Bevor ich schlafen gehe
von Cúthalion


7. Kapitel
Brennender Sommer

Juni 1417

Es war ein Mittsommermarkt gewesen, auf dem Lily Frodo Beutlin zum allerersten Mal traf; und es war wieder ein Mittsommermarkt, als sie Lotho Sackheim-Beutlin kennenlernte, allerdings unter völlig anderen Umständen.

Sie hatte ihre Mutter auf den Markt nach Wegscheid begleitet. Viola musste neue Gold- und Silberfäden kaufen und wollte ihren Stand in keinen anderen Händen zurücklassen als in denen ihrer Tochter. Aber Lily machte sich Sorgen, dass Chrysantheme Buchenblatts Baby jeden Tag geboren werden könnte; es war Chrysanthemes dritte Schwangerschaft und die letzte Geburt war ziemlich schwierig gewesen. Nach einer langen, hitzigen Auseinandersetzung waren sie endlich überein gekommen, dass Viola ihre Einkäufe so bald wie möglich erledigen würde, und dass Fosco Buchenblatt mit seinem Wagen kommen und die junge Hebamme abholen würde, sobald seine Frau sie brauchte.

Und so saß Lily in der warmen Sonne dieses Junimorgens im Stand, und während ihre Mutter grimmig mit dem Seidenhändler feilschte (der ständig seine Preise erhöhte, wie sie meinte), genoss sie die Menge, den lebhaften Lärm und das fröhliche Durcheinander aus Farben und Gerüchen um sich herum.

Viola stritt sich noch immer mit dem Händler, als Lily einer jungen Frau ein Päckchen mit einer bestickten Schürze reichte, ihr freundlich zulächelte und einen Hobbit bemerkte, der sich schubsend und drängelnd seinen Weg zwischen den Marktbesuchern hindurchbahnte. Er setzte seine Ellbogen ein und machte unhörbare, aber vermutlich grobe Bemerkungen jedem gegenüber, der es wagte, ihm im Weg zu sein. Lily brauchte nicht lange, zu erkennen, dass er nicht mehr nüchtern war. Er ging immer noch aufrecht und ohne zu schwanken, aber dies war nicht ihr erster Markt und ganz gewiss nicht der erste Trunkenbold, den sie sah. Sie behielt ihn im Auge, während er langsam näher kam; jetzt standen zwei Hobbitdamen vor dem Stand und bewunderten eines der leinernen Tischtücher mit Gänseblümchen im Kreuzstich. Als sie weiterschlenderten, konnte sie den Kerl wieder sehen; er stand ein paar Meter weiter.

Sie dachte, dass er ein ansehnlicher Hobbit sein mochte, wenn er mehr Zeit an der frischen Luft verbringen würde anstatt in der Gesellschaft von zu fettem und zu würzigem Essen und zu viel Wein. Unglücklicherweise tat er das ganz offensichtlich nicht; sein Gesicht unter den sandfarbenen Locken war auf eine ziemlich ungesunde Weise blass und leicht fleckig, mit unreiner Haut. Er kratzte sich gerade an einem Pickel neben der Nase, als ihre Augen sich trafen; er bemerkte ihren Blick und seine Hand zuckte zurück und verschwand in der Westentasche. Jetzt kam er zum Stand herüber und starrte die ausgebreiteten Leinenstoffe an.

Sie bezweifelte, dass er tatsächlich die Absicht hatte, Schürzen oder Kissenbezüge zu kaufen, aber sie fragte trotzdem in ihrem höflichsten Tonfall: „Darf ich dir etwas zeigen, Herr?“

„Oh, du kannst mir viele Dinge zeigen, Mädel,“ sagte er schwerfällig, „aber nicht dieses Zeug hier... meine Mutter hat jede Menge davon zu Hause in ihren Schränken und Truhen. Und du hast sowieso schon genug an dem Leinen und den Hemden in unserem Smial verdient, würde ich sagen... du bist die Tochter von Viola Stolzfuß, oder?“

Sein Blick wanderte von ihrer hochgesteckten Haarkrone auf ihren Hals und weiter zu ihrem Ausschnitt hinunter. Unwillkürlich zog sie das Schultertuch enger um sich zusammen.

