nach einer Weile spricht sie weiter.

„Weißt du, du hast nicht nur Blut verloren.“ Noch eine Pause, diesmal viel länger, aber jetzt sieht Aster sie an. „Du hast das richtige Kraut genommen,“ fährt sie still fort, „aber reichlich viel davon. Bist du sicher, dass du nur ein Leben loswerden wolltest?“

Lily antwortet nicht. Im Ton der älteren Frau schwingt keine Anklage mit, aber die kurze Bemerkung fühlt sich trotzdem an wie ein Hieb in den Magen, und ihre Wortwahl macht überdeutlich, was sie denkt. Sie versteht es nicht. Kein Wunder... wie könnte sie auch.

„Morgen sage ich Folco, dass du wenigstens eine Woche lang deine Runden nicht mehr machen kannst. Er wird bestürzt sein... er kann dich gut leiden, Mädel.“ Ein weiterer scharfer Blick. „Weiß er... weiß er Bescheid?“

Lily starrt sie an und spürt plötzlich die verzweifelte Ironie der Lage. Also das ist es, was sie glaubt? Dass ich mir mit Stotterkopf Gutleib eine Nacht im Heu gegönnt habe und hinterher sein Kind nicht behalten wollte?

Armer Folco.

„Nein, Aster.“ Ihre Stimme ist müde und heiser, aber irgendwie schafft sie es trotzdem, in einem festen, gleichmäßigen Tonfall zu sprechen. „Es war nicht sein Kind... er hat mich nicht einmal angerührt. Das würde er nie, nicht ohne sicher zu sein, dass ich das möchte. Er ist nicht diese Sorte Hobbit.“

„Ich verstehe.“ Aster nickt langsam. „Ich nehme an, ich muss mich entschuldigen.“

Wieder erfüllt Stille den Raum, und Lily wartet. Sie kann den langsamen, schweren Rhythmus ihres Herzschlages bis in die Fingerspitzen fühlen, und als sie behutsam versucht, ihre Lage zu verändern, flackert eine scharfe Flamme des Schmerzes in ihrem Bauch auf und erstirbt wieder. Dann spricht Aster, und sie wählt ihre Worte sorgfältig.

„Ich geb dir Recht, Kind. Folco ist nicht diese Sorte Hobbit,“ sagt sie. „Aber jetzt frag ich mich schon, was für eine Sorte Hobbit das denn wohl ist, die weder bereit ist zu warten... oder zu fragen.“

Lily wendet die Augen ab und starrt blind an die Decke. Eine warme Hand legt sich über ihre schlaffen Finger auf dem Laken.

„Du weißt, ich würde es niemandem sagen, Lily. Aber vielleicht erleichtert es dir das Herz, wenn du darüber redest. Vielleicht hilft es.“

Was soll ich dir sagen? Dass es Lotho war, der sich rücksichtslos genommen hat, was er wollte... und das er es eines Tages vielleicht wieder tun wird? Dass er es nicht nur deshalb getan hat, weil er mich haben wollte, sondern weil er missbrauchen und zerstören konnte, was der Hobbit, den er am meisten hasst, zuvor geliebt und begehrt hat? Das ist eine zu bittere Geschichte, um sie irgend jemandem zu erzählen... und es reicht, dass ich davon für den Rest meines Lebens gezeichnet bin.

„Das würde nichts helfen, Aster,“ flüstert sie. Jetzt wendet sie sich der Frau des Heilers zu; ihr Blick ist ruhig und unendlich traurig. „Glaub mir, es würde nichts helfen.“

„Na schön.“ Aster seufzt und erhebt sich aus dem Sessel. „Ich hol dir noch eine Tasse Tee, Kind, und dann solltest du schlafen. Wir müssen dich ordentlich aufpäppeln, Liebes.“

Sie verlässt das Zimmer und schließt die Tür hinter sich.