„Ja, bin ich.“ sagte sie ruhig. „Aber wer bist du, Herr – wenn ich fragen darf?“

„Oh.“ Er grinste. „Ich dachte, du würdest mich schon kennen. Ich bin Lotho Sackheim-Beutlin.“

Also das war Lobelias Sohn. Jetzt erinnerte sie sich, das sie ihn wirklich ein- oder zweimal gesehen hatte, wenn seine Mutter nach Hobbingen kam, um die neueste Bestellung abzuholen; aber er kletterte von ihrer Ponykutsche herunter, sobald Lobelia den Stolzfuß-Smial betreten hatte und verschwand in Richtung Efeubusch. Offenbar war er vorsichtiger mit dem Alkohol, wenn er bei ihr war, aber dieses Mal war er allein und wesentlich wagemutiger. Wieder bemerkte sie seinen Blick, der jeden Zentimeter ihres Körpers wie mit gierigen Fingern abtastete; zu ihrem stillen Ärger wurde sie rot.

Er beugte sich vor und für einen Moment hatte sie Angst, dass er sie berühren könnte. Eine plötzliche Welle der Panik überspülte sie; sie wünschte sich, ihre Mutter würde zurückkommen.

„Schau mal,“ sagte er in verschwörerischem Ton, „das ist doch sicher ein Hemd, das du genäht hast. Da ist ein Riss im Kragen, siehst du? Würde es dir etwas ausmachen, das in Ordnung zu bringen, meine Hübsche? Gleich hier? Oder irgendwo, wo wir von niemandem gestört werden, hm?“

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, völlig verblüfft über seine unglaubliche Unverschämtheit. Er beugte sich noch weiter vor, unangenehm nahe jetzt, und blies ihr seinen nach Fusel riechenden Atem ins Gesicht. Aber bevor sie ihm die Antwort geben konnte, die er verdiente, erhob sich eine sanfte Stimme direkt neben Lotho.

„Also, wenn das nicht Lotho Sackheim-Beutlin ist! Kaufst du gerade das berühmte Wegscheid-Salz für die schmackhafte Küche deiner Mutter?“

Es war Frodo Beutlin, ein beeindruckender und höchst willkommener Anblick in rehbraunen Hosen, einem weißen Sommerhemd und einer purpurroten Weste.

Lotho schnappte nach Luft und erbleichte... und sicherlich nicht bloß deswegen, weil die Küche seiner Mutter von Gästen eher gefürchtet als geschätzt wurde.

„Beutlin!“ Es klang wie ein Fluch. „Was tust du denn hier?“

Frodos Gesicht und Lächeln waren pure Liebenswürdigkeit. Aber die Hand, die sich um Lothos Schulter schloss, war unerbittlich und zog den Trunkenbold weg von ihr; Lily stieß einen kurzen schaudernden Seufzer der Erleichterung aus und war froh, dass sie bereits saß.

„Gerade zu rechten Zeit vorbeikommen, wie es scheint.“ antwortete er gelassen, ohne auch nur für einen Moment die Hand von der Schulter des kleineren Hobbits zu nehmen. „Du musst eine Halbe oder zwei im Adler und Kind gehabt haben – wahrscheinlich eine Halbe oder zwei zu viel, wenn du schon am Vormittag damit anfängst, junge Mädchen zu belästigen.“

„Ich habe... du...“ Lotho Sackheim rang sichtlich nach Worten und versuchte gleichzeitig, sich aus dem harten Griff zu befreien. „Das geht dich gar nichts an, du... du Flussratte!“

Langsam fingen die Leute an, sich um den Stolzfuß-Stand zu versammeln, von dem drohenden Ärger angezogen wie Bienen von einem Topf mit frischem Honig. Lothos letzte, wütende Bemerkung wurde mit schockiertem Keuchen und ärgerlichem Murmeln quittiert; trotz des merkwürdigen Rufes, den Bilbo gehabt hatte, war er in den meisten Teilen des Auenlandes sehr beliebt gewesen, ebenso wie sein Erbe, Brandybock oder nicht; im Gegensatz zu den beiden war Lotho wohlbekannt als rüde, geizig und faul.

„Das Beste wird sein, dass du deinen Wagen nimmst, der noch immer ohne jede Aufsicht vor dem Adler steht und so bald wie möglich nach Hause fährst, mein Guter.“ fuhr Frodo gnadenlos fort. „Und du solltest deinem Pony etwas zu Saufen geben. So weit ich das sehe, warst du wesentlich großzügiger damit, deinen eigenen Durst zu stillen. Und dann solltest du wirklich zu der höchst bewunderungswürdigen Lobelia zurückkehren, nicht wahr?“

Lotho öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

„Nicht wahr, Vetter?“ Jetzt war Frodos Stimme beinahe noch weicher und glatter, aber der Blick in den Augen des Herrn von Beutelsend war so scharf wie eine gezogene Klinge. Lotho warf einen Blick in Lilys Richtung, der sie zusammenschaudern ließ, drehte ab und verschwand in der Menge, die jetzt, da der Spaß vorbei war, allmählich anfing, sich aufzulösen.

Es gab tausend Dinge, die Lily sagen wollte, und keines von ihnen konnte hier gesagt werden. Als sie endlich den Mund öffnete, um zu sprechen, schnitt die Stimme ihrer Mutter durch ihre Verwirrung. Sie war endlich zurückgekommen.

„Lily? War das Lotho Sackheim-Beutlin?“

„Ja, Mama,“ erwiderte sie mühsam beherrscht. „Aber ich... ich glaube nicht, dass er etwas kaufen wollte.“

Frodo rettete sie. „Es tut mir schrecklich leid, Frau Stolzfuß,“ sagte er, „ich fürchte, ich muss deine Tochter auf der Stelle entführen. Die Achse von Folco Buchenblatts Wagen ist im ungünstigsten Moment gebrochen, als er gerade versuchte, herzufahren und Fräulein Lily für seine Frau zu holen.“

Lily spürte wieder festen Boden unter den Füßen, und allein dafür segnete sie ihn.

„Danke, Herr Beutlin.“ sagte sie, jetzt wieder vollkommen ruhig. „Bedeutet das, dass die Geburt wirklich angefangen hat?“

„Es scheint so.“ Seine Augen waren von Wärme erfüllt und von einem heimlichen Lächeln. „Folco Buchenblatt war außer sich, als ich ihn vor einer Stunde gesehen habe. Er kannte ein paar Worte, die ich vor so respektablen Damen wie euch kaum zu wiederholen wage.“

„Mama, ich muss gehen.“ sagte Lily. „Glaubst du, du kommst allein mit dem Stand zurecht?“

„Was bleibt mir anderes übrig?“ antwortete ihre Mutter trocken. „Vielen Dank für deine Hilfe, Herr Beutlin.“

Frodo Beutlin verbeugte sich schwungvoll vor Viola, nahm erst Lilys Hebammentasche und dann ihren Arm und manövrierte sie durch die Menge bis zum Rand des Markts, wo sein Wagen wartete. Das braune Pony mit der blonden Mähne nickte geduldig, wieherte leise und betrachtete sie mit freundlichen Augen, als sie sanft seine Nase streichelte.

Fünf Minuten später hatten sie Wegscheid verlassen und waren auf der Straße nach Hobbingen.

******

„Danke, Frodo.“ Es war das erste, was Lily sagte, als sie um eine sanfte Kurve fuhren und die Smials von Wegscheid hinter ihnen verschwanden.

„Es war mir ein Vergnügen.“ Seine rechte Hand schloss sich um ihre Finger, während die Linke die Zügel hielt. „Lotho ist ein verwöhntes Muttersöhnchen und er kann ziemlich unangenehm werden, vor allem, wenn er zuviel getrunken hat.“ Sie merkte, dass er sie ansah. „Geht es dir gut? Oder...“ seine Stimme war plötzlich scharf vor Besorgnis, „hat er mehr getan als sich nur mit Worten daneben zu benehmen?“

„Mitten auf dem Markt?“ Sie wurde von ihrem eigenen Gelächter überrascht. „Ich bin sicher, dafür bräuchte es einen viel mutigeren Hobbit als er einer ist.“

Sie waren eine Weile still. Lily spürte die Sonne auf ihren Rücken und Frodos Hand, und langsam sickerte die Spannung aus ihrem Körper.