Lily holt tief Atem. Sie hat ihren Plan ausgeführt, und sie hatte Hilfe, als sie sie am meisten brauchte. Aster würde sie nicht verraten oder sie dem bösen Geschwätz der gemeinsten Klatschbasen des Westviertels ausliefern. Tatsächlich sollte sie eine gewisse Art Trost verspüren, aber in diesem Augenblick ist nichts in ihrem Herzen als tiefen Kummer... und die hilflose Sehnsucht nach einer Welt, wo all ihre Sorgen und Qualen wunderbarerweise ersetzt wurden durch echten Trost und echte Freude.

Vielleicht wird der nächste Tag - die nächsten Wochen - ihr die Erleichterung bringen, auf die sie wartet. In diesem Augenblick aber ist alles, was in ihrem Geist erscheint, das erstaunlich klare Bild dieses wunderschönen, kleinen Kindes, das zum Fluss hinunter rennt, mit strahlenden Augen und Locken, die leuchten wie Kupfer und Gold.

Mama.

Sie dreht das Gesicht zur Wand und weint.


EPILOG

Mai 1421

Sie stand im Garten von Beutelsend, einen großen Korb mit feuchter Wäsche neben sich. In ein paar Minuten würde sie das letzte Hemd in der kühlen Morgenbrise flattern lassen und wieder hineingehen, um für Rosie ein spätes Frühstück zu machen.

Und für Frodo.

Frodo, der durch seinen wieder hergestellten Smial wanderte wie ein stiller Schatten, nahezu unsichtbar, verglichen mit der lebhaften Gegenwart der Gamdschies... und doch konnte sie seine Nähe wie eine Berührung auf ihrer Haut spüren, obwohl er Stunde um Stunde in seinem Studierzimmer verbrachte und oft nicht einmal zu den Mahlzeiten herauskam.

Es war eine eigenartige Zeit gewesen, seit Sam öffentlich angekündigt hatte, dass sie in den berühmtesten Smial von Hobbingen einziehen würde, um sich um seine Frau zu kümmern. Rosie ging es gut genug, soviel war sicher, und er hatte das natürlich gewusst. Aber Lily beschwerte sich nicht; sie wusste, dass all die Ränke, die Sam und Rosie in letzter Zeit liebevoll geschmiedet hatten, nur dazu angetan waren, ihre Heilung zu fördern. Von dem Augenblick an, als die beiden sie an jenem regnerischen Abend im April hinauf nach Beutelsend lockten, hatte ihre Heilung tatsächlich eingesetzt... denn Frodo hatte an diesem Tag auf die gewartet, er hatte ihre Barrieren durchbrochen und darauf bestanden, dass sie mit ihm sprach, um das bittere Schweigen zu beenden, das seit fast zwei Jahren zwischen ihnen lastete. Er hatte sie in den Armen gehalten und ihren Schlaf bewacht, nachdem die Flut aus Hass und Furcht, aus Erinnerungen und lang eingedämmten Qualen endlich versiegt war und sie leer und erschöpft zurückließ.**

Ihre Gedächtnis schreckte vor dieser Nacht zurück, wie es für so lange Zeit vor so vielen Dingen zurückgeschreckt war... und doch spürte sie, wie sie wieder und wieder innehielt, überrascht und erschüttert darüber, wie viel sie offenbart hatte. Und doch... da war eine Sache, die sie vor ihm verborgen hielt, die sie zurückgehalten hatte mit dem letzten, hauchdünnen Faden aus Willen und Selbstbeherrschung. Sie blieb noch immer in diesem geheimen Käfig tief in ihrem Inneren eingeschlossen, und nun, Anfang Mai, stand sie ihr deutlich vor Augen.

Vielleicht war es Elanor, die dafür sorgte, dass sich diese bestimmte Erinnerung weit schmerzhafter regte als noch vor einem Jahr. Als Hebamme hatte sie schon immer für Babys gesorgt, sie hatte sie gepflegt und ihnen auf die Welt geholfen. Aber noch nie zuvor hatte sie so viel Zeit mit einem einzelnen Neugeborenen verbracht.