„Ich habe dich dein Haar noch nie auf diese Weise tragen sehen.“ bemerkte er endlich beiläufig. „Sehr schön, wirklich.“

Sie lächelte ihn an.

„Das ist die beste Möglichkeit, es aus dem Weg zu haben, wenn ich bei einer Geburt bin. Manchmal denke ich, ich sollte ein ordentliches Stück abschneiden... das wäre viel einfacher.“

„Untersteh dich.“

Sie spürte, wie ihr die Hitze in die Wangen stieg und plötzlich stand die überaus lebendige Erinnerung an einen Abend von letzter Woche vor ihrem inneren Auge... seine Hand, die ihre Flechten auflöste, die langen Locken ausbreitete und wieder zu einem Strang drehte, um sie sich um den Hals zu schlingen, während er sie küsste... ihr Haar, das ihre beiden Gesichter einrahmte wie ein lebendiger Vorhang, als er sie über sich zog und sie das atemberaubende Gefühl genoss, als er in sie eindrang... Ihr Köper schien zu schmelzen, ihre Glieder wurden schwer und von einem Moment zum anderen wurde ihr Mund trocken. Sie sah das langsame, wissende Lächeln, das sich in seinem Gesicht ausbreitete und in seinen Augen leuchtete und wandte den Kopf ab, ihren Herzschlag schnell und laut in den Ohren.

„Ich nehme an, Chrysantheme hat wirklich Wehen und das hier ist kein Trick, oder?“ fragte sie, als sie ihrer Stimme endlich wieder traute.

Er lachte.

„Oh ja, die hat sie wirklich, und Folco Buchenblatt hätte ein, zwei Dinge dazu zu sagen, wenn ich dich nicht rechtzeitig dort hinbringe.“ erwiderte er. „Wie ist es heute Abend?“

Lily zuckte die Achseln, nahm ihr Schultertuch ab und faltete es in ihrem Schoß zu einem sauberen Viereck. „Das hängt von Chrysanthemes Kind ab, fürchte ich. Es sollte nicht zu lange dauern – immerhin ist es ihr Drittes – aber sie hatte schon bei den ersten beiden ein paar Schwierigkeiten. Ich bin einfach nicht sicher.“

„Ich lasse die Lampe brennen.“ sagte er, küsste ihre Handfläche und gab ihre Hand frei, als die ersten Smials von Wasserau in Sicht kamen. Lily schloss die Augen, genoss die Wärme und versank in einen kurzen Dämmerschlaf; sie war seit dem Morgengrauen auf den Beinen, hatte Violas Waren in den Stolzfuß-Wagen gepackt und ein Frühstück vorbereitet, dass sie für ihren Vater und die Jungen zurücklassen konnte.

Die Lampe war eine gute Idee gewesen... und das Schultertuch auch. Wenn sie Zeit hatte, nach Beutelsend zu kommen, legte sie sich das Tuch, das sie heute trug, um; sie hatte den Saum der blassgrünen Wolle mit Kastanien und Kastanienblüten bestickt. Der Herr von Beutelsend hatte seit neuesten die Angewohnheit, einen Morgenspaziergang zu machen, und er traf die junge Hebamme von Hobbingen oft unterwegs. Sie wechselten einen höflichen Gruß, und wenn sie das Schultertuch trug und er es einrichten konnte – was ziemlich oft geschah – dann kam Lily in den späteren Abendstunden den Bühl hinauf, wo sie vom Licht einer Lampe im Fenster neben der grünen Tür begrüßt wurde. Die Lampe brannte nur dann nicht, wenn er Besucher hatte und selbst jemanden besuchte. Die langen Wanderungen, für die er bekannt war (obwohl die Leute sich immer wunderten, wo um Himmels Willen er eigentlich hinwanderte und warum) waren in diesem Frühling recht selten.

Sie öffnete die Augen, als der Wagen über die Brücke ratterte und die Biegung nach Hobbingen nahm. Fünf Minuten später hielten sie vor dem kleinen Buchenblatt-Smial. Bevor Frodo ihr vom Wagen helfen konnte, öffnete sich die Tür und Folco erschien, sein Gesicht voller Erleichterung, als er sah, wer gekommen war.

„Da bin ich, Folco.“ sagte Lily fröhlich. Sie reichte dem jungen, werdenden Vater ihre Ledertasche und er hob sie vom Wagen herunter.

„Herr Beutlin, ich danke dir, dass du mich hergefahren hast,“ Sie knickste und wurde mit einer großartigen Verbeugung belohnt.

„Gern geschehen, Fräulein Stolzfuß.“ Frodo lächelte und nickte Folco zu, „Viel Glück für dich und deine reizende Frau, Herr Buchenblatt. Ich freue mich, dass ich behilflich sein konnte.“

Er nahm die Zügel auf; der Wagen rollte den grasigen Weg hinunter und verschwand um eine Kurve.

******

An diesem Abend brannte die Lampe im Fenster von Beutelsend vergebens, denn Chrysanthemes Kind wurde nicht vor Mitternacht geboren und Lily hatte ein paar böse Augenblicke, als das Baby nicht sofort atmete. Aber zu ihrem Glück – und dem von Mutter und Tochter – behielt sie einen kühlen Kopf und erinnerte sich an Amaranths Rat, einen Federkiel zu benutzen, um die Atemwege abzusaugen. Endlich gab das winzige Mädchen einen lauten Schrei von sich, und Panik und Furcht lösten sich in Gelächter und Erleichterung auf. Fast eine Stunde später wanderte Lily nach Hause und sie sah das gelbe Licht, das sie grüßte, aber ihre Glieder waren schwer und ihr Kopf schwamm, und alles, woran sie denken konnte, war Schlaf.

Die folgenden Wochen waren nicht besser. Viele Kinder wurden geboren; Amaranth hatte die Babys im Juni und Juli Winterernte genannt... das Ergebnis von langen, dunklen und kalten Nächten, wenn Gemüse und Früchte die Keller füllten und wenn ein warmes Bett und ein warmer Körper eine willkommene Zuflucht boten. Lily gelang es nur selten, sich abends den Bühl hinaufzustehlen; sie war übermüdet und reizbar, sie sehnte sich nach Ruhe und fühlte sich zuweilen überfordert. Und sie vermisste Frodo.

Die Tiefe ihres Verlangens überraschte und erschreckte sie ein wenig. Lily hatte nie zuvor ein solches Gefühl gekannt...nie auch nur die geringste Ahnung gehabt, dass Liebe so sein konnte: eine brennende Hitze in ihrem Körper, ein Hunger wie nach Brot und frischem Wasser. Dass der bloße Ausdruck seiner Augen, ein einzelner Blickwechsel auf der Straße imstande war, sie vergessen zu lassen, wer und was sie war und nur noch einen Gedanken in ihrem Geist übrig ließ... mit ihm allein zu sein, seine Hände auf ihrer bloßen Haut zu fühlen und ihn zu lieben. Es war wie ein Rausch, eine unentrinnbare Sucht... und es brauchte ihre gesamte Willenskraft, ein gleichgültiges Gesicht zu wahren, wenn sie ihn sah und wusste, dass sie dieses Mal ihrem Begehren nicht folgen konnte.

Nach Mittsommer trafen sie sich nur ein einziges Mal für mehr als ein, zwei Stunden, und Lily lag in seinen Armen, sobald sie die grüne Tür hinter sich geschlossen hatte; nur Minuten später lagen sie in seinem Bett, ihre Kleider überall auf dem Weg den Korridor hinunter zu seinem Schlafzimmer verstreut. Kurze Zeit später erreichte er einen heftigen Höhepunkt, und zu ihrem Entzücken entschuldigte er sich mit allen Anzeichen tiefster Verlegenheit.

„Meine Güte...“ murmelte er atemlos, sein Gesicht in ihrem Haar verborgen und noch immer mit ihr verschmolzen. „Ich führe mich auf wie irgend so ein übereifriger, ahnungsloser Zwanziger, der nicht warten kann. Das ist unentschuldbar. Willst du trotzdem versuchen, mir zu vergeben?“

Lily lachte und spürte, wie er erschauerte.