Der Korb war leer. Sie ging in die Küche zurück, schürte das Feuer im Herd und langte nach der großen Kupferpfanne. Aber dann wandte sie sich ab und machte sich auf den Weg den Korridor hinunter zu der sonnigen Kammer mit Elanors Wiege. Sie stand davor, wieder einmal von Ehrfurcht erfüllt beim bloßen Anblick dieses wunderbaren Kindes.

Sie war so wunderschön.

Natürlich waren alle Kinder schön, aber Elanor schien so viel mehr zu sein... ein über alle Erwartungen hinaus erfülltes Versprechen, eine wundersame Dämmerung nach einer langen Nacht, das leuchtende Symbol für den reichen Segen der Herrin. Lily berührte eine samtweiche Wange, und eine blassgoldene Strähne ringelte sich um ihren Finger. Unvermittelt schnürte sich ihr die Kehle mit einer Mischung aus Freude und Schmerz zusammen.

Jemand betrat das Zimmer und stellte sich leise neben sie. Als sie den Kopf wandte, sah sie dunkles Haar, von Silbersträhnen durchzogen, und Indigoaugen, die sie mit dem Hauch eines Lächelns betrachteten.

„Guten Morgen, Lily.“

„Guten Morgen, Frodo.“

Sie zog die Hand zurück und brachte mehr Abstand zwischen sie beide... nur der Hauch einer Bewegung, aber er bemerkte es, und sie sah die plötzliche Traurigkeit in seinem Gesicht.

„Ich nehme an, du wartest auf dein Frühstück,“ hörte sie sich selbst sagen, die Stimme gleichmäßig und höflich. „Wenn du mich entschuldigst...“

Sie hastete hinaus und in Richtung Küche. Er machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten. Endlich stand sie wieder vor dem Herd, nahm die Pfanne von der Wand, langte nach dem Tontopf mit Schmalz.

Lily.

Ihre Hände zitterten, und sie stand da, ohne sich zu rühren. Sie wusste, er hatte Elanors Kinderzimmer nicht verlassen, sie wusste, er stand noch immer neben der Wiege, und er hatte nicht laut gesprochen.

Aber es war trotzdem seine Stimme... und es war auch die Stimme aus diesem seltsamsten Traum von allen, dem Traum, in dem ihr ein Blick über die Schwelle des Todes hinaus gestattet worden war, in dem sie Merle und ihren Sohn gesehen hatte... der Traum, in dem er sie zurückrief, als sie sich danach gesehnt hatte zu bleiben... denn er war es, jetzt wusste sie es ohne den Schatten eines Zweifels.

Wie konnte er...

Natürlich konnte er es nicht. Es sei denn... es sei denn, er war irgendwie dazu fähig gewesen, ihre Qual aus der Ferne zu erspüren, aus dieser Weißen Stadt der Menschen. Es sei denn, er war dazu fähig gewesen, ihr zu folgen, als sie versuchte, ihrer größten Schande zu entrinnen und sich dabei beinahe selbst verlor.

Aber das würde bedeuten...

Sie biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf, wütend auf sich selbst. Es hatte keinen Sinn, alberne Hoffnungen zu nähren. Sie brauchte ihre Kraft für andere Dinge. Einmal mehr verschloss sie den Käfig der Erinnerungen und wandte mit eiserner Entschlossenheit ihre Gedanken davon ab. Genug jetzt.

Aber die ganze Zeit, während sie die Eier briet die Würstchen und den Speck, während sie Pfannkuchen rührte, Tee kochte und den Tisch deckte, waren die Worte eine stille Anrufung in ihrem Herzen, leise, hartnäckig und sehnsuchtsvoll.

Komm zurück, Lily. Komm zurück.


ENDE

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*siehe Bevor ich schlafen gehe, Kapitel 13 („Finstere Jahreszeiten“)

*siehe Bevor ich schlafen gehe, Kapitel 16 („Sonnenstern und Sonnenaufgang“)


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