„Nun...“ sie küsste seine nackte Schulter, „manchmal muss man die ersten Bissen einer guten Mahlzeit einfach herunterschlingen, nicht? Aber das bedeutet nicht, dass man nicht imstande ist, langsamer weiter zu... essen.“

„Wie wahr.“ Er küsste sie, seine Zunge süß und aufreizend in ihrem Mund. „Und dieses Mal, mein Liebes, sorge ich dafür, dass du nicht hungrig bleibst.“---

Der Juli schmolz in den August hinüber, und Hobbingen lag wie unter einer erstickenden Glasglocke. Der Himmel verblich vom Sonnenaufgang an zu einem blendenden Weiß, die Weizenähren warfen scharfe, pechschwarze Schatten in der Mittagshitze und Lily schleppte Wassereimer zu den Blumen- und Gemüsebeeten im Stolzfuß-Garten, bis sie das Gefühl hatte, ihr Rücken würde durchbrechen.

Ihre Mutter vertrug die Wärme nicht, und Lily übernahm zusätzlich einen Großteil der Hausarbeit. Sie wusch und kochte, putzte und bügelte, und nach einer Woche ging sie dazu über, die meisten Aufgaben kurz vor Sonnenaufgang zu erledigen, weil die Sonne schon ab neun Uhr morgens so gnadenlos vom Himmel brannte, dass sich jede überflüssige Bewegung von selbst verbot. Abends ließ die Hitze sie erst spät einschlafen, und als die dritte glühende Woche ins Land ging, war sie rechtschaffen erschöpft.

An diesem Samstag Abend war obendrein Vollmond, und Lily lag noch nach Mitternacht wach. Ihre Brüder hatten sich unten an der Wässer müde getobt, während sie in der Küche gestanden, Kirschmarmelade eingekocht und Brot gebacken hatte. Kühles Wasser... die Strömung, die ihre Knöchel kitzelte... Lily seufzte sehnsüchtig und streckte sich auf dem verschwitzten, zerknitterten Laken.

„Lily?“

Was... Sie sprang aus dem Bett und huschte auf leisen Sohlen hinüber zum weit offen stehenden Fenster.

„Lily?“

„Frodo? Was tust du hier? Wenn meine Eltern aufwachen, gibt es ein riesiges Donnerwetter!“

„Dann sollten wir sie wohl besser schlafen lassen, meinst du nicht?“ flüsterte er höchst vernünftig, aber sie konnte das kaum unterdrückte Lachen in seiner Stimme hören.

„Weshalb bist du gekommen?“

Plötzlich streckte sich ihr seine Hand aus der Dunkelheit entgegen, und eine kühle Handfläche legte sich gegen ihre erhitzte Wange.

„Ich hatte Sehnsucht nach dir.“ sagte er leise und ruhig, und sie spürte, wie ihr Körper ihm Antwort gab, auf der Stelle besiegt von der ersten Berührung.

„Komm mit mir schwimmen, Lily.“ Das Lachen war in seine Stimme zurückgekehrt, und der Klang war eine unwiderstehliche Lockung. „Komm mit hinunter zum Fluss. Du brauchst ein wenig Erholung, meine Kastanie.“

„Und wenn jemand in mein Zimmer schaut?“ Sie war schon halb überzeugt. „Wenn jemand merkt, dass ich nicht in meinem Bett liege?“

„Schließ die Tür ab, mein Herz. Wir bleiben nicht lange... in einer Stunde bist du wieder da.“

Lily verriegelte die Tür, und als sie nach ihrem dünnen Sommerrock greifen wollte, sah sie, wie er den Kopf schüttelte.

„Dein Hemd reicht.“ sagte er und streckte ihr die Hand entgegen, um ihr aus dem Fenster zu helfen. „Je weniger du ausziehen musst, desto besser.“

Sie kletterte auf das niedrige Fensterbrett, landete mit einem Sprung auf dem Grasabhang, geriet kurz ins Stolpern und prallte gegen ihn. Sein Hemd war zerknittert und nur halb zugeknöpft, und der Körper darunter strahlte die Hitze des Tages aus wie die Glut eines Herdfeuers. Sie roch seinen Schweiß und seinen ureigenen typischen Duft, dann hob er ihr Kinn mit einer Hand an und küsste sie. In der Dunkelheit erwischte er zuerst ihre Nase, und sie lachte leise, bis er ihre Stimme mit einem zweiten Kuss erstickte. Seine Lippen schmeckten ganz leicht nach Bier.

Sie schlichen Hand in Hand den Pfad entlang, um den Bühl herum und den Weg hinunter. Die Nacht war sehr still und sehr warm, und in den Smials am Weg rührte sich niemand. Endlich, nach etwa zehn Minuten Fußweg, hatten sie das kleine Eichenwäldchen erreicht, hinter dem die Wässer eine sanfte Schleife machte. Unter den Bäumen war es ein wenig kühler, und endlich standen sie am Ufer. Lily konnte das sanfte Murmeln des Flusses hören, der in den letzten Wochen kräftig an Höhe verloren hatte; die Ufersteine, rund gewaschen und glatt, lagen frei und bildeten eine natürlich Treppe. Lily wartete, während er vorausging; eine Wolke zog am Mond vorbei, der wie eine riesige Silbermünze am Himmel hing, und als das Licht wiederkehrte, sah sie seinen nackten Rücken, elfenbeinweiß gegen den dunklen Hintergrund der Bäume. Sie hörte ein leises Plätschern und ein Auflachen, als er in den Fluss tauchte.

„Komm!“ rief er gedämpft. „Es ist herrlich!“

Die Verlockung war unwiderstehlich. Lily zog sich mit einer einzigen, schnellen Bewegung ihr zerknittertes Nachthemd über den Kopf, ließ es auf die Steine fallen und watete hinein. Die sanfte Strömung strudelte um ihre Knöchel, dann um ihre Knie, und sie schauderte vor Schreck und Entzücken, als der Fluss über ihre Hüften und ihre Taille stieg. Dann liebkoste das Wasser kühl und köstlich die Unterseite ihrer Brüste, und sie ließ sich nach hinten sinken, bis sie gerade ausgestreckt auf der Oberfläche schwamm. Ihr Haar trieb in dunklen Wellen um ihren Kopf, und einen Moment tauchte sie ganz unter und ließ den Fluss ihr heißes, müdes Gesicht überspülen.

Sie kam wieder hoch, strich die nassen, schweren Locken nach hinten und sah sich um. Wo war er?

Er stand keine drei Meter von ihr entfernt bis zu den Hüften im Wasser, das Gesicht ihr zugewandt, aber in diesem Moment sah er sie nicht. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Sein Haar war nass; glitzernde Tropfen rieselten über seine Wangen und seine Stirn. Staunend betrachtete sie ihn; das Mondlicht verwandelte sein Fleisch in polierten Stein, bleich wie die Kiesel am Fluss. Sein Gesicht, das sie mit seinem Ebenmaß immer angezogen hatte, sah aus wie das einer Statue, und als er die Augen öffnete, waren sie tiefdunkel wie die Nacht.

Er war wunderschön.

Sie glitt fast lautlos durch das Wasser und näherte sich ihm vorsichtig; als sie direkt vor ihm stand, die Füße fest auf dem steinigen Flussboden, streckte sie die Hand aus. Er sah so unwirklich aus, dass sie ein paar Sekunden lang argwöhnte, er werde sich in Luft auflösen wie ein Trugbild. Aber ihre Handfläche berührte seine Brust, und sie konnte die Gänsehaut sehen, als er kurz zusammenschauerte.

„Lily...“ murmelte er, und dann legten sich unter der Wasseroberfläche seine Hände mit festem Griff um ihre Taille und er zog sie zu sich, bis er sie in einer engen Umarmung hielt. Ihre Brüste pressten sich gegen ihn, nass und kühl, und sie hörte, wie er tief Atem holte, bevor er den Kopf senkte und sie zum dritten Mal in dieser Nacht küsste. Wieder der Geschmack von Bier, aber auch ein schärferer, bitterer Hauch von Tabak, als er mit der Zungenspitze sanft die Innenseite ihres Mundes erforschte. Ihre Arme kamen aus dem Wasser und legten sich um seinen Hals. Plötzlich ließ er sich nach hinten sinken und sie keuchte vor Überraschung und hielt sich an ihm fest, als der Fluss über ihren Köpfen zusammenschlug.

Er ließ sich ein paar Meter in hüftiefen Wasser treiben, ihren nackten Körper in den Armen, dann tauchte er wieder auf und küsste sie erneut, diesmal tiefer und nachdrücklicher, und mit unverhohlenem Hunger. Kälte rieselte über ihren Rücken, Kälte und Hitze, und das Wasser spritzte um ihre Schenkel und leckte an ihren Knien, als er sie hochhob. Sie fühlte seinen Mund auf ihren Brüsten, seine Zunge heiß auf der feuchtkühlen Haut, und dann schlang sie ihre Beine um seine Hüften und spürte, wie er seinen Weg in ihre Tiefen fand... und oh, der Fluss kam in einem kalten, frischen Schwall mit ihm, und sie presste das Gesicht gegen seine nackte, nasse Schulter und schrie leise auf.

Zuerst war es wie ein langsames Wiegen, süß und köstlich; sie ruhte im Fluss, gegen ihn gelehnt, und seine pulsierende Härte in ihr war der Anker, der sie hielt. Lily klammerte sich an ihn, hob sich halb aus dem Wasser und ließ sich mit einem zitternden Seufzer hinabsinken, und langsam fanden sie ihren Rhythmus, stetig wie ein ruhiger Wellengang. Dann wurden seine Bewegungen schneller und fordernder, und ihre Stimme, die erst ein dunkles, weiches Summen gewesen war, das wie ein Lied auf-und abstieg, wurde lauter, ihr Atem wandelte sich wie der seine zu einem tiefen Stöhnen und oh... noch einmal die hitzige Härte in ihr, noch einmal... tief...tief... und ihr Kopf sank nach hinten, herabgezogen von der Masse ihrer nassen Haare und sie starrte blind in den riesigen Vollmond. Ein unbeschreibliches Geräusch drang aus seiner Kehle - ein schluchzendes Lachen, ein atemloser Schrei - und dann spürte sie, wie sich ihre Muskeln kraftvoll um ihn zusammenzogen, während sein Samen heiß in sie hineinströmte. Sie klammerten sich aneinander, Mund an Mund, die Augen geschlossen, während die heftigen, überwältigenden Schauder, die sie durchzitterten, langsam nachließen.

*****

Eine halbe Stunde später war Lily wieder in ihrem Zimmer. Sie stand am Fenster und sah ihm nach, wie er in Richtung Beutelsend davonging, den Geschmack ihres letzten, flusskühlen Kusses noch auf den Lippen. Dann trat sie in die stickige Dunkelheit des Zimmers zurück, entriegelte die Tür, zog das zerknittertem, feuchte Hemd aus und holte sich ein frisches aus der Truhe. Sie schlug die dünne Bettdecke zurück, strich die Laken glatt und legte sich hin.

Plötzlich hörte sie, wie die Tür leise knarrend aufging. Das Tapsen kleiner Füße war zu hören. Sie richtete sich auf und sah, dass ihr kleiner Bruder Falco neben ihrem Bett stand.

„Ich kann nicht schlafen, Lily.“ murmelte er mit seiner hohen Kinderstimme. „Mir ist so heiß...“

„Na komm her, mein Kleiner...“Sie zog ihn auf den Schoß, und er schmiegte den Kopf an ihre Brust. Sie spürte, wie der kleine Körper sich in ihren Armen entspannte.

„Du bist ganz kühl...“ murmelte er. „Du riechst nach frischem Wasser, wie ein Bach... Und wieso sind deine Haare so nass?“

„Ich habe mich ein bisschen erfrischt, Liebchen,“ flüsterte sie und drückte einen Kuss in die zerzausten, verschwitzten Locken unter ihrem Kinn.

Er schlief in ihren Armen ein und sie bettete ihn neben sich und zog das dünne Laken über ihn, und sie lächelte in die Dunkelheit hinein und schloss die Augen. Und als sie sie wieder öffnete, war der Himmel wolkengrau, und Regen trommelte auf das Grasdach des Smial und tropfte von den Blättern der Geißblattlaube, und die Hitze war vorüber.


Top           Nächstes Kapitel           Stories           BISG-Seite              Home